Auf halber Strecke kam er an einer Konoba vorbei, welche dem Nachtportier des Hotels Lafodia gehört. Der Kroate betreibt die Schenke tagsüber und bietet Eigenprodukte an. Rotwein, Rohschinken und in Olivenöl eingelegten Ziegenkäse. Sein lukratives Nebengewerbe hat Josipe nicht angemeldet, wie es sämtliche Einheimischen handhaben. Deswegen wirft immer jemand ein wachsames Auge auf die Adria. Sobald ein Polizeiboot aus Dubrovnik vor Lopud auftaucht, verschwinden sämtliche Hinweisschilder zu illegalen Privatbetrieben. Und falls zu dieser Stunde ein Urlauber die Absicht hegt, einen Hauswein zu trinken, steht er vor verschlossener Tür. Aber sobald die Gefahr gebannt scheint, steuerpflichtig zu werden, kann man wieder luftgetrockneten Schinken zum Rotwein genießen.
Die Anzahl der Hotelbediensteten wächst kurz vor Beginn der Sommermonate massiv an. Ab diesem Moment schuften vom Festland angeworbene Arbeitskräfte in den Hotels. Und allerspätestens Mitte September, wenn sich die Unterkünfte allmählich zu wieder leeren beginnen, sieht man allen die Erschöpfung direkt im Gesicht an, und die meisten haben massiv an Körpergewicht eingebüßt. Sämtliche Hotelangestellte malochen von Ende April bis Mitte September ohne einen freien Tag am Stück durch. Dank ihrer aufkumulierten Überstunden erhält das Personal ganzjährig einen eher bescheidenen Monatslohn ausbezahlt.
Während der Wintermonate verirrt sich eher selten ein Reisender nach Lopud. In dieser touristenlosen Zeit wird ebenfalls nicht gefaulenzt. Die alten Gebäude verlangen ständige Renovierungsarbeiten, und wer etwas Geld ansparen konnte, baut ein weiteres Fremdenzimmer am eigenen Haus an. Fast alle Familien vermieten mindestens ein Gästezimmer oder Appartements während der Sommermonate. Einmal eine eigene Pension mit sechs bis acht Unterkünften zu besitzen, dieser Wunschtraum ist praktisch sämtlichen Einheimischen gemein. Im Juli und August übertrifft die Nachfrage nach einer Schlafstelle das vorhandene Bettenangebot der Hotels bei Weitem, in diesem Zeitraum leben manche Familien im Wohnzimmer. Schlafzimmer werden vermietet, weil täglich Urlauber ohne Hotelreservierungen auf dem Postschiff eintreffen.
Hans kennt unterdessen die meisten Privatunterkünfte. Er musste einige Urlauber während einer Woche oder sogar der gesamter Aufenthaltsdauer außerhalb des gebuchten Hotels unterbringen. Der Generaldirektor hatte im Vorjahr weitaus mehr Zimmer an ausländischen Reiseveranstalter verkauft, als tatsächlich verfügbar sind. Hinter dem ren hausgemachten Überbuchungsproblem steckte weder böse Absicht, noch wollte der Direktor damit Privatzimmer füllen helfen. Der Manager verfügt schlicht und einfach nicht über die notwendige Ausbildung, um seiner anspruchsvollen Aufgabe gerecht zu werden. Die Legitimation für diesen Posten leitet sich einzig aus einer langjährigen Mitgliedschaft in der Regierungspartei ab. Als er das Jahr zuvor mit Hoteleinkäufern die Preise und Bettenkontingente einzeln aushandelte, verzählte sich der Kroate halt dummerweise.
Und als im Hochsommer zahlreiche überbuchte Urlauber die Rezeptionen zornig belagerten, war von Gospodin Direktore weit und breit keine Spur zu sehen. Vollkommen berechtigte Unmutsäußerungen trafen ausschließlich unschuldige Reiseleiter und Rezeptionisten. Ihm und seinen Kollegen von der Konkurrenz fiel es dabei weiß Gott nicht leicht, aufgebrachte Urlaubsgäste zu beruhigen, schließlich hatten diese bereits vor Monaten ihre Ferienarrangements gebucht. Als sie nach der anstrengenden Anreise erfuhren, im eigentlich reservierten Hotel sei kein Zimmer frei, lehnten es die Allermeisten kategorisch ab, in ein Alternativhotel nach Dubrovnik ausweichen. Diese spezielle Klientel wählt mit Bedacht die kleine Insel an der süddalmatinischen Adriaküste aus.
Er unterbreitete einigen Hauseigentümer ein für kroatische Normaleinkommen sehr lukratives Angebot und daraufhin rückten die Familien noch etwas enger zusammen. Überbuchte Urlauber übernachten sogar auf einer ausziehbaren Couch im Wohnzimmer. Der Kundendienst in Frankfurt wurde sogleich darüber informiert. Daraufhin wurde allen betroffenen Urlaubern ein Großteil ihres Reisepreises direkt nach der Rückkehr zurückerstattet und im Anschluss bat die Zentrale in Frankfurt die Hotels dafür indirekt zur Kasse. Sämtliche mit Überbuchungen zusammenhängende Unkosten zog die Buchhaltung direkt von der nächsten Monatsabrechnung ab, welche die Hotelgesellschaft in Frankfurt einreichen muss. Jene happigen Abzüge ziehen garantiert eine positive Auswirkung nach sich. Derartig hohe Einbußen werden die Parteispitze davon überzeugen, dass man den Generaldirektor besser anderweitig eingesetzen sollte. Einigen in Privatunterkünften untergebrachten Urlaubern gefiel ihr Alternativaufenthalt dermaßen gut, dass sie bereits für das Folgejahr einen Privaturlaub im Haus ihrer Gastfamilien reserviert haben.
Und mit einem neuen und hoffentlich kompetenteren Generaldirektor erscheint ihm eine weitere Sommersaison auf der autofreien Insel durchaus erstrebenswert. Dabei muss man allerding die Unberechenbarkeit der Einsatzzentrale berücksichtigen. Personalplanung und Wünsche der einzelnen Reiseleiter weichen häufig diametral voneinander ab. Diese Tatsache holt ihn aus seinen Gedankengängen zurück. Dube hat sich derweilen bereits gefragt, ob Hans eventuell beleidigt sei, weil keine Antwort erfolgte. Endlich macht er den Mund auf.
- Ich käme gerne wieder, aber letztendlich hängt die Entscheidung von der Zentrale in Frankfurt ab. Wie lange muss ich eigentlich noch untätig herumsitzen, oder ist die Sprechstunde bereits beendet?
Bevor ihm die Rezeptionistin antwortet, kann sie es partout nicht unterlassen, ihm zuvor nochmals sein Missgeschick direkt unter die Nase zu reiben.
- Du hast also die neue Armbanduhr bei der schönen Ina liegen gelassen? Es ist 19.50 Uhr.
Die Rezeptionistin im Hotel Dubrava hatte den Holländer vor knapp zwei Stunden gebeten, ihr die zahlreichen Funktionen seiner Seiko vorzuführen. Inmitten der Demonstration erschien ein erboster Urlauber, um mit seinem Reiseleiter eine vollkommen unnötige Diskussion über eine unabänderliche Flugplanänderung zu führen. Und diese sinnlose Beschwerde beanspruchte dermaßen viel Zeit, dass er im Anschluss zum Hotel Lafodia rennen musste, ohne zuvor seine Armbanduhr zurückzuverlangen.
Aus dem leicht bissigen Kommentar von Dube glaubt er, eine leichte Eifersucht heraus zu hören. Die beiden Rezeptionistinnen senden hin und wieder eindeutige romantisch geprägte Signale aus, doch zu mehr als einem Flirt wird es niemals kommen. Die Frauen sind verheiratet und befolgen akribisch die Gebote der katholischen Kirche. Ganz weit oben steht geschrieben, Du sollst nicht ehebrechen. Er muss noch zehn Minuten ausharren, um den ausschließlich für Reiseleiter reservierten Tisch im Restaurant aufsuchen zu können.
Dube versteht nicht, warum der Holländer stets so gewissenhaft die Sprechstundenzeiten einhält. Treues Stammpublikum stellt ab September die Mehrheit der Urlauber, und nimmt eher selten die Hilfe eines Reiseleiters in Anspruch. Der Oliver von der TUI ist da einiges schlauer. Der atypische Deutsche ist heute erst gar nicht zur Sprechstunde erschienen. Aber warum tut es ihm Hans nicht gleich?
- Warum verhältst Du dich so typisch deutsch? Ich beziehe meine Frage auf die strikte Einhaltung der Arbeitszeit.
- Ich möchte in dieser Wintersaison unserem Fernost-Team angehören. Sollten sich Urlauber jedoch beim Kundendienst darüber beschweren, mich während der angeschriebenen Zeiten nicht in der Sprechstunde angetroffen zu haben, kann ich mir den Einsatz in Ostasien direkt abschminken. Und das bedeutet, einen weiteren Winter in einer der Reservationszentralen in Deutschland zu arbeiten.
Die Rezeptionistin hört ihm überhaupt nicht mehr zu! Dube starrt stattdessen zur Anlegestelle des Hotels. Er folgt ihrem Blick und versteht ihre Verwunderung. Eine hochmotorisierte Jacht legt gerade an und ein Besatzungsmitglied hilft einem Ehepaar galant beim Aussteigen. Dube muss sogleich einen Kommentar dazu abgeben.
- Die Herrschaften müssen sich verirrt haben, die Filmfestspiele finden in Venedig statt.
Und mit einem zynischen Grinsen dreht sich die Rezeptionistin zum Reiseleiter