Ich kann nicht darüber sprechen. Ich kann nicht in Worten darüber denken. Aber ich kann mich erinnern. Er hat mich angesehen dabei. Er hat gesehen, was ich mag.
So etwas mache ich über 6 000 Kilometer von Deutschland entfernt, mit jemandem, der über 12 000 Kilometer in die andere Richtung wohnt. Ich weiß schon, das ist kein Zufall. Offensichtlich gibt es in der Riege meiner Zensoren einen, der mir das nicht erlaubt, wenn ich zu Hause bin.
Ich höre die Tür. Sie geht auf. Sie geht zu. Schritte kommen näher.
„Wie geht es dir, Schatz?“
Mit einem Schlag bin ich wieder zurück, und hier ist es noch schlimmer als woanders. Das ist die Stimme meines Mannes, ein bisschen unsicher hört er sich an. Eigentlich wäre es nur fair, wenn ich ihm zumindest einen Blick zuwerfen würde. Schließlich muss er es ganz alleine mit Paul und Lena aushalten. Andererseits, wenn ich jetzt eine Ausnahme mache, werden mich die Krankenschwestern nicht mehr in Ruhe lassen.
Ich rühre mich nicht. Er nimmt meine Hand. Es fühlt sich weder gut noch schlecht an, er könnte es auch lassen.
„Ihre Frau hat wohl noch einen Schock, Herr Grube. Vielleicht könnten Sie gleich noch kurz mit dem diensthabenden Arzt sprechen?“
Mein Mann steht neben meinem Bett. Er holt sich keinen Stuhl. Versucht nicht mal was zu sagen. Selbst ihm fällt offenbar auf, dass seine Tennis-Ergebnisse jetzt deplatziert wären. Seine Hände sind feucht und zittern ein bisschen, und wenn ich gerade Empathie für jemand anderen als mich übrig hätte, würde er mir leid tun.
Wenn sich die Ringelnatter tot stellt, öffnet das sie Maul, lässt die Zunge raushängen und sondert ein stinkendes Sekret ab. Das mit dem stinkenden Sekret kommt ungefähr hin, ich habe keine Ahnung, wann die mich hier zum letzten Mal gewaschen haben. Aber das andere wäre doch zu theatralisch. Ich muss schmunzeln.
„Sehen Sie, Herr Grube, Sie tun ihr gut. Auch wenn sie gerade in einem schwierigen psychischen Zustand ist, kommen Sie doch so oft wie möglich vorbei.“
„Ich weiß nicht“, stottert der Mann, den ich mal geheiratet habe. In der irrigen Annahme, ich könnte so tun, als sei ich ein normales, sozial kompatibles Mitglied dieser Gesellschaft.
„Ich weiß nicht, gerade ist ziemlich viel los in der Abteilung…“
Ich bin der Meinung, dass es eine gute Idee ist, wenn er wegbleibt. Dann muss ich nicht so viel über gemeinsam vergeudete Zeit nachdenken.
Er beugt sich über mich und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Lustig. Sowas kommt normal nur in Filmen aus den Fünfziger Jahren vor. Aber dort ist es ein sehnsüchtiger Kuss, der andeutet, dass der Held sich gerne mehr erlauben würde. In meinem Fall fühlt es sich eher an wie eine Pflichtübung. Wie verhält sich ein Mann am Bett seiner Frau, die unter unklaren Umständen von einem Felsen gefallen ist? Er weiß es nicht und zieht sich so aus der Affäre. Ist schon okay. Was soll er auch machen.
Mein Gehirn kann einfach nicht aufhören alles einzuordnen, zu beurteilen, mit sinnlosen Assoziationen zu verknüpfen. Warum auch nicht, auf diese Art ist mir weniger langweilig. Ich habe das so gemacht, seit ich denken kann. Alles, was passiert, mit irgendwelchen Etiketten zu versehen oder damit zu spielen, damit es nicht so öde wird.
Es wird Nacht und wieder Tag und wieder Nacht. Ich starre an die Decke. Der Arzt kommt rein und geht wieder raus, dann kommt er mit einem zweiten Arzt rein. Sie ziehen mir das Augenlid hoch und fummeln an mir herum. Ich halte still.
„Muskeltonus normal“, sagt der eine.
„Trotzdem, ein katatoner Stupor, das ist eindeutig. Wir sollten zur Sicherheit medikamentieren.“
Mir ist es egal. Ich habe schon so vieles probiert, da kommt es nicht mehr darauf an, ob sie meine psychische Verfasstheit jetzt chemisch regeln oder nicht. Nicht dass ich es nicht versucht hätte. Schon mit siebzehn war ich zum ersten Mal in Psychotherapie. Meine Eltern meinten, ich müsse ihre Scheidung verarbeiten. Ich glaube, ich musste eher ihre Ehe verarbeiten, mit der Scheidung war ich vollkommen im Reinen.
Der Therapeut machte sich eifrig an die Arbeit. Ich war drei Stunden dort. Die Sitzung lief jedesmal folgendermaßen ab: Er fragte: Was würdest du machen, wenn ich etwas von dir wollte? Ich sagte: Ich würde nicht mehr kommen. Wie doof kann man sein, so was drei Mal mitzumachen? Nach der ersten Sitzung wäre die Sache doch eigentlich mehr als klar gewesen. Wo warst du damals, Großer Zensor? Ach stimmt ja, du warst da. Du sagtest: Nimm es nicht so ernst, vielleicht meint er es nicht so, sicher ist das eine psychotherapeutische Behandlungsmethode, er ist ja schließlich der Therapeut und weiß es besser als du. Was man anfängt, muss man auch zu Ende machen, und du brauchst doch Hilfe, das sagen alle.
Ich war naiv genug, es auch nach dem ersten Reinfall weiter zu probieren. Ich war bei zwei weiteren Psychotherapeuten und auf den seltsamsten therapeutischen Seminaren, habe Familienaufstellungen über mich ergehen lassen, mich auf die Liege von zweifelhaften Heilpraktikern begeben, die meine gestörten Fantasien als frühere Leben interpretierten. Ich habe Bonding nach Dan Casriel ausprobiert, dreißigtausend buddhistische Niederwerfungen vollzogen und täglich meditiert. Ich esse seit Monaten keinen Weizen und nehme grüne Smoothies zu mir, das soll ja die Hormonlage auf Hochstimmung tunen. Ganz zu schweigen von morgendlichen Fitnessübungen zur Anregung des Metabolismus und Jogging bis zum Magenkrampf. Ich habe mir für einen Haufen Geld Reconnective Healing und Reiki angetan. Monatelang habe ich seelenstärkende Audios angehört und jeden Morgen positive Gedanken affirmiert.
Wissenschaftlich gesprochen kann diese einzelne Fallstudie noch keine Aussage darüber machen, ob irgendwas von dem Zeug bei einer relevanten Gruppe von Probanden wirkt. Bei mir wirkt es jedenfalls nicht. Deshalb bleibe ich jetzt liegen und bewege mich nicht, bis es vorbei ist.
Und nein, Zensor, du wirst mich zu keinem weiteren Versuch bringen. Weder mit Verhöhnungen noch mit Appellen an meine Vernunft, vergiss es. Ich frage mich wirklich, wie lange ich dich schon kenne. Als ich ein Kind war, gab es dich da schon? Als ich klein war, bin ich jede Nacht gestorben. Jeden Tag war ich lebendig. Jede Nacht lag ich in meinem Bett, und sobald ich die Augen schloss, kam das Monster. Das Monster war riesig und bestand aus einem dichten Gewebe von Stahlketten. Und es jagte mich.
Nacht, Tag, Nacht, Tag, ich merke keinen großen Unterschied, seit sie mir die Neuroleptika in den Tropf schmeißen. Höchstens, dass ich immer wieder wegdrifte.
Ich bin neun Jahre und auf dem Schulweg. Ich halte die Hände auf dem Rücken zusammen, ganz unauffällig. Meine Handgelenke sind mit Stricken zusammengebunden, aber das müssen ja die Passanten nicht wissen. Meine Hände sind gefesselt, ich bin eine Gefangene. Aber mir wird nichts passieren. Nur ich kenne den Weg, den die Karawane meiner Peiniger durch die Wüste gehen will. Ich gehe durch die Wüste in die Sklaverei. Sehr passend, dieses Bild, für ein Mädchen, das in die Schule muss. Ich weiß nicht, wann das angefangen hat, dass ich woanders war als hier, aber mit neun war es schon so.
Ich bin nicht neun. Ich bin fünfzig, und ich perfektioniere den Zwischenzustand. Der Kettenmann küsst mich nicht auf die Stirn. Er umarmt mich, und es ist mir egal. Die Ketten fühlen sich leichter und wärmer an, als ich dachte. Und er drückt auch nicht fest zu. Könnte er aber. Soll er doch, mir wäre es nur recht.
Manchmal stört eine Krankenschwester unsere intime Zweisamkeit und popelt an meinem Arm herum, um einen neuen Eingang zu legen oder die Infusion zu prüfen oder was weiß ich. Verbände werden gewechselt, jemand versucht mich zu füttern, aber ohne Erfolg. Ich bin nicht da. Mein Monster ist auch nicht da. Wir sind zusammen nicht da, und die Sonne geht auf und wieder unter. Wahrscheinlich zumindest, ich kriege es nicht mit.
Tür auf, Tür zu, ein weiterer Besuch, den ich ignoriere.
„Hey, Alte, du hast mich voll in die Scheiße geritten.“
Die Sprache könnte von Paul sein. Aber der würde sich niemals die Mühe machen, mit Öffis so weit zu fahren. Wo auch immer ich da im Krankenhaus bin, Reutlingen oder was.
Die Stimme