SAVANT - Flucht aus Niger 3. Michael Nolden. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Nolden
Издательство: Bookwire
Серия: SAVANT - Flucht aus Niger
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909128
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herangezüchteter Wirtschaftsstudent in gestärktem Anzug und Aktentasche an einem vorüber. Wir sollten Kontakte knüpfen, das Land dadurch kennenlernen. Ich traf einen Mann vom Außenministerium.« Ich zögere. »Benoît Moussa«, sage ich, bevor die Pause zu lange dauert, »sehr europäisch eingestellt, im besten Sinne, wie ein englischer Butler, der eine französische Adelige zur Mutter hatte, nett, zuvorkommend ...«

      Eddie blinzelt. »Moussa?«, fragt er. »Ich kenne den Namen! Ich habe ihn von ...«

      Ich sehe ihn aufmerksam an. Ist das der Moment? An dem der Damm bricht? Oder eine Mauer auf der alten in die Höhe wächst? Es gab diesen Moment mit Antoine. Und ein paar ganz wenigen auf diesem Planeten. »Von wem?«

      Da ist das schelmische, unverschämte Lächeln wieder. »Bertrand. Von meinem Freund Bertrand«, antwortet Eddie. »Er hat mir den Namen genannt. Ich solle ihn für den Notfall behalten. Er hat ihn mir ...« Seine Miene versteinert mitten im Satz. »Vorgestern genannt«, sagt er. Noch einmal das Lächeln. Aufgesetzter. Künstlich unverfroren. »Als ich noch alle Finger hatte.« Eddie strafft den Oberkörper, reckt das Kinn vor. »Gut«, meint er daraufhin, »ich kenne nur den Namen.« Eddie wirft einen Seitenblick über die Heckseite des Lastwagens auf die nachfolgende Kolonne.

      Im zweiten Fahrzeug sitzen Samir und Bertrand Forbach im Führerhaus. Ihre Gesichter liegen im Schatten. Die fast verdeckte Beleuchtung des Armaturenbretts legt einen rötlichen Glanz auf ihre Kinnpartie.

      »Bertrand kennt Moussa sicher persönlich. Kontakte sind das Alpha und Omega für ihn. Obwohl ich bisher keinen konkreten Nutzen bemerkt habe«, spricht Eddie weiter. »Wie man sieht.« Sein Kopf deutet mit einem Nicken auf die Ladefläche. »Wir wären sonst nicht hier.« Eddie wartet.

      Ich bin wieder an der Reihe. »Benoît Moussa sollte Nigers Verbindungsmann zur UNPF sein. Ich verstand mich gut mit ihm. Wir trafen uns privat. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit. Von meinem beruflichen Interesse an Autisten.«

      Eddie mustert mich, äußert sich jedoch nicht.

      »Nach ein paar Tagen rief er mich an. Es gehe um einen Jungen in seinem Heimatdorf, meinte er. Er wolle ihn mir zeigen. Es sei dringend. Am besten machten wir uns gleich auf den Weg.« Ich schildere meinem – ich denke – unfreiwilligem jungen Begleiter die lange Fahrt mit einem alten Geländewagen, den Benoît für viel zu viel Geld gemietet hatte. »Geld, das er eigentlich nicht besaß. Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten wir das Dorf, nach einer Reise ins Landesinnere. Den ganzen Tag waren wir unterwegs gewesen. Benoît wurde sofort empfangen. Zwei aufgeregte Frauen zogen ihn zu einer Ansammlung von Hütten und einer Reihe von Grünpflanzen dahinter. Nichts Besonderes, keine richtige Oase. Nur Wasserlöcher. Selbst gegraben, mit schmutzigem Wasser, eine lehmige, schlechte Brühe. Bis auf eines. Die Frauen weinten. Vor dem letzten Wasserloch hatten ein gutes Dutzend Frauen Aufstellung genommen. Wie eine Phalanx, in Doppelreihe. Ein Mann schrie sie lautstark an. Der Hausa tigerte vor den Frauen auf und ab, drohte ihnen mit der Faust und stieß manchmal auch gegen eine von ihnen. Aber jede, die er schubste, tat sogleich einen Schritt nach vorn und demonstrierte Stärke. Ihre verkniffenen Mienen zeugten von großer Angst. Lange hätten sie das Spiel nicht mehr mitgemacht. Bei unserer Ankunft drehte sich der Mann um. Benoîts bedeutungsvoller Auftritt ließ ihn zurückweichen. Ein Mann in Anzug und Schlips in dieser Gegend? Offizielle sind in Niger, das kann ich bestätigen, selten ein gutes Omen. Die Frauen schienen aufzuatmen. Sie traten beiseite. Jetzt erst sahen wir noch zwei Frauen am Boden knien und jeweils mit einem Arm in die Grube hinuntergreifen. Sie rührten sich nicht von der Stelle. Sie hielten einen Jungen fest, zogen, schafften es nur nicht, ihn hochzuziehen. Von dem Jungen kam kein Laut. Er hing wie eine Puppe in ihren Fingern. Benoît half ihnen. Er packte das Kind an den Schultern und hievte es nach oben. Ich werde – ich werde niemals dieses Häufchen Elend vergessen. Benoît wechselte einige Worte mit den jetzt völlig hysterischen Frauen. Wie es sich herausstellte, hatte der Mann, der Vater ...«

      [Eddie Trick]

      »... versucht, den teilnahmslosen Jungen zu ertränken. Ersäufen!«, sagt Nathalie in tiefe Bitterkeit versunken.

      Für den Vater sei das Kind ein nutzloser Nachkomme gewesen. Ein überflüssiger Esser, also eine Gefahr für das Leben in einem ärmlichen Dorf. Ein Sohn, der niemals heiraten, die Familie vergrößern oder für den Unterhalt der Familie sorgen würde. Ein körperliches Verderbnis, ein lebendig gewordener Makel. Der Vater sei deshalb angefeindet worden. Wie könne ein Mann ein solches Kind in die Welt setzen? Was hatte er angestellt? Wer hatte ihn verhext? Oder die Mutter? Dann hatte sich seine Absicht im Dorf verbreitet. Ein Ende mit Schrecken! Besser als ein Schrecken ohne Ende! Er hatte den Jungen aus der Hütte gezerrt, Frauen der Familie, die Mutter, niedergeschlagen! Aber es hatte sich etwas Unerhörtes ereignet! Andere Frauen widerstanden ihm. Die Tanten, die Mutter, eine Großmutter kam hinzu, von blauen Flecken gezeichnet. Und sie wehrten sich! Als Benoît Moussa die Nachricht um den Zustand des Kindes zuteil geworden war, über eine Stafette von Händlern aus der Gegend, die eine Strecke bis nach Niamey bereisten, hatte er rasch einen simplen Plan bei der Hand. Mich zu rufen. Hinfahren. Das Schlimmste verhüten. Der Vater floh. Beschämt, erniedrigt von Frauen! Kaum zu glauben! Moussa suchte das Gespräch mit dem Rest der Familie.

      »Ich kümmerte mich um den Jungen. Was nicht leicht war, denn jede Fürsorge wurde mit Angst beantwortet. Er schrie nicht. Das kam später. Er wimmerte. In einer endlosen furchtbar traurigen Melodie. Sie wurde erst unterbrochen, wenn eine Entkräftung einsetzte. Atemlosigkeit. Durst. Seine Verletzlichkeit rührte mich. Seine Blindheit zu erkennen, dazu brauchte es nicht viel, keinesfalls einen Experten.« Nathalie denkt nach. Sie blickt in weite Ferne, weit, weit zurück. »Benoît bot mir an, den Jungen der Familie abzukaufen. Für einen Monatslohn.«

      Meine Augen weiten sich vor Bestürzung.

      »Ein nigrischer Monatslohn.« Ein Nicken unterstreicht ihre Feststellung. »Im Vergleich zum Rest der Welt, besonders Europa oder die Staaten, ist das ein Geschenk. Sie schenkten mir praktisch den Jungen für das berühmte Butterbrot.« Ihre Stimme erstickt. Sie hustet.

      Eine Staubwolke hüllt uns ein. Wir passieren eine trockene Senke, fahren rund zwanzig Meter weiter eine Anhöhe hinauf, der eine stetige Berg- und Talfahrt folgt. Ein Gefühl wie auf einem Schiff macht sich in meinem Bauch breit.

      »Zuerst«, erzählt Nathalie weiter, »fand ich keinen Zugang zu ihm. Über gar nichts. Ich fürchtete, ihn zu verlieren. Er aß so gut wie nichts. Trank kaum. Nach einigen Monaten, ich hatte ihn offiziell adoptiert, fiel mir ein Bericht in die Hände. Ich erhalte immer noch Nachrichten von früheren Kommilitonen. Darin hieß es, man trainiere Affen zur Pflege von Behinderten und Autisten. Von Hunden zu diesen Zwecken wusste ich. Blindenhunde, klar! Aber Affen?«

      Sie redet schneller. Sie informierte sich über das Programm und seine Möglichkeiten. Gleichzeitig konzentrierte sie mehr Zeit auf den Jungen. Ein halbes Jahr darauf zeigten sich kleine Erfolge. Auf die Ängste folgte eine wachsende Liebe, ihre, später die von Pascale, der sogar den neuen Namen zu schätzen lernte und den alten offensichtlich vergaß – der ohnehin nur als Beschimpfung verwendet worden war. »Ungefähr zu der Zeit begannen mich die Hausa Geisterfrau zu nennen. Die auf den blinden Jungen, mit der seltsamen Art zu sprechen, aufpasst.«

      Ich freue mich über das plötzlich aufblitzende Lächeln.

      »Ziemlich genau anderthalb Jahre nach der Adoption traf Zet in Niger ein.«

      Der Pavian hebt den Kopf. Die sofortige Reaktion ist bemerkenswert. Nathalie tätschelt beruhigend meine Hand.

      »Er hat das beste Gehör aller drei Affen. Mit ihm fing das Training erst richtig an. Für die Schule blieb da gar keine Zeit mehr. Antoine hat mir viele meiner hauptsächlichen – die beruflichen Pflichten abgenommen. Meine anderen Kollegen ...« Neuerlich taucht sie in Schwermut ab. »Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ob es ihnen gut geht? Ob sie noch leben?« Danach fällt Nathalie in ein unangenehmes Schweigen.

      »Das war erst einer«, erinnere ich sie. »Pascale.«

      Ein grüblerischer Ausdruck legt sich über ihr Gesicht. »Ja, Pascale«, meint sie nach einer kleinen Weile. »Sieben Jahre hat es gedauert, bis der Junge diesen Entwicklungsstand erreicht hat und er ein Potential entwickelte,