»Bei gechippten Tieren können wir die Besitzer herausfinden und einfach anrufen«, erzählte Paul weiter.
»Gechippt?« Natalie bereute ihre Frage, denn die drei verstummten und musterten sie von oben bis unten. Sie schob die Sonnenbrille wie einen Haarreif auf den Kopf und richtete den Seidengürtel ihres Trenchcoats.
»Dem Hund wird im Nackenbereich ein Mikrochip mit einer Art Spritze injiziert. Der ist so mikroskopisch, dass er den Hund im Alltag nicht einschränkt. Der Chip funktioniert ein Hundeleben lang. Wenn er ausgelesen wird, sendet er die nötigen Infos. Das ist aber nicht überall in Deutschland Pflicht. Oft nur für als gefährlich eingestufte Hunde, also Listenhunde.« Der Tierpfleger nahm einen Flyer über Hundechips und reichte ihn Natalie. Sie wies sofort ab. Weder hatte sie einen Hund, noch benötigte sie einen Chip. Außerdem wollte sie die Architektur betrachten.
»So könnte man all die Hunde, die bei uns vor dem Tierheim ausgesetzt werden, direkt ihren Besitzern zuordnen. Mittlerweile haben wir zwar Kameras installiert, aber das hat sich rumgesprochen. Jetzt binden die Menschen ihre Hunde an einer Laterne vor dem Parkplatz an.«
»Tja, so ist das. Können Sie mir jetzt die Gehege zeigen? Ich muss gleich weiter.«
»Alle Gehege? Vielleicht fangen wir hier mit den Nagern an.« Er ging einige Schritte weiter und legte seine Hand auf eine silberne Türklinke. Natalie blieb stehen.
»Nein, ich muss nur die Hundezwinger sehen. Und vielleicht die Katzen.«
»Dann erst zu den Katzen, die sind gleich hier vorne. Die meiste Einrichtung, also Kratzbäume, Matten, Decken und Spielzeuge, sind gespendet.« Er öffnete eine andere Tür, sie gingen an einem Vogelhaus vorbei, in dem zwei Mitarbeiter die Wände schrubbten, und betraten den Innenhof.
»Wir bekommen pro Woche circa ein bis sieben Katzen, etwa fünfhundert pro Jahr. Zuerst finden wir heraus, ob sie Krankheiten haben und spezielles Futter oder Medizin benötigen. Wir hatten zum Beispiel eine Insulinkatze. Sie lebt jetzt in einer Pflegestelle. Wir haben hier kaum Kapazitäten für Spezialfälle.«
Sind doch nur Tiere, dachte Natalie und schaute sich die Katzengehege an. Die Boxen waren sehr geräumig, hatten einen Außen- und Innenbereich und boten den Tieren zahlreiche Rückzugsorte. Dabei teilten sich mehrere Katzen einen Raum. Ansonsten konnte Natalie nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Später gebe ich Ihnen den Bauplan vom Tierheim«, versprach der Pfleger. Sie griff nach ihrem Handy und sag auf das Display. Es war gesprungen. Das hatte ihr noch gefehlt. Ausgerechnet jetzt. Sie fummelte am Einschaltknopf, doch es blieb tot. Sie fluchte, sodass eine Katze aufsprang und sich unter einer Wolldeckenkonstruktion versteckte. Dann würde sie eben nicht fotografieren.
»Gerade ist das Tierheim zum Glück sehr leer. Zu Hochzeiten haben wir mehr als einhundert Katzen hier. Obwohl wir sehr gute Hygienestandards haben, breiten sich dann schnell ansteckende Keime aus. Katzenschnupfen war auf unserer Quarantänestation einmal ein Problem. Ach so, wollen Sie die sehen?«
Natalie hörte ihm nur mit einem Ohr zu und nahm ihr schlichtes scharzes Notizbuch aus dem Seitenfach ihrer Handtasche. Sicherlich, die Viecher sind arm dran. Sie schlug die nächste freie Seite mithilfe des Lesebändchens auf. Die Katzengehege waren sauberer als sie gedacht hatte. Vom Boden könnte man essen, so gewienert war er. Die Gitter selbst? Weder verrostet, noch mitleidige Tierblicke dahinter. Einige Katzen kletterten jetzt sogar auf sie zu, andere räkelten sich im Hintergrund. Es roch frisch; keine Exkremente, keine Angst.
Paul hatte sich an die Säule zwischen den Gehegen gelehnt und betrachtete einen mehrfach geknickten Zettel. Irgendwoher kannte sie den jungen Mann. Die Art, wie er das Papier an sich drückte, um etwas zu notieren. Natalie konnte eine Tabelle mit Uhrzeiten und Texten darauf entdecken. Er fuhr mit dem Kugelschreiber Zeile für Zeile entlang. Zwischen den ordentlichen Linien prangten etliche hastig notierte Hinweise und weitere Uhrzeiten in blau, schwarz und grau.
Im Glashaus gegenüber verteilte eine Frau neues Stroh und wischte sich die Hände an ihrer grünen Latzhose ab.
»Sollen wir weiter? Ich habe noch einige Kennenlerntermine heute. Gehen wir zu den Hunden«, sagte der Tierpfleger. Natalie folgte ihm. Das Haus war größer als sie es sich vorgestellt hatte. Jeder Raum wurde genutzt – als Lagerkammer für Käfige und Decken, als Futterkammer, als Ruheraum für Katzenmütter mit ihren Kitten oder als Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter. Die Ausschreibung gab keine Räume vor, die geplant werden sollten. Einzig das Grundstück stand bereits fest.
Paul öffnete eine Tür. Sofort hallte das Kläffen der Tiere von den Wänden wider und steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Lärmpegel. Natalie steckte sich die Finger in die Ohren. Dabei rutschte ihre Handtasche von der Schulter. Sie fing sie rechtzeitig auf. Paul ging weiter und schwang einen Schlüsselbund hin und her. Am Ring baumelte die Miniatur einer Discokugel. Die Spiegel waren ganz verkratzt.
Er war das! Jetzt wusste sie es. Paul! Im Klassenzimmer hatte er die Kugel immer in die Sonnenstrahlen gehalten und die Lehrer mit den blitzenden Lichtreflexionen irritiert. Hinten links hatte er gesessen und in den Pausen lautstark an seiner Schokomilch geschlürft. Ob er sie schon erkannt hatte? Im Herbst stand das nächste Ehemaligentreffen in der Gesamtschule an. Dann würden alle erfahren, dass sie nicht, wie sie im Internet vorgab, ausschließlich Museen plante, sondern auch unnütze Dinger wie Tierheime.
»Gonzo, mein großer«, Paul kniete sich hin. Vor ihm lief ein Schäferhund aufgeregt am Gitter auf und ab und beanspruchte seine volle Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte er noch nichts bemerkt. Natalie schob die Sonnenbrille wieder ins Gesicht. Sie war in der Mitte des Ganges stehen geblieben und hatte die Handtasche vor ihre Hüfte gedrückt, um bloß keine Gitter zu berühren.
Sie betrachtete das Exemplar neben sich. Ein Speichelfaden floss aus dem rosa Maul heraus und tropfte in Zeitlupe auf den Boden, wo sich ein Rinnsal gebildet hatte. Was Miriam sich nur gedacht haben muss, als sie ihr riet, sich einen Hund anzuschaffen. Wahrscheinlich wollte sie wieder darauf hinaus, dass sie einen Freund brauchte.
Der Pfleger streichelte Gonzo durch die Gitter des künstlich beleuchteten Stalltrakts. Warum verwehrte man den Tieren die Aussicht? Bodenlange Fenster würden ihnen mehr Freiheit suggerieren. Sie dachte an Panoramaküchen in modernen Einfamilienhäusern. Der Hund drückte sich fest gegen Pauls Fingerspitzen.
»Ich kenn von allen den Namen. Manche habe ich selbst getauft«, lächelte er. »Der hier ist ein ganz Lieber. Mag aber keine Katzen, deshalb wurde er abgegeben.« Er ging zu einem etwas wuchtigeren beigen Hund. Der unterbrach sein Gebell und stellte sich ebenfalls nah ans Gitter.
»Wir analysieren unsere Tiere. Hat ein Hund Angst vor Radfahrern, spazieren wir mit dem zukünftigen Besitzer und dem Tier zu einem Radweg. Außerdem muss der neue Besitzer den Hund erst einmal kennenlernen. Für den Hund ist das hier schließlich sein Zuhause. Seit dieser Methode haben wir deutlich bessere Vermittlungschancen und fast keine Rückläufer.« Der Pfleger zeigte auf den Gang mit den Zwingern, die teilweise leer standen. Auch hier waren alle Boxen sauber. Sicherlich lag das nur an der deutschen Ordnung und Perfektion. In anderen Tierheimen musste es vor Kot und Urin nur so wimmeln. Natalie überlegte, das in ihrem Bericht zu vermerken, befürchtete aber, dass ihr Chef sie dann erst recht ins Ausland schickte. Der träumte schließlich davon, einmal den Pritzker-Preis zu erhalten. Der höchste Preis, mit dem ein Architekt ausgezeichnet werden kann. Aussichtslos. Solange er sich auf solche Projekt einließ, würde er niemals einen Preis dieser Größenordnung gewinnen.
»Er ist gerne hier.« Der Hund neben Paul ließ die Augenlieder flackern und schubbelte seine Seite an den Händen des Mannes. »Wenn wir mit den Hunden vom Spaziergang zurückkommen, freuen sie sich auf ihren Käfig. Manche ziehen richtig an der Leine.«
»Wirklich? In dem Gefängnis hier kann man sich wohlfühlen?« Natalie zuckte zusammen. Hatte sie das wirklich ausgesprochen?
»Gefängnis, das stimmt. Aber sehen Sie es mal so, die Tiere bekommen Futter und Wasser, haben ein Dach über dem Kopf, Bewegung und werden nicht misshandelt. Es