»Du hast ja Recht. Verdammt! Aber wofür habe ich so lange studiert und mich abgearbeitet? Um bei Hofenkamp & Meyer eine Stelle zu bekommen und das in meinen Lebenslauf schreiben zu können? Vielleicht. Aber um irgendwelche Straßenhunde anzugucken? Niemals!« Sie lehnte sich an das Edelstahlgeländer. Hofenkamp & Meyer – Museumsarchitekten! Ein Tierheim ist weit entfernt von einem Museum. Da wird kein Glas verbaut, nur meterlange Gitterstäbe, hinter denen noch viel dreckigere … – wieso sollte man für ein Tierheim überhaupt einen Architekten brauchen?
»Komm, gehen wir wieder runter.« Miriam wandte sich dem Treppenhaus zu. »Warum nehmen wir eigentlich nicht den Aufzug?«
Natalie seufzte und folgte ihrer Freundin bis zur siebten Etage. Sie lauschte dem Hall von Miriams Schritten, den die nackten Betonwände zurückwarfen und steckte das Ende des Gürtels in die Schlaufe, aus der es manchmal heraus rutschte, drückte den schweren Messinggriff tief und ließ die Holztür hinter sich wieder ins Schloss schnappen.
Tierschutzzentrum Dortmund
Stundenlang hatte sie gestern Abend versucht, jemanden im Tierheim zu erreichen. Erst war besetzt gewesen und schließlich konnte die Frauenstimme am anderen Ende ihr keinen Termin geben. Sie sei dafür nicht verantwortlich. Heute Morgen hatte sie vom Frühstückstisch aus, mit Marmeladenbrötchen in der Hand, endlich den zuständigen Pfleger erreicht.
Vielleicht stimmte es, was ihre Kollegen erzählten: In Tierheimen säßen die Mitarbeiter den ganzen Tag nur herum. Dort stolperte man schließlich nicht von der einen in die nächste Sitzung.
Sie parkte ihren silbernen Golf, setzte die Ray-Ban Sonnenbrille auf und betrachtete sich im Rückspiegel. Ihre dunkel gefärbten Haare fielen am Wirbel neben dem Scheitel schon wieder zur falschen Seite. Ihre Gesichtsform glich einer krummen Banane. Natalie schob Strähnen hin und her und seufzte. Sie warf den Henkel ihrer Gucci Handtasche über die Schulter und setzte beide Füße aus der Autotür hinaus, ohne die schmutzige Gummiabdichtung zu berühren, und zog sich am Innengriff hoch.
Es schepperte. Sie drehte sich um. Ihr Handy lag in Einzelteilen auf den Steinplatten am Boden. Das hatte ihr noch gefehlt, sie brauchte es gleich. Sie bückte sich, doch als sie sich wieder aufrichtete, geriet sie ins Schwanken. Gerade rechtzeitig stützte sie sich mit Daumen und Zeigefinger am Auto ab und gewann ihr Gleichgewicht wieder, ohne den Lack mit der Hüfte zu touchieren. Ihr rechter Pfennigabsatz steckte zwischen zwei Pflastersteinen und löste sich nicht.
Ein junger Mann mit kurzen stacheligen Haaren, die von eine zarten Gelschicht in der Sonne glänzten, trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu und stellte sich mit einem Grinsen als Paul vor. Er musste sie schon einige Minuten beobachtet haben. Sein rotes T-Shirt war eine Nummer zu groß und hing schlaff an ihm herab. Dadurch bedeckte es seine dunkelgrüne Latzhose teilweise, die bauschig in schweren Arbeitsschuhen steckte.
Natalie steckte die Teile des Handys zusammen und stopfte es in ihre Tasche, griff die Hand des Mannes und zögerte einen Moment. Kam er ihr nicht bekannt vor?
Hinter ihm erblickte sie das Tierheim. So unscheinbar und marginal, wie sie es sich vorgestellt hatte. Als sie ihren Schuh aus dem Schlitz gezerrt hatte, musterte sie den mintgrünen Farbanstrich. Moderne Gebäude waren grau, weiß oder schwarz, lenkten nicht ab, passten sich an. Jede Farbe musste sich entweder durch die Umgebung rechtfertigen oder einen anderen erklärbaren Ursprung haben. Aber hier …
»Ich bin der leitende Tierpfleger des Tierschutzzentrums. Wir hatten telefoniert. Sie kommen von Hofenkamp & Meyer, richtig?« Leitende Position! Der Mann war kaum älter als sie.
»Ich würde gerne alles anschauen, ein paar Fotos schießen«, sagte Natalie. Das würde vollkommen ausreichen. »Wo ist der Eingang?«
Sie hatte ihre Kollegen häufig begleitet und kannte das Prozedere. Trotzdem waren die anderen Projekte nicht vergleichbar. Da dachte man in Dimensionen, die als Einzelperson nicht zu greifen waren – zu komplex.
Die Fotos würde sie später in ihren Bericht einfügen, denn im Internet war sie nicht fündig geworden. Von den Stararchitekten wusste sie, dass sie auf Reisen stets fotografierten und riesige Bildersammlung zur Inspiration anlegten. Natalie hatte damit zum Ende ihres Studiums begonnen und bereits einige Ordner auf ihrem Computer angelegt.
Zwar gab es tausende Aufnahmen von Tierheimtieren im Internet, aber die nutzten ihr nicht. Entweder versanken die abgebildeten Tiere, zu hunderten in enge Käfige gepfercht, in ihren eigenen Exkrementen, oder es waren einzelne Hunde auf saftigen Wiesen zu sehen, um die sich eine Horde Bezugspersonen drängte. Niemanden schien die Architektur zu interessieren.
»Gut, also, wir befinden uns in unserem Eingangsbereich.« Paul deutete auf den gepflasterten Platz. »Wir sind ein städtisches Tierheim. Im Gegensatz zu Vereinen haben wir ein festes Budget zur Verfügung und unsere Mitarbeiter sind verbeamtet. Wir müssen nicht so viele Spenden einwerben und können uns ganz auf die Tiere konzentrieren.«
»Ist das nicht immer so?« Natalie trat auf die Eingangstür zu. Dabei blickte sie auf den Boden, noch einmal wollte sie nicht stolpern.
»Nein, viele Tierheime sind privat. Die brauchen Spenden, weil die Kommunen sie nur teilweise unterstützen.«
»Na, wenn man keine Geldsorgen hat, dann stimmt doch alles.« Natalie atmete ein. Anders als sie erwartet hatte, roch es hier nicht nach Exkrementen.
»Nicht ganz. Zum Beispiel dauert es Ewigkeiten, bis endlich mal Baugenehmigungen erteilt werden. Der neue Zwinger hinten steckt seit einem Jahr in der Planung. Dabei brauchen wir ihn dringend, bevor die Sommerferien beginnen.« Stille kehrte ein auf dem Vorplatz. Nur der Wind rauschte durch die Bäume und Autos über die nahegelegene Bundesstraße. Aus der Ferne drang ein Bellen zu ihnen. Würde Paul am Ende des Rundgangs etwa eine Spende von ihr verlangen? Dafür war sie nun wirklich nicht hier.
Er deutete auf einen angebauten Raum neben dem Haupteingang. »Das ist der Raum für Feuerwehr und Polizei. Die haben einen Schlüssel. Wir stellen abends, bevor wir das Tierheim verlassen, Futter und Wasser für Fundtiere rein.« Paul zog die Tür mit einem Ruck auf und stellte sich wie ein Portier dahinter. Natalie warf einen Blick hinein. Der komplett beige geflieste Raum war mit Käfigen bestückt, durch ein Oberlicht drang Licht hinein. Ob es den Hunden etwas ausmachte, eine Nacht in einem fremden Verschlag zu sitzen?
»Wieso kann die Polizei nicht bis zum Morgen warten?« Sie trat wieder zurück und ging seitlich in Richtung Eingangstür. In dieser Geschwindigkeit würden sie Ewigkeiten brauchen.
»Naja, die haben ja noch andere Aufgaben. Erst gestern lief ein Labrador mitten in der Nacht alleine über eine Kreuzung in der Innenstadt. In der Nähe vom Dortmunder U. Da wurde die Feuerwehr gerufen. Und, was sollen die mit einem Labrador auf der Wache?« Er ließ die Metalltür ins Schloss schnappen.
»Wer lässt denn seinen Hund mitten in der Nacht alleine rumlaufen?«
»Ach, Sie können sich gar nicht vorstellen, was alles passiert. Tiere laufen nun mal auch weg.«
»Das ist doch gefährlich.« Nathalie schauderte es. Was, wenn ihr eines nachts ein fremder Hund begegnete? Womöglich ein schwarzer Riese mit funkelnden Augen und gefletschten Zähnen.
»Wir geben den Besitzern immer vier Wochen Zeit, das Tier wieder abzuholen. Achtzig Prozent der Hundehalter kommen vorbei, aber nur zwanzig Prozent der Katzen werden wieder mitgenommen. Die Tiere kommen dann in unsere Vermittlung. Erst nach sechs Monaten dürfen wir sie endgültig an neue Besitzer übergeben. Steht so im Gesetz.«
Natalie war erneut auf die Eingangstür zugetreten und zog sie nun auf. Paul folgte ihr. Eine Frau versank in Stapeln aus bunten Zetteln, Stiften und einem alten Computer hinter der Holztheke der Rezeption. Neben ihr türmte sich ein palmenähnliches Gewächs in die Höhe. Zu ihrer Linken standen zwei Tierpfleger, die die gleiche Kleidung wie Paul trugen und sich über eine Katze namens Lulu unterhielten.
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