„Aber der Fahrer will doch auch Geld verdienen … oder lebt der nur von der frischen Landluft“, hält Anke entgegen.
„Das haben sie hier auf dem Land ganz einfach gelöst … die Fahrer sind ausschließlich Senioren … die machen das ehrenamtlich … ich finde … eine ganz tolle Sache … obwohl für unsere Altersgruppe noch nicht unbedingt interessant … aber auch wir werden einmal älter … ich finde es eine ganz tolle Idee.“
Ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Akazienaue zwei Kilometer“ unterbricht ihre Unterhaltung. Bei der Fahrt bis zur Ortsgrenze werden sie von einem einzigartigen Panorama in Empfang genommen. Riesige Buchen flankieren die Straße. Wie zu einem gewaltigen Tunnel haben sich die Kronen der Bäume in ungefähr dreißig Meter Höhe vereint. Tiefrot glänzen die zum Herbstlaub gewordenen Blätter im Sonnenlicht. Einige von ihnen sind schon mit goldenen Streifen durchzogen. Mit halb geöffneten Mund flüstert Anke, so als wolle sie die herrliche Natur nicht stören: „Wahnsinn … so etwas faszinierendes habe ich noch nirgends gesehen.“
Nach einigen hundert Metern endet der Wald und gibt den Blick auf einen wunderschönen See frei. Die Länge des Gewässers kann man von der Straße aus höchstens erahnen. Dafür bietet das gegenüberliegende Ufer mit den buntgefärbten Blättern der Bäume einen atemberaubenden Anblick. Anke ist völlig verzückt und überwältigt von der Schönheit der Natur und äußert nur kurz: „Wie im Urlaub.“
„Hast du das Schild am Ortseingang gelesen?“, fragt Andreas.
„Meinst du das Gelbe … da steht wie überall der Ortsname darauf.“
„Nein … das meine ich nicht … das grüne Schild darunter.“
„Was steht denn auf ihm … das habe ich übersehen.“
Andreas sagt mit heiterer Miene: „Ach nur … „Wohnen, wo andere Urlaub machen“ … witziger Spruch … wie ich finde.“
„Das habe ich schon einmal annähernd wörtlich gehört … ich glaube, es war gestern Abend“, stellt Anke lachend fest.
Dann sind sie auch schon an ihrem Ziel angekommen. Der Empfang ist herzlich und Anke holt den Sekt von der Rückbank. Ein niedliches kleines Schleifchen ziert den Flaschenhals. Sie überreicht die Flasche mit einem bezaubernden Lächeln und bemerkt: „Das ist unser Begrüßungstrunk … lieber noch eine halbe Stunde in den Kühlschrank legen … am besten ins Eisfach, da wird sie schneller kalt.“
„Danke … das werde ich beherzigen … dann genehmigen wir uns den ersten Schluck eben aus meinem Vorrat … ich glaube, da müsste schon etwas kalt gestellt sein … irgendwie bin ich auf euren Besuch eingestellt“, bemerkt er scherzhaft.
Als sie um die Hausecke biegen wird eine große Terrasse mit Gartenblick sichtbar. Hellgraue Granitplatten und das Rattanmöbel strahlen eine gewisse Eleganz aus und wirken überhaupt nicht protzig. Einfach toll, seufzt Anke lautlos. Sie denkt dabei an den kleinen Balkon in ihrer Stadtwohnung. Bei Sonnenschein im Sommer ist es auf ihm stets zu heiß und bei einem sanften warmen Regen fehlt die Überdachung. Da meldet sich Frank Ringhof zu Wort: „Mein kleines Mädchen – so bezeichnet er liebevoll seine Frau, weil sie so ein kleines schlankes Persönchen ist – „kann euch leider nicht begrüßen …sie besucht zurzeit ihre Eltern und Verwandten in Peru.“
„Handelt es sich dabei um die Frau, die du als Rucksacktourist bei deiner Südamerikatour kennengelernt hast?“, fragt Anke neugierig..
„Genau so ist es … aus der anfänglichen Urlaubsbekanntschaft entwickelte sich eine tiefe Zuneigung und jetzt sind wir schon fünf Jahre ein glückliches Ehepaar … leider kann ich sie auf der Reise in ihr Heimatland nicht begleiten … die Pflicht gebietet es mir, meine Patienten nicht ihrem Schicksal zu überlassen … für solch einen langen Zeitraum finde ich hier keine Vertretung … manches Mal wird es schon schwierig, wenn ich einmal drei Wochen am Stück Urlaub machen möchte.“
„Na hör mal … ich könnte auch nicht eine so lange Zeit weg von der Klinik … mein Urlaub ist im Arbeitsvertrag festgeschrieben“, entgegnet ihm Andreas.
Das Gespräch kommt nur langsam in Gang. Der Grund dafür besteht darin, dass Andreas Falk nicht so richtig weiß, wo und wie er anfangen soll. Frank Ringhof ist es rätselhaft, warum sein bester Freund heute so ungewöhnlich wortkarg ist. Schließlich ergreift Anke das Wort und fragt in ihrer offenen und ehrlichen Art: „Wie lebt es sich denn hier, so weit ab vom Schuss?“ Darauf war keiner vorbereitet und es entsteht eine kleine Kunstpause. Andreas räuspert sich kurz und sagt: „Verstehe bitte, wir haben uns einmal Gedanken über eine mögliche Veränderung gemacht … also nicht gleich sofort … nicht Hals über Kopf … eine solche Entscheidung will reiflich überlegt sein … deshalb wollen wir uns gern bei dir ein paar Informationen einholen … es muss ja auch nicht gleich so weit entfernt von der Stadt sein … ich habe doch meinen Job im Krankenhaus.“
Frank Ringhof ist leicht irritiert. Er hat bisher geglaubt, dass die Beiden das große Los gezogen haben. Als Arzt einer Klinik in der Großstadt und die große Fünf-Raum-Wohnung im Zentrum - besser kann man es doch gar nicht treffen - waren bisher seine Überlegungen - und nun diese Offenbarung. Deshalb sagt er zögerlich: „Tja, wo soll ich anfangen … bei den Vorzügen oder den Nachteilen, was das Leben auf dem Land so in sich birgt?“ Er entscheidet sich fürs Positive. Ausführlich schildert er die wunderbaren Vorteile der Landbewohner gegenüber den Städtern. Das Loblied auf Akazienaue kommt dabei nicht zu kurz. Salbungsvoll beschließt er seine Ausführungen mit der Bemerkung: „Ich wohne hier, wo andere Urlaub machen.“
Hoppla - denkt Anke - da muss doch was dran sein - diese Formulierung hört sie nun innerhalb von zwei Tagen zum dritten Mal. Frank Ringhof führt weiter aus: „Aber auch das will ich euch nicht verschweigen: man darf um Gottes Willen nicht so empfindlich sein … die Geräusche der Kühe und Schweine kurz vor der Fütterung sind weithin hörbar … und der natürliche Dünger auf den Feldern hat auch nichts mit teuren Parfüm zu tun … das gehört ebenso wie die Rasenmäher oder das Kreischen einer Kreissäge zum Alltag des Landlebens.“
Andreas wirft ein: „Schlimmer als den ständigen Großstadtlärm aushalten wird es wohl nicht sein … und Gras muss nach meinen Kenntnissen nicht täglich gemäht werden.“
„Aber damit nicht genug“, und Frank Ringhof hebt dabei bedeutungsvoll seinen Zeigefinger, „letztendlich bleibst du immer der Zugezogene, wenn du dich dem Gemeinwesen in der Gemeinde verschließt.“
Er bemerkt die fragenden Blicke von Anke und Andreas und setzt nach einer kurzen Überlegung seine Ausführungen fort: „Aber das hat sich geändert … die Einheimischen, die in der dritten und vierten Generation hier leben, sind im Prinzip stolz darauf, wenn wieder mal ein Neuer Einzug hält … derjenige gibt ihnen im gewissen Sinne doch die Bestätigung, dass nicht nur sie den Reiz der gediegenen kleinen Ortschaft zu schätzen wissen.“
„Wie ist denn so ungefähr das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Alteingesessenen und den Zugezogenen?“, will Andreas wissen.
„Es hat für mich bisher keine Bedeutung … das kann ich dir nicht genau sagen … zudem haben wir mit unserem Berufsstand sowieso nichts auszustehen … ein Arzt wird geschätzt und geachtet … vielleicht mehr als in der Stadt … in meiner Rolle als Landarzt bin ich für den einen der gute Nachbar von nebenan und für den anderen auch schon mal der Retter in höchster Not.“
Sichtlich beeindruckt von seinen Erzählungen schauen sich Andreas und Anke in die Augen und wägen gedanklich die Vorteile und Nachteile des Gesagten vorsichtig ab. So absolut überzeugt haben beide die Ausführungen von Frank Ringhof nicht. Doch nachdem Frank sie durch alle Räume geführt hat, ändert sich die Stimmungslage merklich. Das Haus hat großzügige Zimmer und die Küche gleicht einem Studio, wie Anke es nur aus dem Fernsehen kennt. Vor allem der Freizeit- und Partyraum im Dachgeschoß hat Andreas und Anke sichtlich beeindruckt. Besonders Andreas ist von dem Bereich unter dem Spitzdach begeistert und richtet das Wort an Anke: „Das ist