Wäre alles nur eine Traum ...
Ja, dieses Wort und seine Bedeutung kennst du. Wäre alles nur ein Traum, in dem du eine Rolle spieltest, so wären es nur Sekunden für den, der alles mit seinen Augen und Ohren sieht und hört, vermutlich nicht mehr als ein Satz, eine Zeile nur, die da lauten würde: „Viele Tage“, „Wochen später“ oder gar „Monate später sah Moyo die Großen Pyramiden vor sich aufragen.“ Das wäre der eine Satz, und schon wärst du am Ziel, im äußersten Norden des großen alten Kontinents mit Namen Afrika, schon hättest du Ägypten erreicht.
Du hörst die Worte „El Gizah“ und weißt, dass es das bedeutet, was du dir eben noch erträumtest. Du öffnest die Augen. Dort vor dir ragen die großen Pyramiden auf. Es ist Abend. Alle preisen ALLAH.
Kurze Zeit noch bleibst du im Schutz der Karawane, bei deiner Herrin, bei den Imuhar - bei den Menschen. Dann wirfst du deine Kleidung ab und verwandelst dich wieder in die Leopardin mit schwarzem Körper. So schleichst du dich gut getarnt mitten in der Nacht vom Lager fort und hin zum Ort, der unweit der Großen Pyramide im Sand verborgen liegt. Dort sprichst du in deiner Leopardensprache - ein Fauchen in Menschenohren - die magischen Worte.
Und das Tor, das weder senkrecht noch gewaltig und nicht für Zweibeiner geschaffen ist, sondern klein und in der Erde verborgen ruhte, dieses Tor, das seit Jahrtausenden auf deine Ankunft wartet, öffnet sich nun für dich.
Du schleichst hinein.
Es schließt sich lautlos selbst für deine empfindlichen Ohren. Dann hüllen dich die Wände ein. Sie sind weder kalt noch aus Stein und führen dich hoch empor in die verborgene Kammer, die kein Mensch jemals betrat. Dort legst du dich hin, ruhst dich aus und schließt deine Augen, so wie du es einst so oft im Süden auf einem Akazienast tatst, denn du bist müde.
Im Schlaf kommen die Bilder von dem, was war, was werden wird, was ist, sein könnte und niemals geschieht. Alles ist ineinander verwoben. Ich will es dir ein wenig entwirren.
Ein Traum handelt vom Wasser.
Weil Moyo noch immer durstig ist?
Nein. Sondern weil sie aus der Wüste kam und noch immer in ihrem Schoße ruht. Ja. In ihrem Traum steht sie am Ufer des Roten Meeres und schaut darüber hinweg.
Ein Menschlein klein und so allein?
Wolkenlos ist der Himmel und still die Welt.
Jetzt schließt sie ihre Augen.
Schwärze, Bilder. Du schaust hinab, unter die Oberfläche - nein, nicht aller Dinge dieser Welt.
Mantas gleiten dort mit ruhigen Flossenschlägen dahin, schweben dicht unter der Wasseroberfläche mit offenen Mündern. So filtern sie das Plankton aus. Glitzernde Schwärme von kleinen Fischen folgen ihnen. Friedlich scheint alles in Menschenaugen und Menschengeist – doch sterben zur gleichen Zeit Millionen winziger Wesen. Denn sie schreien nicht, werden einfach nur so eingesaugt, geschluckt und verdaut. Weder ihr Leben noch ihr Sterben nehmen wir wahr, also existieren sie für uns nicht – und tun es doch.
Dann ein Donnern: Von oben stürzt der Adler herab und seine Klauen packen den Fisch, halten ihn, ziehen ihn hoch und tragen ihn mit sich fort.
„Leben und Tod und Veränderung. Es wächst das Rote Meer“, flüstert eine Stimme tief in dir, „Afrika bewegt sich von Asien fort nach Norden auf Europa zu. Also schwindet das Mittelmeer dahin, und alles, was ewig und unvergänglich in Menschenaugen war, vergeht. Deshalb steigen die heißen Quellen auf. Salz ernten die Afar - die Karawane setzt sich in Bewegung – Dromedare tragen es fort.“
Er Dort Oben ist es, der da zu mir spricht, denkst du und fällst in den Wüstenstaub und senkst dein Haupt und weinst.
Weil der Fisch starb und der Adler überlebte?
Weil so viel Leid auf der Welt existiert?
Weil alles entsteht und wieder vergeht?
Weil du lebst und leidest?
Er Dort Oben, der dir dein Leben gab, ist nicht ALLAH. ALLAH ist weit über Ihm. ALLAH trägt keinen Menschenkörper, weshalb wir uns kein Bildnis von ihm machen sollen, und hauchte auch Ihm das Leben ein. „Allahu akbar - GOTT ist groß!“ Unergründlich sind SEINE Wege für uns Menschen - und alle anderen Wesen dieser und aller Welten.
„Gereh“ heißt „Nacht und Stille“.
Mumien, ins Jenseits Gesandte, Mumien von Menschen und Katzen und Gottesanbeterinnen siehst du in großen und kleinen und winzigen Sarkophagen im Süden, in Theben vergraben liegen. Abid ist der Name der Gottesanbeterin im Totenbuch. Miu ist der Name deiner kleinen Vetterin, der Katze, die in der Nacht erwacht auf samtenen Pfoten auf Beutezug geht, wie auch du es tust und die Eule, die zum Zeichen M in der alten Menschensprache wurde und etwas bedeutet, das in etwas Anderem enthalten ist.
Seltsam, seltsam, wer soll das verstehen? Was soll das alles bedeuten?
Ein anderer ist da noch bei Nacht, es ist Anubis, der Schakal, der die Geheimnisse des Jenseits hütet, der Richter. Wird er das Urteil über dich sprechen?
Du wachst auf und schaust dich verwundert um. Denn die Wände der Kammer, in der du liegst, leuchten. Zeichen sind dort an den Wänden, die jetzt Sinn ergeben:
Chabas ist der Name des Sternenhimmels, den du nun tatsächlich über dir siehst, denn deine Kammer öffnete sich der Nacht und gab den Blick frei.
In Leopardengestalt läufst du zur Pyramidenspitze, die wie Gold bei Nacht in deinen Augen leuchtet, springst hinauf.
Dort unten sitzen deine kleinen Vettern, Miu - Mau - Katzen, im Kreis und schauen zu dir auf.
Du aber nimmst Platz auf deinem Thron, der einst ein goldüberzogener Stein war und noch immer die Spitze der Großen Pyramide ist, doch hat sie sich längst unter deinen Pfoten verbreitert und in warmes, pulsierendes Leben verwandelt.
Chabas ist der Name des Sternenhimmels, den du niemals zuvor so klar sahst, die du dich im Kreis nun drehst und deinen Menschenkörper wählst.
Jetzt siehst du mit geschlossenen Augen, was vor langer Zeit geschah: Einst vor Äonen, als hier noch keine Bauten standen, damals, als Afrika immer trockener wurde, öde und leer, als die letzten Vertreter des Menschen der Art Homo sapiens, wie er sich selbst später so arrogant nennen sollte - sapiens = wissend, weise, hahaha! -, als die letzten und die besten zu überleben suchten und es schafften - denn sie sind deine fernen Ahnen, einst vor 100 000 Jahren saß einer von ihnen, ein Mann nicht fern von seiner Frau und seinem Kind, seiner kleinen Sippe, einst saß er hier an diesem Ort und sah empor. Heiß war es auch damals hier bei Tag, doch nicht in der Nacht. So saß er da in Fell am Feuer, das ihn wärmte und sah hinauf in das Funkeln der Sterne, verharrte bis zum Morgengrauen, während die anderen schliefen.
Du siehst es in dir, du weißt, dass es so war. Du öffnest deine Augen und denkst: Vielleicht weilte auch Er Dort Oben einmal hier, an diesem Ort und doch nicht hier, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort in einer anderen Welt und doch hier ganz in der Nähe?
„Ja“, flüstert Seine Stimme in dir, „auch ich stand einst bei den Pyramiden, da war es Tag. Und doch erinnere ich mich an den Nachthimmel, den ich abends erst auf der Rückfahrt nach Kairo hin zum Schiff der Reisegruppe sah. Ich schaute den Sternenhimmel über der Wüste nur für einen Augenblick und vergaß ihn nie mehr.“
Und deshalb bin auch ich nun hier?, fragst du dich. Oder träumst du noch immer, träumst nur, hier zu sein und ziehst noch immer mit der Karawane dahin? Du schließt deine Augen, springst empor und fällst – nicht hinab, siehst drei Zeichen golden in der Schwärze erstrahlen:
Ein Baldachin mit einem Zepter darunter. Drei Wellen übereinander. Eine Landzunge mit Sandkörnern darunter.
Dann ist da noch ein Wort, nicht als Zeichen geschrieben - die Stimme flüstert es in dir: