Und schließlich die Krankheit, die nicht aus dem immer noch leistungsbereiten Körper zu vertreiben ist.
Dazu die Angst, dass die Krankheit früher oder später die Oberhand gewinnt.
Jede einzelne dieser Ursachen konnte man leicht bekämpfen oder zumindest hinnehmen und sich damit arrangieren. Aber auf eine verhängnisvolle Art und Weise versammelten sie sich alle unter einem Dach, griffen mit ihren klebrigen Tentakeln ineinander und begannen, widrige Wellen der Angst und Unsicherheit zu verströmen.
Alexander sorgte sich, dass Frau und Kinder ihn als Familienoberhaupt nicht wirklich anerkannten, weil er zu Hause blieb und nicht arbeiten ging, wie es sich für einen Mann gehörte. Er befürchtete, dass seine Frau sich seinetwegen vor ihren Verwandten schämte. Er hatte Angst, wieder einmal von seinen Kindern zu hören: „Papa, warum arbeitest du nicht?“ Die Angst zerriss sein Herz bei dem Gedanken, dass er seine junge schöne Frau im Bett nicht befriedigen konnte. Er fürchtete sich davor, dass sie einen Seitensprung haben könnte. Er fürchtete sich, sie zu verlieren. Er begann, Angst vor seinen Ängsten zu entwickeln.
Als Grischa in die erste Klasse ging, bekam Leyla mit etwas Glück Arbeit als Lageristin im Fertigwarenlager der örtlichen Kartonagenfabrik. Auf diese Arbeitsstelle, von der sie von ihrer Nachbarin Fatima wusste, hatte sie mehr als ein Jahr gewartet. Fatima stand kurz vor ihrer Rente und legte ein Wort für Leyla bei ihrem jungen Vorgesetzten Amir ein. Er hatte nichts dagegen, Leyla einzustellen, und nun wartete sie geduldig, bis Fatima ihre letzten Wochen vollendete. Lageristin war natürlich etwas anderes als Buchhalterin, aber sie hatte immerhin Arbeit. Etwas Besseres war nicht in Sicht.
Nachdem Leyla dann zwei Monate bei der neuen Stelle beschäftigt war, kam es zwischen ihr und dem Vorgesetzten zu einem für sie unerwarteten Gespräch.
„Wie ist deine Arbeit? Bist du nicht unterfordert?“, fragte der Vorgesetzte und lächelte, als Leyla ihm die Quartalsbestandsliste zur Unterschrift brachte.
„Es gibt Arbeitsstellen, die anspruchsvoller sind“, antwortete sie aufrichtig.
„Du verstehst doch, dass gute Arbeitsplätze heiß begehrt sind.“ Amir betrachtete seine Mitarbeiterin aufmerksam, dann schaute er zur Seite und setzte vorsichtig fort:
„Es gab übrigens sehr viele Bewerberinnen für deine Stelle, ich habe aber dich allen anderen vorgezogen.“
„Diese Arbeit hatte mir Fatima versprochen“, sagte Leyla verwirrt.
„Sei nicht so naiv!“, lachte der Vorgesetzte. „Ich alleine entscheide, wer hier arbeitet und wer nicht. Wenn du aber etwas zärtlicher zu mir bist, brauchst du keine Entlassung zu befürchten.“
Einfältig war Leyla nie gewesen. Sie begriff sofort, wovon Amir redete. Dieses Gespräch verschwieg sie aber ihrem Mann, da sie vernünftigerweise die ohnehin angespannte Ehe nicht weiter strapazieren wollte.
So wurde sie die Geliebte ihres Vorgesetzten, ohne irgendwelche Gefühle außer Ekel ihm gegenüber zu empfinden. Arbeit zu haben war für sie wichtiger als einige Minuten schneller Kopulation zu ertragen, nach der Amir sie bis zum nächsten Mal in Ruhe ließ.
Bei der Arbeit erholte sie sich seelisch von der drückenden Atmosphäre zu Hause. Der Sohn war außer Rand und Band und hörte kein bisschen auf die Mutter, lediglich mit der Tochter verstand sie sich gut. Alexander begann, dem Alkohol zuzusprechen, und Leyla konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum letzten Mal berührt hatte. Alexander war ihr erster und einziger Mann gewesen, bis Amir sie zu seiner Liebhaberin gemacht hatte. Erst jetzt verstand sie, was für ein schwacher Mensch ihr Mann war. Sie liebte ihn und verzieh ihm sein männliches Unvermögen, aber sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er zu trinken begann. Sie bat, sie flehte ihn an, schimpfte, drohte, aber es half nichts: Alexander war immer häufiger betrunken.
Nach einer gewissen Zeit war es Leyla egal. Sie lebte nun in einer ihr selbst unbegreiflichen und seltsamen Welt: Der Mann, den sie über alles liebte, schlief nicht mit ihr und trank. Der Mann, den sie hasste und fürchtete, trank nicht und schlief mit ihr. Sie konnte daran nichts ändern.
Eines Tages wurde in der Fabrik ein großes Fest mit Musik und Buffet zur Begrüßung des neuen Betriebseigentümers aus Moskau veranstaltet. Michail Sokol, wie der neue Chef hieß, hatte die Kartonagenfabrik gekauft. Die Fabrik hatte zuvor der Stadt gehört, bevor diese nicht mehr genügend Aufträge zur Auslastung der Arbeitskräfte hatte beschaffen können. Der neue Boss dagegen brachte in der Aktentasche einen Stapel von Verträgen mit, die für die Produktion in den nächsten fünf Jahren ausreichen sollten.
Ob es Schicksal oder Zufall war, bleibt dahingestellt, aber als Michail bei dem Fest die schöne Leyla sah, war er dermaßen verzaubert, dass er mehrere Tänze mit ihr tanzte, obwohl er noch nie sentimental gewesen war. Er war jung, kräftig, selbstsicher, sodass Leyla sich in ihn verliebte. Es kam zu einem Verhältnis, von dem nur sie beide wussten. Als Leyla Amir davon erzählte, trat er verständnisvoll zur Seite. Jetzt hatte er Angst um seinen Arbeitsplatz. Die Gefühle, die zwischen Leyla und Michail entstanden, waren so stark, dass die beiden nach einem Jahr unregelmäßiger Telefonate und seltener Treffen beschlossen, zusammenzuziehen. Die Geliebten verabredeten, dass Michail bei seinem nächsten Kommen Alexander alles selbst erklären und Leyla mit ihrer Tochter nach Moskau mitnehmen würde. Der Sohn sollte vollkommen frei entscheiden, bei wem er bleiben und wo er leben wollte.
Diese Pläne sollten allerdings nie verwirklicht werden. Einen Tag vor Michails erwarteter Ankunft wurde Leyla zu Amir gerufen. Er schloss die Tür und bat die junge Frau, sich zu setzen.
„Michail wird nicht kommen. Ich habe gerade einen Anruf erhalten. Man sagte mir, dass er überfallen worden ist. Er wurde schwer verletzt und starb.“ Amir erhob sich vom Stuhl, näherte sich der bewegungslos dasitzenden Frau und legte seine Hand auf ihre Schulter. „Glaub mir, es tut mir leid, Michail war ein echter Kerl.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Du verstehst doch, dass es zwischen uns wieder so laufen wird wie früher. C’est la vie!“
Und so lief das Leben auf der bekannten Schiene weiter und überrollte abermals die unglückliche und unverstandene Frau.
Die Situation zu Hause war nach wie vor gespannt. Ihr Mann zog sich zurück und lebte in einer nur ihm verständlichen Welt. Die Kinder erreichten das Alter, in dem sie alles selbst entschieden, zumal sie die Hilflosigkeit ihrer Eltern spürten.
Um das Verhältnis zu ihrem Sohn zu verbessern, der seit Langem nicht mehr mit ihnen sprach, unternahmen Leyla und Alexander einen Annäherungsversuch und organisierten zu seinem neunzehnten Geburtstag eine Feier. Viele Gäste waren gekommen, aber mitten im Fest verschwand Grischa unbemerkt und kam erst am nächsten Tag nach Hause zurück. Als Leyla von der Arbeit heimkehrte, teilte Alexander ihr mit, dass der Junge wegen des Verdachts seiner Teilnahme an der Vergewaltigung eines dreizehnjährigen Mädchens aus der Nachbarschaft festgenommen worden war. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung, und nach einem halben Jahr wurde Grischa zu vier Jahren Haft verurteilt.
Bei all dem Kummer merkte Leyla zu spät, dass auch Polina sich stark veränderte. Das Mädchen war kaum zu Hause und hatte neue Freunde.
„Polina, Liebes, man trifft dich kaum zu Hause. Wo bleibst du denn, was machst du, mit wem bist du befreundet? Du erzählst nie etwas.“ Die verzweifelte Mutter versuchte, den Vorhang des Schweigens zu öffnen.
„Bei mir ist alles in Ordnung“, erklang die übliche Antwort, hinter der das neue Leben der Tochter, von dem niemand etwas wusste, verborgen blieb.
Als Leyla endlich merkte, warum ihre Tochter sich so stark verändert hatte, war es schon zu spät: Polina hing an der Nadel. Für die Mutter bedeutete dies den nächsten Kreis der Hölle. Sie musste dringend eine Klinik finden, die dem Mädchen helfen konnte, ihre Drogensucht zu überwinden. Mit äußerster Mühe konnte die Tochter in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik untergebracht werden. Leyla hatte immer weniger Kräfte, all das Unglück, das sie verfolgte, abzuwehren.
Im Laufe der Jahre, in denen Leyla mit Amir verkehrte, verflüchtigte sich allmählich ihr Hass ihm gegenüber. Nach Michails Tod begann sie sogar Spaß an ihren Treffen zu empfinden.