Er trat an das Bettchen heran, beugte sich zu dem schlafenden Baby und berührte nur leicht, um es nicht zu wecken, sein Köpfchen. Dann drehte er sich zu Leyla, umarmte sie, presste sie an sich und sagte: „Ich bin ausgemustert. Wir fahren nicht nach Petersburg. Wir bleiben hier. Hier sind unser Sohn und unsere Familie.“ Alexanders Umarmung wurde immer fester. Dann spürte Leyla auf ihrer Wange etwas Heißes fließen, das auf der Haut eine brennende Spur hinterließ. Sie war durcheinander, stand unbeweglich da und wusste nicht, was sie tun sollte. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand sie vor einem weinenden Mann.
Nachdem Leylas Eltern von dem Urteil der Ärzte erfahren hatten, versuchten sie, so gut sie es konnten, dem jungen Paar zu helfen, das Unglück zu verkraften. Mit der Erfahrung ihres Alters wiederholten sie immer wieder:
„Die Hauptsache ist, dass ihr einander liebt. Ihr habt einen prächtigen Sohn, ihr habt ein Haus, das ihr nicht erst zu bauen braucht, ihr müsst nicht einmal etwas für das Haus kaufen. Es gibt nicht viele Menschen, die ihr gemeinsames Leben in solch einem Wohlstand beginnen, wie ihr. Das Meer werdet ihr euch zwar aus dem Kopf schlagen müssen, aber für geschickte Hände gibt es immer und überall Arbeit.“
So begann für Alexander ein vollkommen neues Leben – ohne das Meer, ohne Freunde, ohne seine geliebte Arbeit, aber mit der geliebten Frau und einem Sohn.
Um sich von den Gedanken an das Leben in Petersburg abzulenken, konzentrierte er sich auf seine kleine Familie. Das Haus der Großmutter Irina, in das sie eingezogen waren, musste schon seit Langem renoviert werden, der Garten war ebenfalls verwildert. Um das alles in Ordnung zu bringen, brauchte man Zeit und Energie. Als der kleine Grischa, der so in Erinnerung an Leylas Urgroßvater genannt worden war, anderthalb Jahre alt war, bekam er ein Schwesterchen. Leyla bestand darauf, dass ihre Tochter den Namen Polina bekam. Alexander wäre sicher viel glücklicher, wenn er jedes Mal den Namen seiner Großmutter hörte und denken könnte, dass die geliebte Oma nicht gestorben sei, meinte sie.
Die Kinder wurden mit der Zeit größer, Alexander konnte jedoch immer noch keine passende Arbeit finden. Er war ein Marineoffizier und kannte sich mit Atomreaktoren, Dieselmotoren, der Navigation und ähnlicher Materie aus. Dies aber war in einem kleinen kaukasischen Städtchen absolut wertlos. Die finanzielle Lage seiner Familie war im Vergleich mit anderen jungen Familien indes recht gut. Alexander erhielt eine anständige Pension und zusammen mit der Rente der Großmutter Irina reichte das Geld vollkommen aus, zumal sie keine Sonderausgaben für Theater- und Kinobesuche oder Reisen hatten und das im Garten wachsende Obst und Gemüse verzehren konnten. Leyla musste auf ihre Arbeitsstelle als Archivarin verzichten, da zwei kleine Kinder und eine alte Oma Aufmerksamkeit und Pflege brauchten, sodass die Zeit für nichts anderes reichte.
Als die kleine Polina drei Jahre alt war, starb Irina Pawlowna. Zwei Monate nach diesem traurigen Ereignis stellte sich nun erneut die Frage nach Leylas Berufstätigkeit.
„Meine Pension wird reichen, wenn wir sparsam leben“, versuchte Alexander seine Frau zu überzeugen. Er, ein noch junger Mann, hasste das Wort „Pension“ in Verbindung mit seiner Person. „Ich werde versuchen, irgendeine Arbeit zu finden, damit du zu Hause bei den Kindern bleiben kannst.“
„Alex, Schatz, du suchst seit vier Jahren Arbeit, du kennst unsere Stadt besser, als sie sich selbst kennt. Es gibt hier einfach keine Arbeit für dich, die deinem Niveau nur halbwegs entspricht. Dagegen kann man nichts machen, also muss ich arbeiten gehen und du passt auf das Haus und die Kinder auf.“
Diesem Argument seiner Frau konnte Alexander schwer etwas entgegenhalten. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass das kulturelle Petersburger Leben für ihn wohl für immer unerreichbar blieb und dass er anstatt des Mariinski-Theaters, das er früher alle zwei bis drei Monate besucht hatte, nur die Konzertübertragungen im Fernsehen hören konnte. Bis zu regelrechten Herzschmerzen vermisste er allerdings Petershof mit seiner Architektur, die ihn immer begeistert hatte, die vergoldeten Skulpturen, die geometrischen Linien der Parks, die Kaskaden zahlreicher Wasserspiele. Von Petersburg vermisste er vor allem das Schiffchen an der Spitze der Admiralität, das er sich viele Male im Vorbeigehen angeschaut hatte. Aber am meisten vermisste er die Eremitage, seine große, allumfassende Liebe, die Eremitage, die sich entlang des Newa-Ufers erstreckte, mit ihrer Hauptkrone, dem Winterpalais, elegant eingefügt in das Gesamtbild des Schlossplatzes. Wenn er an die unbeschreiblich schönen Gemälde großer Meister zurückdachte, und besonders an Rembrandts „Danae“, das Bild, vor dem er früher stundenlang gestanden hatte, traten ihm Tränen in die Augen. Dieses Gemälde war ihm besonders in Erinnerung geblieben, weil die darauf dargestellte liegende Frau unfassbar seiner geliebten Ehefrau ähnelte. Und wenn der ehemalige Marineoffizier an den U-Boot-Unfall dachte, der wegen Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit eines seiner Kollegen passiert war und der ihm seine Zukunft geraubt hatte, wurde ihm richtig schlecht.
Alexander konnte das alles seiner Frau nicht erklären. Sie war geboren und aufgewachsen in einer ganz anderen Welt, sie war in eine andere Schule gegangen, sie hatte andere Interessen, sie sah dieselbe Umgebung mit ganz anderen Augen. Jene Kenntnisse, Fertigkeiten, Vorlieben und Interessen, die er sich in einer pulsierenden Großstadt angeeignet und entfaltet hatte, hatte sie in ihrem kleinen Provinznest nicht entwickeln können. Und Alexander schaffte es nicht, diesen Unterschied in ihrer Weltsicht zu überbrücken.
Das bedeutete keinesfalls, dass er Leyla für dumm hielt oder dass sie ihn langweilte. Im Gegenteil, ihr feuriger, temperamentvoller Charakter, ihre Ausgelassenheit, ihr Querdenken versetzten ihn nach wie vor in Erstaunen. Aber sie teilte seine Interessen nicht und fand, dass es spannendere Beschäftigungen gebe als das „Lesen langweiliger Bücher“. Leyla war gerne in der Natur. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Kochen schmackhafter Gerichte, um ihrer Familie Freude zu machen. Das Haus war immer blitzeblank sauber. Mit diesem Aspekt ihres gemeinsamen Lebens war Alexander mehr als zufrieden.
Nach einigen Jahren aber, als die Kinder größer geworden waren und die Eltern mehr Zeit füreinander hatten, merkte Alexander immer häufiger, dass es ihm immer schwerer fiel, sich mit Leyla zu unterhalten. Früher hatten sie einfach keine Zeit für Gespräche gehabt, doch jetzt, als ausreichend Zeit da war, stellte sich heraus, dass sie keine gemeinsamen Themen fanden, die beide wirklich interessierten.
Im Grunde genommen hatten Leyla und Alexander keine Zeit gehabt, einander ausreichend kennenzulernen: Sie hatten sich zwei Mal getroffen und beim dritten Mal die Entscheidung getroffen, zu heiraten. Zwischen ihrer ersten Begegnung und der Brautnacht war nur ein Monat vergangen. In einer so kurzen Zeit ist es unmöglich, alles voneinander zu erfahren, und es ist auch nicht so wichtig, denn wenn man verliebt ist, hat man ganz andere Gedanken im Kopf. Nach der Hochzeit hatten sie die körperliche Seite der Liebe kennengelernt, diejenige, die erst nach Sonnenuntergang zum Vorschein kommt. Sie waren damals jung und ineinander verliebt gewesen, sie hatten einander leidenschaftlich geliebt und in ihrer Leidenschaft keine Gespräche vermisst.
Nun dachte Alexander immer häufiger auch über diese Seite ihrer Beziehung nach. Er verstand immer weniger, was zwischen ihm und Leyla geschah. Er horchte in sich hinein und begriff, dass er sich zu seiner Frau weniger hingezogen fühlte als früher. Warum? Diese Frage konnte Alexander nicht beantworten. Er wusste, dass er sie genauso stark liebte wie früher, aber trotzdem suchte er sich jetzt abends immer wieder eine Beschäftigung, damit er nicht gleichzeitig mit Leyla ins Bett gehen musste. Sie war nach wie vor eine temperamentvolle Frau und forderte von ihrem Mann ihre tägliche Portion Liebe. Für ihn hingegen wurde es immer schwieriger, ihren Appetit zu sättigen.
Alexander suchte die Ursache für die Verweigerung seiner Männlichkeit überall, aber nicht dort, wo sie wirklich steckte. Sie lag tief verborgen in seinem Unterbewusstsein, dort, wohin kein einziger Sonnenstrahl dringt, um die dunklen Ecken dieser Sammelstelle für Ängste auszuleuchten, um sie zu vertreiben, wie sogar der leichteste Wind Wolken vertreibt, die die Sonne verdecken.
Ein tapferer Marineoffizier, der Pension bezieht.
Ein Petersburger, der in einer Provinzstadt mit einer ihm unbekannten und fremden Kultur lebt.
Ein Mann in den besten Jahren, der gezwungen ist, zu Hause