Der Kruse. Burkhard Simon. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Burkhard Simon
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752977813
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sie unternahmen aber andererseits auch nichts, um mich wissen zu lassen, dass ich in ihrer Mitte willkommen war. Genau genommen nahmen sie mich überhaupt nicht zur Kenntnis. Weder mich, noch meine gelegentlichen Versuche, um Ruhe zu bitten. Meine völlig zugedröhnten Nachbarn feierten, als sei es der letzte Tag vor dem Weltuntergang. Ich erinnere mich daran, ein Mitglied des Kegelclubs auf dem Gang getroffen zu haben. Ich erinnere mich auch, dass ich ihm fest in die Augen sah und ihm mit drohendem Zeigefinger sagte, dass sich außer den Mitgliedern von „Schwung Hält Jung 1973 e.V.“ noch andere Reisende im Zug befänden, die vielleicht ein wenig Ruhe bräuchten.

      Der Kegler (übrigens sehr hübsch geschmückt mit einer gehäkelten Klopapierhaube als Mütze auf dem Kopf) schien sehr betroffen von der Nachricht. Er entschuldigte sich kumpelhaft für die Unachtsamkeit seiner Kollegen und drückte mir eine Dose Bier in die Hand.

      »Für dich, Alter! Sorry, ich dachte, wir hätten den ganzen Wagen gebucht! Einfach Gummi geben, Alter! Heute treten wir mal ordentlich auf den Pinsel, was?«

      Dann fing er an, seine Hymne zu grölen (»Sieh die Kegel, wie sie fliegen, Schwung Hält Jung spielt um zu siegen...«) und schwankte hinfort in Richtung Barwaggon.

      An diesem Punkt begann ich, mir ernsthaft Gedanken über das Vergehen der Zeit zu machen. Ich war um 10:45 Uhr in Frankfurt gestartet und obwohl ich gute zehn Stunden in der Luft verbracht hatte, war ich schon um 14:50 Uhr gelandet!

      Unfassbar, oder?

      Das bedeutete, dass ich in dem Moment, in dem ich schließlich beschloss, meinen Widerstand aufzugeben und einfach mitzufeiern, zwar schon seit achtundzwanzig Stunden unterwegs war, aber nach amerikanischer Zeit noch immer den fünfzehnten August erlebte. Ich hatte noch immer Geburtstag!

      Ich öffnete das Bier, nahm einen Schluck und stellte überrascht fest, dass ich eigentlich – obwohl todmüde – innerlich ziemlich aufgekratzt war. Ich stand wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Gang vor den Schlafkabinen und fühlte mich ganz schön hibbelig und nicht in der Stimmung, wieder in meine Koje zu klettern, um dort auf den nächsten Durchmarsch der singenden und lachenden Kegelbruderschaft zu warten.

      Ich folgte dem Mann mit dem Klopapierhut auf dem Kopf in den Barwaggon.

      Die nächsten Stunden bilden in meiner Erinnerung ein eher schwammiges Bild aus fremden Gesichtern, gelallten Freundschaftsbekundungen und stickiger Luft. Ich gebe zu, dass ich mich an die meisten Einzelheiten dieser Nacht bestenfalls bruchstückhaft erinnern kann. Irgendwann wurde ich Zeuge davon, dass ein gewisser Günther, nachdem er ein Trinkspiel namens „Dumme Sau“ verloren hatte, ein Glas lauwarmes Hotdog-Wasser auf ex trinken musste, aber viel mehr ist mir nicht in Erinnerung geblieben.

      Was soll´s? Ich war tausende von Meilen von Zuhause entfernt über einen Duisburger Kegelclub gestolpert! Hätten Sie das vielleicht nicht gefeiert? Noch dazu an Ihrem Geburtstag?

      Am nächsten Morgen trug ich selbst den gehäkelten Klopapierüberzug, war frischgebackenes Ehrenmitglied der Kegelbruderschaft Schwung Hält Jung 1973 e.V. und fühlte mich dementsprechend elend, ganz so, wie es sich für ein neu aufgenommenes Ehrenmitglied gehört. Der Zug ratterte im frühen Licht des neuen Tages noch einige Meilen in Richtung Meer, während meine neuen Freunde und ich versuchten, vor der Ankunft im Bahnhof wieder zurück in unsere Köpfe zu finden.

      Als wir am Hafen ankamen, befand ich mich genau an der Position, an der der abklingende Suff den aufsteigenden Kater begrüßt. Der Check-In gestaltete sich schwierig, da ich vor dem Verlassen des Zuges meine Jacke gewechselt hatte und beim Versuch das Ticket aus der anderen Jacke zu holen meinen Koffer auseinandernehmen musste. Der junge Mann am Schalter versuchte heldenhaft, nicht zu bemerken, in welchem Zustand sich der dämliche Deutsche befand, der, vor ihm hockend, inmitten seiner verstreuten Klamotten nach dem Ticket suchte. Als aus der Schlange, die sich hinter mir gebildet hatte, die ersten Rufe nach Security, der Polizei, der Nationalgarde und halbautomatischen Schusswaffen laut wurden, stellte ich schließlich fest, dass ich den verdammten Zettel die ganze Zeit über in der Gesäßtasche meiner Jeans mit mir herumgetragen hatte. Nach diesem holprigen Start wurde ich schließlich und endlich an Bord gelassen.

      Ich war endlich angekommen. Auf der Sonne des Südens und auch mitten darin.

      Meine Kabine war einfach der Hammer.

      Ich beschloss alles, was mich an mein Zuhause erinnerte, zunächst einmal komplett hinter mir zu lassen. Die einzige Erinnerung an Bonn, die ich noch immer mit mir herumtrug, war ein hässlicher blauer Fleck am verlängerten Rückgrat, den mir Rasputin beschert hatte, als ich Carola Reimann für die Dauer meiner Abwesenheit die Schlüssel für mein Haus überreichen wollte. Scheinbar hatte er mich – in der Nacht, als ich sein Frauchen mit mutig herausgestrecktem Bauch zu ihrer Meinung im Bezug auf meine erotische Ausstrahlung befragte – ins Herz geschlossen. Als Carola die Tür öffnete, sprang er mich winselnd an, und ich setzte mich unsanft auf einen Kanaldeckel, durch den die eben erwähnten Schlüssel fielen und für immer in den Tiefen der Bonner Kanalisation verschwanden. Dass Rasputin damit für meine Topfpflanzen das Todesurteil unterschrieben hatte, war ihm dabei wahrscheinlich so unbewusst wie egal.

      Abgesehen von meinem schmerzenden Hintern war ich schon fast wieder der Alte. Mein Ellenbogen hatte sich ganz gut erholt, und mein Zeh hatte schon fast wieder seine Originalfarbe angenommen. Nachdem ich meine Sachen notdürftig verstaut hatte, beschloss ich, mich erst mal ein wenig lang zu machen, denn die Zugreise inklusive der Aufnahme in den Club der partyfesten Kegelbruderschaft, hatte mich ganz schön mitgenommen.

      Ich zog meine Schuhe an (eine neue Angewohnheit, die ich noch immer in vollen Zügen genoss), streckte mich in meiner Koje aus und schaute durch das Bullauge hinaus auf die Hafenmündung. Schon bald würde das Schiff durch diese Mündung hindurchfahren, würde aus allen Hörnern ein tiefes, wohlklingendes Signal ertönen lassen und dann würde es Kurs auf die Karibik nehmen, Robert Kruse an Bord.

      »Ahhh...«

      »Wir werden in wenigen Minuten ablegen. Die Crew bittet alle Besucher und Anlieferer, nun das Schiff zu verlassen. Vielen Dank.«

      Die Durchsage wurde in mehreren Sprachen wiederholt, doch ich bewegte mich nicht von der Stelle. Ich war kein Besucher oder Anlieferer. Ich durfte bleiben. Und mein Aufenthalt hier hatte gerade erst begonnen.

      »Ahhh...«

      Ich wartete noch weitere fünf Minuten ab und machte mich dann auf den Weg zum Oberdeck, um das Auslaufen der Sonne des Südens live und in Farbe mitzuerleben.

      Auf den Gängen herrschte noch immer geschäftiges Gedränge. Menschen liefen hin und her, suchten auf Karten nach kleinen roten Punkten, über denen „Sie sind hier“ steht, Passagiere beweinten den plötzlichen Verlust ihres Gepäcks, kleine Kinder beweinten den Verlust ihrer Eltern, Koffer wurden von A nach B getragen, und freundliche Stewards standen in Uniformen mit blitzblank polierten Knöpfen inmitten des Chaos und erteilten bereitwillig Auskunft über den schnellsten Weg zum Fundbüro, zur Krankenstation oder zur Beschwerdestelle des jeweiligen Reiseveranstalters.

      Die ganze Situation war so mit Leben und Betriebsamkeit erfüllt, dass ich Lust bekam, ein Weilchen einfach nur dazustehen und die Show zu genießen.

      Am anderen Ende des riesigen Raumes (unglaublich, dass ich mich tatsächlich auf einem Schiff befand...) befand sich eine Sitzecke, gemütlich eingerahmt von mehreren großen Topfpflanzen. Mein Weg dorthin führte mich durch das Gedränge gestresster Urlauber und, ein paar Meter weiter, an den Fahrstühlen vorbei.

      Die Tür einer der Kabinen öffnete sich gerade, als ich vorbeiging. Eine Frau stolperte, beladen mit Bergen von Gepäck, aus dem Lift. Sie trat auf den Schultergurt einer ihrer abgestellten Taschen, drohte zu stürzen, fiel vornüber und landete denkbar unsanft in meinen Armen. Einer ihrer Koffer fiel auf meinen blauen Zeh, sie hielt sich reflexartig an meinem Jackett fest, riss mir den Kragen ab, kam wieder auf die Beine und hielt mir schließlich – mit dem unschuldigsten Blick seit Bambis Geburt – das Stück Stoff entgegen, welches noch bis vor gut einer Sekunde das Revers meiner besten Jacke gewesen war.

      Während der nächsten Sekunden wurde nicht viel gesprochen.

      Ich