Molban ließ einen Detektivblick über Hütte und Umgebung gleiten. Er lauschte einen Augenblick, ehe wir hingingen. Automatisch ließ ich ihm den Vortritt, als hätten wir seine Sphäre betreten, in der ich nur geduldeter Gast war. Er klopfte, denn es gab keine Klingel.
Nichts rührte sich.
»Herr Eschenbach? Wir sind von Ruchling & Suttner.«
Wieder lauschte er. Dann klopfte er noch einmal.
Schließlich probierte er die Klinke. Die Tür war unverschlossen und er öffnete sie mit leisem Knarren.
Dahinter war es stockdunkel und still.
»Herr Eschenbach?«
Molban trat in die Hütte und ich folgte ihm. Am liebsten hätte ich seine Hand gepackt.
Im gleichen Moment, in dem er nach dem Lichtschalter tastete, flammte eine Lampe auf und blendete uns.
Als ich wieder sehen konnte, sah ich Eschenbach in einem Sessel hinter einem Schreibtisch sitzen. Eine Hand lag auf dem Schalter einer Tischleuchte, mit der anderen zog er sich Ohrstöpsel aus den Ohren.
»Kommen Sie rein. Ich war nur eingenickt.«
Er trug wieder einen Anzug, diesmal allerdings knitter- und rauchfrei, dazu ein fliederfarbenes Einstecktuch.
Er stand auf und gab uns die Hand. »Erstaunlich für einen Paranoiker, nicht wahr?«, sagte er, noch leicht schläfrig. »Bei unverschlossener Tür einzunicken in einer Hütte im tiefsten Wald. Aber nicht mal meine Frau kennt mein Refugium und ich fühle mich inzwischen unter Pflanzen und Tieren sicherer als unter Menschen.«
»Das mit dem Paranoiker bleibt ja unter uns«, scherzte ich, sobald ich mich von dem Schock erholt hatte. »Darf ich Ihnen Herrn Doktor Molban vorstellen? Er arbeitet schon lange erfolgreich als Ermittler für die Kanzlei.«
Molban sollte jetzt mit unterwürfigem Grinsen die Hand seines potenziellen Brötchengebers schütteln. Stattdessen streckte er sie abwesend hin, als reichte er das Salz bei Tisch, und beäugte einen merkwürdigen verspiegelten Koffer auf dem Schreibtisch.
»Schönes Stück, das da«, murmelte er anerkennend.
Jetzt erst bemerkte ich, dass die Verspiegelung aus Hunderten von rautenförmigen Metallplättchen bestand.
»Nicht wahr?« Eschenbach lächelte. »Ich habe ihn von einem Goldschmied in Aleppo anfertigen lassen.«
Molban strich bewundernd über das Metall des Koffers.
»Was für ein Doktor sind Sie, wenn ich fragen darf?«, unterbrach Eschenbach seine Andacht. Wahrscheinlich hatte er sich unter einem Detektiv einen schwiemeligen, nach Tabak stinkenden Lederjackenträger vorgestellt.
»Philosophie«, sagte Molban nur. Weiteres schien er für unnötig zu halten.
Zu Recht. Denn Eschenbach lüpfte eine Augenbraue. »Philosophie, das trifft sich! Ich wollte Ihnen sowieso was zeigen. Nicht, um Sie zu überzeugen, sondern damit Sie mich verstehen. Sagen Sie mir, Herr Molban: Glauben Ihre Philosophen, dass zwei und zwei stets vier ergeben muss?«
Ich hätte jetzt gerne die Augen verdreht. Stattdessen bewunderte ich ein Hirschgeweih an der Wand.
Molban sagte dagegen lediglich: »Zum einen, Russell und Whitehead haben es in den Principia Mathematica bewiesen. Andererseits gibt es eine Linie des Skeptizismus, Descartes, sein Zweifel, ob wir mehr wissen können, als dass wir existieren. Aber die meisten glauben an einen, sagen wir, technologischen Erfolgsbeweis. Wenn uns die Mathematik in die Irre führte oder ungenau wäre, dürften weder Flugzeuge fliegen noch Schiffe schwimmen. Und wenn ich zwei und zwei Stück Kuchen gegessen habe, bin ich jedenfalls exakt so satt wie nach vieren. Sie nicht?«
»Durchaus«, gab Eschenbach zu. »Vorausgesetzt, die Stücke wären jedes Mal gleich groß.«
Er verschwand kurz in einem Nebenraum. Als er zurückkehrte, trug er zwei Brücken unter dem Arm. Er rollte den ersten Teppich vor uns aus, zog einen kleinen Kamm aus der Jacke und glättete mit ihm sorgsam die Fransen. »Ein junger Kayersi, nur zweitausend Knoten. Er hat keinen besonderen Wert. Außer für mich.«
Tatsächlich war es ein stinknormaler Teppich in Rot und Braun, mit geometrischen Formen in der Mitte und wabenförmigen Mustern am Rand. Eschenbach kniete sich jedoch neben ihn und fuhr mit der Hand die Waben in der Bordüre nach. »Mit bloßem Auge können Sie es nicht erkennen. Aber man kann es messen. Jede Wabe hat minimal unterschiedliche Seitenlängen. Ein oder zwei Knoten. Ich nenne es: die Unschärfe.« Er sah hoch und fixierte uns. »Das Entscheidende ist: In Summe über die Bordüre wiederum ergibt sich ein exaktes Verhältnis von sieben zu vier zwischen den Längs- und Querseiten der Waben.«
Das war sie also, Eschenbachs außerirdische Mathematik. Ich warf einen verstohlenen Blick zu Molban, der mit Pokermiene und leicht gerunzelter Stirn dasaß. Eschenbach schwieg erwartungsvoll und Molban sagte schließlich: »Sie meinen, diese ›Unschärfe‹ ist berechnet? In Summe ergibt sie wieder eine vollkommene Präzision?«
»Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen.« Eschenbachs Augen leuchteten auf. Er sprang auf und rollte die zweite Brücke ab. Rautengitter mit stilisierten Blüten. »Beachten Sie die Linien des Gitters! Sie sind nicht hundertprozentig parallel, sondern verschieben sich um ein bis drei Knoten. Doch auch hier ergibt sich wieder ein exaktes Verhältnis über die Summe. Die Innenflächen weisen immer einen von genau zwei Werten auf.«
Eschenbach setzte sich schwer atmend. »Ich nenne es eine annähernde Mathematik. Erst am Ende eines komplexen Algorithmus ergibt sich ein exaktes Ganzes. Das hier sind nur die einfachsten Beispiele. Und deshalb glaube ich, dass für … sie einmal zwei und zwei nicht genau vier ergibt, sondern ungefähr. Erst viele Male hintereinander ergibt sich ein exaktes Vielfaches von vier.«
»Aber was ist der Sinn?«, entfuhr es mir.
Eschenbach sah mich an. »Nicht der Sinn, sondern die Sinne, Frau Pfennig! Ich stelle sie mir vor wie Insekten. Daher keine Quadrate, sondern Waben … Und ihr am besten entwickelter Sinn ist statt des Sehens der Geruch.«
Eschenbachs Blick schoss zwischen uns hin und her. »Verstehen Sie den Unterschied? Das Auge ist binär: Entweder ein Gegenstand ist da oder nicht, entweder er war da oder er ist noch da. Sein, Nichtsein, Vergangenheit, Gegenwart: Alles ist getrennt. Die Raumlage eines Objekts – das stereoskopische System kann sie exakt bestimmen. Unsere ganze Mathematik, denken Sie an Euklid, hat sich aus an-schau-licher Augen-Mathematik entwickelt.« Er schwieg für einen Moment.
»Was aber«, fuhr er schließlich fort, »wenn das wichtigste Sinnesorgan die Nase wäre? Ein Geruch hinterlässt immer eine Spur, die mit der Zeit verblasst. Nur an der Stärke könnten wir entscheiden, ob unsere Frau noch vor uns sitzt – oder vor einer halben Stunde das Zimmer verlassen hat. Wir wären gezwungen, in Wahrscheinlichkeiten zu denken, dabei alle Möglichkeiten einzubeziehen, auf jedes Ja/Nein zu verzichten. Und das«, er deutete auf den Teppich, »liegt meines Erachtens zu unseren Füßen. Eine unscharfe, IHRE, die EXTRINISCHE MATHEMATIK.«
Eschenbach klopfte auf seinen Spiegelkoffer. »Hier drin befinden sich Berechnungen, die dem Bau der Cheopspyramide zugrunde liegen. Mir fehlt die Zeit, alles zu erklären. Aber ohne diese Mathematik wäre sie nie gebaut worden. Und zwar von IHNEN. Darin stimme ich von Däniken absolut zu.«
Erst jetzt fielen mir die Bücher in einer Kiste hinter dem Schreibtisch auf. »Die Spuren der Außerirdischen«, »Waren die Götter Astronauten?«, so lauteten zwei der Titel.
Die Erwähnung von Dänikens rüttelte Molban offenkundig wach. »Herr Eschenbach, alles schön und gut und nicht uninteressant. Aber könnte es auch sein, die Knüpferinnen haben einfach schlampig gearbeitet und die von Ihnen beschriebenen Verhältnisse ergeben sich durch Zufall?«
Eschenbach lächelte nachsichtig. »Das dachte ich früher auch. Bis zu Yamamotos Besuch jedenfalls. Ich hatte viel nachgedacht über Teppiche, die im Islam die Vollkommenheit Gottes repräsentieren.