Tödliche Sure. Wolf Thorberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wolf Thorberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738024739
Скачать книгу
um den Afghan herumgekrochen war, hockte Tabrizi allein vor ihm, überwältigt von schwarzen Gedanken. Er hätte ihm den Weg zum Paradies weisen sollen. Den Triumph über seinen Vater bringen, der ihn als Kind geschlagen und verhöhnt hatte. Seine Familie hätte sich vor ihm im Staub gewälzt, einschließlich Faezeh, seiner ersten Frau, die sich von ihm losgesagt hatte zusammen mit seinem eigentlichen ältesten Sohn. Angefleht hätten sie ihn, ein gutes Wort für sie einzulegen auf dem Weg zu den kupfernen Toren. Und er hätte ihnen verziehen. Wie allen.

      Jetzt würden sie über ihn lachen. Sogar Hamid.

       Er war am Ende. Die Söhne waren es, wenn vor ihm nur ein halbverfaultes Stück Stoff lag.

      Natürlich mochte es einfach der falsche Teppich sein. Aber konnte es einen zweiten geben auf Alamut?

      Früher hatten ihm immer Visionen geholfen. Als Kind hatten sie ihn durch die Vermittlung eines frommen Lehrers von der Bettelarmut seiner Familie, den Hieben des Vaters zu Ruhollahs Söhnen geführt. Ihm später befohlen, den Scheich zu töten und seinen Platz einzunehmen. Und jetzt: Hatte Er ihm nichts mehr zu sagen?

      Er stand auf und dachte an den Bushmills im Arbeitszimmer. Im Haus über ihm war es still. Längst lagen alle im Bett. Keine Schritte, kein Geräusch war zu hören, nur sein eigener Atem, während er auf den Teppich starrte, als könnte er ihm doch einen Hinweis entlocken.

      Nach ewiger Zeit lenkte ihn ein leises Klopfen ab.

      Tabrizi erschrak und sah zur Kellertür. Wer wollte ihn stören? Dann begriff er, das Pochen kam nicht von dort. Es klang eher wie gegen Holz und nicht den Stahl der Tür. Und es wurde vernehmlicher.

      Ratlos sah er sich um. Woher nur …? Da fiel sein Blick auf die Holzkiste und seine Augen weiteten sich. Ja, von dort kam es. Aber wie konnte das sein? Und es wurde immer lauter, zu einem herrischen Schlagen. Als wäre eine Katze dort eingesperrt, eine Katze mit der eisernen Faust eines Riesen. War die Kiste denn nicht leer? Jetzt ließ das Pochen den Boden erzittern, die Truhe ratterte und hüpfte wie ein Geist auf und nieder. Ihm schien der Kopf zu zerspringen, und er hielt sich die Ohren zu.

      Jetzt lenkte ihn ein Feuerschein ab. Er sah weg von der Kiste, hin zum Teppich. Dort, wo zuvor nur verblichene, bedeutungslose Muster gewesen waren, loderte ein rot glühendes Feuermeer. Es flammte auf im Takt des Pochens und Tabrizi dachte, dass es ihn an etwas erinnerte. Es musste ein Hinweis sein, etwas sehr Wichtiges …

      Dann, plötzlich, begriff er es.

      Das Pochen. Die Pochende. Die hundertunderste Sure.

      Al-Qari’a, das Verhängnis. Die Muster begannen zu fließen, verwandelten sich in einen glühenden, brausenden Mahlstrom, in dem ewig die verkohlten, niemals sterbenden Leiber der schreienden Verdammten kreisten. Er schrie gegen die Wände und stampfte im Takt auf den Boden: »An dem Tag, da die Menschen gleich verstreuten Motten sind! Und die Berge gleich bunter, zerflockter Wolle! Dann wird der, dessen Waage schwer ist, im angenehmen Leben sein. Doch der, dessen Waage leicht ist – seine Mutter wird sein der Höllenschlund.« Tabrizi breitete die Arme aus und sah zur Decke. »Und was macht dich wissen, was er ist?«, flüsterte er. »Ein glühend Feuer!«

      Später, als es wieder still war, der Afghan nur ein Teppich und die Truhe eine Truhe, wischte Tabrizi sich den Schweiß aus dem Gesicht und dachte nach. Wie konnte er eine Vision vom Jüngsten Tag empfangen – wenn das heilige Stück keine Inschrift enthielt?

      Am Ende sah er nur eine Möglichkeit: Man hatte ihn betrogen. Wenn Dastan nicht den falschen Teppich mitgenommen hatte, wofür nichts sprach, musste ihn jemand vorher vertauscht haben. Und dafür kamen drei Personen in Frage: der Hirte, der Basari oder jener Eschenbach. Aber der Hirte und der Basari hätten niemals gelogen, nicht unter Khalils Händen. Er erinnerte sich an seine eigene Todesangst und die Schmerzen im Gefängnis.

      Damit blieb nur der Deutsche.

      15

      Normalerweise treffen wir uns mit Mandanten in der Kanzlei, im Gericht – oder auch im Knast. »Herr Eschenbach«, sagte ich jedoch zu meinem Fahrgast, »hat auf seiner Hütte bestanden. Er will uns etwas Wichtiges zeigen.«

      Molban quittierte es mit einem Nicken. Er schnallte sich an und ich gab meinem dreizehn Jahre alten Fiat Uno die Sporen. Ich hatte Molban abholen müssen, weil er weder ein Auto besaß noch fuhr, seit er den Führerschein angeblich in einer Schublade verlegt hatte. Das Getriebe machte beim Schalten in den Dritten ein unzufriedenes Geräusch. Wie mein Gebiss, fiel mir ein, als mir mein kleiner Bruder während eines Nordseeurlaubs heimlich Sand in die Mayo-Pommes gestreut hatte.

      Mehr als die bevorstehende Enthüllung Eschenbachs interessierte Molban eine andere. Er starrte auf den Anhänger mit einem winzigen Kruzifix aus schwärzlichem Silber um meinen Hals: »Sie sind Christin?«

      Es klang wie: Sie hören Stimmen?

      »Nein«, beruhigte ich ihn. »Ich wähle schon mal CDU, aber sonst nichts. Es ist ein Geschenk meines Freundes.«

      Ein passender Hinweis, angesichts dessen, dass wir zusammen in den Wald fuhren. Außerdem war die Enttäuschung, die er kaum unterdrücken konnte, aufschlussreich.

      »Geschwindelt«, sagte ich und lächelte gemein. »Von meinem Freund ist das hier.« Ich tippte gegen den Mercedesstern an meinem Zündschlüsselbund. »Er arbeitet dort.«

      Molban zog eine Augenbraue hoch, als fände er dies unpassend.

      »Der Anhänger ist ein Erbstück, das schon meiner Urgroßmutter gehört hat«, sagte ich. Auch Mutter trug es. Aber nicht in jener Nacht. Hätte es einen Unterschied gemacht? »Mehr ein Talisman. Der gute, alte Jesus. Für Religion scheint mir das Gen zu fehlen.«

      »Oder das Elternhaus«, meinte er.

      Mir fiel ein, dass ich keinen Ring an seinen Händen bemerkt hatte. »Apropos. Was, darf man fragen, schenkt man denn als Philosoph so Frau oder Freundin?«

      »Gar nichts. Früher habe ich wenigstens meiner Mutter Gedichte zum Muttertag geschrieben.«

      Ich intensivierte die Gemeinheit meines Lächelns. »Bei einem aufstrebendem Yogalehrer und Noch- oder Wieder-Detektiv müssen sich doch die Bewerberinnen die Klinke in die Hand geben.«

      »Ich habe die Liebe des Lebens in Großbritannien gefunden und verloren«, sagte er ungerührt. »Sie war die Tochter meines Philosophieprofessors.«

      »Eine Wirtstochter wäre ja auch unpassend.«

      »Das ist es weniger. Ich bin eben ein schwieriger Mensch.«

      Das Getriebe und ich führten einen kurzen, verbissenen Kampf. Für diesmal triumphierte ich.

      »Inwiefern?«

      »Ich bin mal sehr krank gewesen, manchmal überkommt mich deshalb eine Melancholie. Ich bin Vegetarier. Eigen in vielerlei Dingen. Außerdem stecke ich oft in Gedanken und brauche meine Ruhe. Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der die ganze Zeit redet.«

      »Am besten sehen Sie sich in einem weiblichen Trappistenkloster um«, stichelte ich. »Seid ihr Kerle nicht sowieso alle gleich? Euch plagt der Schniedel, aber wenn ihr euren Samen im Schoß des Mädchens einmal deponiert habt, komplimentiert ihr es vor dem Frühstück wieder hinaus.«

      Molban schmunzelte und ich fragte mich, ob ich nicht zu weit ging. Unter meinen Händen bildete sich ein feuchter Film auf dem Lenkrad.

      »In dem Punkt sind sich wohl alle Männer gleich«, sagte er. »Allerdings suchen sie auch eine Gefährtin, jemanden, den sie im Arm halten können. Mit dem sie zusammen träumen können.«

      »Die bloß nicht zu viel dummes Zeug redet?«

      »Exakt.«

      Für den Rest der Fahrt schaffte ich es immerhin, den Mund zu halten.

      Wir fanden die Jagdhütte nach einigem Hin und Her. Eine Geschichte mit Fachwerk und Schindeldach, geräumig und wie aus