„Ihr meint, wegen meiner Nichte? Aber nein, ich bitte darum uns die Ehre zu erweisen mit Euch dinieren zu dürfen!“ Wilde verbeugte sich abermals. Dr. Steward huschte ein Lächeln über die Lippen. Der junge Kapitän war ein höflicher und ausgesprochen eifriger Mann.
In der großen Kabine trafen die beiden Herren auf Gwyn, die aus ihrer Kabine trat. Das Mädchen atmete tief durch, strich sich das Kleid glatt, trat vor ihren Onkel und knickste vor ihm, so wie sie es auf der Mädchenschule gelernt hatte.
„Verzeiht mir meine lose Zunge, Onkel“, sagte sie reumütig. Sie wandte sogar die förmliche Anrede an - dies hatte sie noch nie getan. Der Angesprochene war völlig perplex. Jede andere Reaktion wäre ihm plausibler erschienen. Dass aber seine Nichte vor ihm knickste und sich so förmlich entschuldigte, versetzte ihm einen Stich ins Herz. Er liebte seine Nichte, als wäre sie seine eigene Tochter. Als sie vor annähernd zehn Jahren, nach dem Tod ihrer Eltern, zu ihm gekommen war, war sie wie ein Segen für James Steward gewesen. Nach über drei Jahren voller Einsamkeit und Trauer hatte es die damals Dreijährige in kurzer Zeit geschafft, ihren Onkel aus seiner Depression zu reißen.
Der Grund für diese dunklen Jahre war der Tod von Jane Steward, Dr. Stewards Frau. Nach bereits einigen Fehlgeburten, war sie schließlich mit einunddreißig Jahren ein weiteres Mal schwanger geworden. Doch tragischerweise war dem Paar ein Kind nicht vergönnt gewesen, denn Jane verstarb bei einer erneuten vorzeitigen Sturzgeburt. Dr. Steward, der seine Frau sehr geliebt hatte, gab sich die alleinige Schuld an ihrem Tod und an dem seines Kindes und verfiel in tiefe Depressionen. Zumindest bis zu dem Tag als das aufgeweckte, kleine Mädchen über die Schwelle seiner Villa trat. Seither war seine Nichte der wichtigste Mensch in Stewards Leben.
„Aber nein, mein Schatz“, sagte er sanft und richtete Gwyn wieder auf.
„Ähm, …entschuldigt mich, Sir. Ich…werde Euch nun besser allein lassen", meinte Wilde plötzlich sehr verlegen und wandte sich zum Gehen um. Ihm waren alle Gespräche dieser Art äußerst unangenehm, ganz gleich, ob er sie führen musste oder zuhören.
"Das ist nicht nötig, Kapitän", meinte Dr. Steward knapp, bevor er mit Gwyn in ihre Kabine ging.
„Du musst dich doch wegen unserer Meinungsverschiedenheit nicht entschuldigen, das ist völlig absurd.“ Er hatte die Tür leise geschlossen und schüttelte leicht den Kopf, bevor er sich umwandte und lächelte. „Und außerdem bitte ich dich, mich nicht so förmlich anzureden. Wir kennen uns doch inzwischen lange und gut genug, nicht wahr?“
Gwyn nickte glücklich lächelnd und umarmte ihren Onkel. Sie liebte diesen Mann. Seit dem Tod ihrer Eltern lebte sie bei ihm. Gwyn wusste von der schweren Zeit, die ihr Onkel damals durchlebt hatte und sie wusste auch, dass er durch sie wieder in ein normales Leben zurückgefunden hatte. Aber was sie für ihren Onkel bedeutete, bedeutete auch er für sie. Er hatte ihr geholfen über den Tod ihrer Eltern hinwegzukommen. Gwyn verdankte dem Arzt sehr viel. Er hatte ihr Lesen und Schreiben, Rechnen und Latein beigebracht. Vor allem aber hatte er ihr nie das Gefühl gegeben ein sonderbares Mädchen zu sein - ganz im Gegensatz zu den Lehrerinnen in der höheren Töchterschule, die sie kurzzeitig besucht hatte.
„Na komm“, riss sie Steward aus ihren Gedanken und löste sich aus der Umarmung, “gehen wir essen. Wir sollten Kapitän Wilde nicht so lange warten lassen.“ Er hielt seiner Nichte den Arm entgegen. Gwyn hakte sich bei ihm unter und ließ sich zurück in die große Kabine führen.
Das Diner war bereits aufgedeckt und Wilde und sein erster Offizier Alester saßen schweigend am Tisch. Als sie die beiden Passagiere hörten, erhoben sie sich und Alester rückte Gwyn den Stuhl zurecht. Diese lächelte etwas verlegen, nahm aber Platz.
Nach dem Essen stopfte Dr. Steward seine lange Pfeife und begann mit den beiden Offizieren ein Gespräch über die stetig steigende Zahl der Piratenangriffe auf Handelsschiffe der Krone. Gwyn hörte interessiert zu.
In den vergangenen Monaten wurde das Gespräch immer häufiger auf Piraten gelenkt. Schon bei dem Abschiedsessen in Bristol, an dem sie teilgenommen hatte, drehten sich die meisten Gespräche, die an Tisch geführt wurden, um diese 'Plage' – das war die einheitliche Bezeichnung für Piraten bei hochdekorierten Mitgliedern der Royal Navy. Doch je mehr Gwyn über Piraten erfuhr, desto interessanter fand sie deren Leben.
Schließlich zog der Arzt seine goldene Taschenuhr heraus.
„Es geht schon auf elf Uhr zu. Möchtest du dich nicht langsam zurückziehen?“
Gwyn sah überrascht auf. Sie wusste, dass die Frage ihres Onkels eher als eine Aufforderung zu sehen war. Das Mädchen sah den Arzt mit bittenden, großen Augen an, so als wolle sie ihn nur mit ihrem Blick überreden, länger zuhören zu dürfen; dabei nahm ihr Gesicht wieder sehr kindliche Züge an. Dr. Steward sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Lächeln an. Zuerst hielt Gwyn seinem, ihr vertrauten Blick, mit ihrem bettelnden stand. Dann aber gab sie nach und erhob sich.
Als der Arzt einige Zeit später die Kajüte seiner Nichte betrat, saß Gwyn gedankenversunken und immer noch vollständig bekleidet auf dem Bett und kaute an ihrer Unterlippe.
„Was beschäftigt dich, Prinzessin?“, fragte er und ließ sich neben dem Mädchen auf die Bettkante sinken. Gwyn zuckte leicht zusammen und sah den Arzt verwirrt an.
Steward lächelte: „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Glaubst du, Piraten sind wirklich so schrecklich? Ich meine, das, was ich über sie höre, klingt doch eher spannend. Und sicher ist ihr Leben aufregender als das eines Kapitäns der Royal Navy. Ganz zu schweigen von dem einer Frau.“
„Gwyn, denke doch nur mal an deine Eltern. Ich finde ihr Schicksal ist Beweis genug für die Grausamkeit dieser Leute. Aber vermutlich ist ihr Leben aufregender, als das normaler Bürger, denn sonst hätten sie nicht eine so große Anhängerschaft. Ich hoffe nur, du spielst nicht mit dem Gedanken, zur Piraterie überzuwechseln.“
„Ach, Onkel...“ Gwyn lachte auf. „Ich sympathisiere beim besten Willen nicht mit diesen Leuten. Ich versuche nur gerade einen möglichen Ausweg für mein offenbar bereits besiegeltes Schicksal zu finden.“
„Du solltest dir jetzt noch nicht so viele Gedanken darüber machen, Prinzessin. Erstens hast du ohnehin noch einige Jahre Zeit bis zu deiner Vermählung und außerdem kommt es doch häufig anders als erwartet. Ich sollte ja ursprünglich auch Kaufmann werden und nicht Arzt. Ich schlage vor, dass du jetzt ins Bett gehst.“
Gwyn nickte und umarmte den Arzt: „Gute Nacht, Onkel.“
Dr. Steward tätschelte ihr den Rücken. „Gute Nacht, mein Schatz.“
13. Mai im Jahre des Herrn 1713:
Gwyn blinzelte verschlafen, bevor sie nur langsam die Augen öffnete. Sie wusste nicht, wie spät es war oder was sie geweckt hatte, aber ihr Versuch sofort wieder in die Welt ihrer Träume zu sinken blieb erfolglos.
Das Mädchen blieb dennoch regungslos im Bett liegen. Sie fühlte sich müde, beinahe erschöpft, doch ihre wachen Augen fixierten die kleine Laterne an der Decke. Die Kerze war halb hinunter gebrannt; die Wachstropfen waren getrocknet und verliehen der dünnen Kerze ein seltsam anmutendes Aussehen. Doch das war es nicht, was Gwyn mit jedem Augenblick wacher werden ließ. Die Laterne schaukelte heftig hin und her. Fast schein es, als könnte sie jeden Augenblick aus der Ankerung heraus reißen und scheppernd auf den Boden fallen.
'Die Laterne sollte nicht so schwanken. Was ist hier los?'
Die grünen Augen wanderten suchend durch das kleine Zimmer.
Plötzlich erzitterte das ganze Schiff. Gwyn prallte gegen die raue Holzwand.
Ihr Buch auf dem kleinen Tischchen neben dem Bett rutsche von der Platte, bevor der Tisch selbst krachend umkippte.
Gwyn zuckte zusammen.
'Großer Gott!'
Eine