„Warum?“, fragte sie sichtlich verblüfft.
„Mir geht es gut, ich brauche keine Hilfe.“ Beim Anblick der verdutzten Gesichter der beiden Matrosen begann sie zu kichern.
Inzwischen ging ein Raunen durch die Reihen der Männer an Deck.
„Eure Nichte ist wirklich erstaunlich, Sir. Sie überrascht mich immer wieder aufs Neue“, meinte Kapitän Wilde, der sich sichtlich genervt dem Arzt zuwandte. Während er den Kopf drehte, war jedoch einen Augenschlag lang die Spur eines Lächelns auf seinen Lippen erkennbar. Dr. Steward nickte resigniert; sein Blick war noch immer unverwandt auf seine Nichte gerichtet.
„Nun kommt schon, Missy!“, drängte Thunder zum wiederholten Mal; seine Stimme war zu einem ungehaltenen Flüstern zusammengeschrumpft. Gwyn stellte zu ihrem Vergnügen fest, dass er sich sehr beherrschen musste, um eine möglichst ruhige Stimme zu wahren.
Auch Gray, der auf der letzten Sprosse der Webeleinen stand, hielt Gwyn einladend die Hand entgegen, hielt sich aber ansonsten aus der Diskussion heraus. Harry Gray, ein gutmütiger Seemann mittleren Alters, der schon sein halbes Leben auf Bootsdecks verbracht hatte, hielt es für klüger sich nicht in diese Situation einzumischen.
„Larsen, Moody, helft euren Kameraden!“, befahl Wilde barsch; ein Anflug von Ungeduld war deutlich in seiner Stimme zu erkennen. Die beiden angewiesenen Seeleute reagierten sofort.
„Missy“, zischte Thunder durch seine zusammengebissenen Zähne drohend und trat einen Schritt auf sie zu. „Ich möchte mich nicht noch einmal wiederholen müssen. Gebt mir Eure verfluchte Hand!“
„Ich möchte mich auch nicht noch einmal wiederholen, Mr. Thunder. Ich brauche keine Hilfe!“, entgegnete Gwyn frech und trat einen Schritt zurück auf die Rah, den Oberbalken des Großsegels, während sie sich an einem Seil festhielt. Jack wurde blass.
„Missy, ich bitte Euch. Rührt Euch nicht. Bleibt wo Ihr seid!“
Gwyn sah Thunder verständnislos an. Sie warf einen Blick auf das Deck. Auch aus dieser Höhe konnte sie erkennen, dass ihrem Onkel alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
Erst jetzt bemerkte sie die beiden Matrosen, die ebenfalls zu ihrer Hilfe geschickt wurden.
Gwyn verdrehte die Augen und warf einen weiteren, prüfenden Blick nach unten auf das Bootsdeck, wobei sie gedankenversunken an ihrer Unterlippe kaute. Dann griff sie kurzentschlossen nach einem anderen, scheinbar losen Seil und ließ sich fallen.
„Missy!“, japste Thunder, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, als er versuchte, noch nach ihr zu greifen. Gray war starr vor Schreck.
Auch die Besatzung an Bord hielt den Atem an. Sogar Kapitän Wilde schien schockiert.
Das Mädchen kreischte überdreht. Im letzten Augenblick, bevor sie Offizier Alester umgerempelt hätte, ließ Gwyn das Seil los. Sie fiel in die Arme des Offiziers. Der Mann schien ebenso verwirrt wie Gwyn selbst.
„Geht es Euch gut, Miss?“, fragte er schließlich und trat mit einem unbeholfenen Blick einen Schritt zurück. Gwyn nickte benommen, dann schlich sich ein amüsiertes Lächeln ob der Absurdität des soeben Geschehenen auf ihre Lippen, das sie nicht verbergen konnte.
Dr. Steward war neben seine Nichte getreten und legte ihr den Arm um die Schulter. In seinem Gesicht spiegelten sich Vorwurf und Erleichterung.
Die ganze Mannschaft beobachtete die beiden Passagiere interessiert. Als Wilde jedoch Stewards Gesichtsausdruck bemerkte, rief er die Männer im scharfen Befehlston zur Ordnung.
„Gwyn, wie kommst du nur immer auf solch absurde Ideen?“, fragte ihr Onkel anklagend nachdem alle Besatzungsmitglieder wieder an die Arbeit gegangen waren, während er seine Nichte vorsichtig zur Reling führte.
„Wenn dir etwas passiert wäre? Nicht auszudenken! Was hattest du eigentlich gedacht dort oben zu finden, hm?“
„Ich dachte von dort hätte man einen guten Ausblick. Kapitän Wilde sagte doch, dass wir bald ankommen. Außerdem ist Thunder auch immer da oben“, erklärte Gwyn etwas kleinlaut.
„Es ist die Aufgabe von Mr. Thunder Ausschau zu halten und nicht deine.“
„Ja, aber…“, wollte Gwyn sich verteidigen, doch ihr Onkel unterbrach sie: „So etwas gehört sich nicht für eine Dame.“
Das Mädchen schüttelte kaum merklich den Kopf und lehnte sich über die Reling, um die Wellen, die am Rumpf des Schiffes brachen, zu beobachten.
Ihr Onkel trat langsam neben sie und legte ihr sanft seinen Arm um die Schulter.
„Ich will keine Dame der Gesellschaft werden“, protestierte Gwyn, nachdem sie sich seufzend wieder ihrem Onkel zuwandte, und schob in kindhaftem Trotz ihre Unterlippe vor.
„Nun, ich glaube nicht, dass du dich dagegen wehren kannst.“
"Ich werde es zumindest versuchen! Onkel, auch wenn ich noch nicht all zu sehr in die Gesellschaft eingebunden werde, sehre ich mein Leben vor, als hätte ich es bereits hinter mir. Eine schier unendliche Aneinanderreihung von Banketts und Teepartys. Ich habe immer nur höflich zu nicken, darf aber meine Meinung nie aussprechen. Stattdessen unterhalte ich mich mit ebenso eingebildeten wie geistlosen Frauen über Mode und Skandale. Mit anderen Worten: Ich werde ein Schmuckstück, das man bei Bedarf präsentieren kann!“
„Nun ja, Prinzessin, dagegen wirst du nicht viel tun können. Bedauerlicherweise ist dies ein Schicksal, dass du wohl mit allen Frauen auf der Welt teilen musst. Aber dennoch ist dir eine Erziehung zu Teil gekommen, von der sehr viele Menschen träumen. Du kannst Lesen und Schreiben, bist des Rechnens und der lateinischen Sprache mächtig und mit deiner Meinung hältst du beim besten Willen nicht an dich …“, versuchte sie Steward zu besänftigen. Obgleich bei seinen Worten ein kurzes Lächeln über die Lippen seiner Nichte huschte, war sie nicht zu beschwichtigen.
„Das mag sein, aber ich werde niemals die Möglichkeit haben zu studieren, so wie du. In einigen Jahren werde ich irgendeinen reichen Mann heiraten, der um ein Vielfaches älter ist als ich und den ich bis zur Hochzeit im Grunde nicht kenne.“
„Jetzt übertreibst du aber…“
„Nein, dass tue ich nicht und das weißt du auch, Onkel!“, rief Gwyn aus und eilte unter Deck.
Andrew Wilde wurde, während er das Gespräch zwischen seinen Passagieren verfolgte, wieder bewusst, wieso er niemals eigene Kinder wollte. Womöglich hätte er dann auch ein solch sonderbares Mädchen zur Tochter und der Gedanke allein jagte dem jungen Kapitän eiskalte Schauer über den Rücken.
Dr. Steward lehnte an der Reling und dachte, auf das unendliche Meer blickend, nach. Vieles, was seine Nichte vorgebracht hatte, war nicht zu leugnen. Gwyn war in vielerlei Hinsicht anders als andere gleichaltrige Mädchen, die sich damit beschäftigten die Eigenschaften der ‚idealen’ Frau zu erlernen, um sich auf ihre spätere Aufgabe als Ehefrau und Mutter vorzubereiten. Gwyn dagegen vermied es tunlichst sich mit dieser Beschäftigung auseinander zusetzen und verbrachte ihre Zeit stattdessen mit geistig hochstehender Literatur.
Sie beherrschte Latein, die Sprache der Gelehrten, außerordentlich gut. Sie liebte es, Diskussionen zu führen und zu philosophieren. Ihr Wissensdurst war kaum zu stillen; sie war bestrebt für alles eine Antwort zu finden. Ein Leben als ‚Leibeigene’, wie sie es schon des Öfteren bezeichnet hatte, würde sie umbringen, das wusste Steward.
Doch in einer Gesellschaft, die das Leben des Einzelnen vorschrieb, wie Steuern oder Gesetzte, bot sich für seine Nichte außer einer Hochzeit nur der Eintritt in ein Kloster an. Dies würde sich für Dr. Stewards impulsive Nichte allerdings als genauso schlimm erweisen. Der Arzt unterdrückte nur mit Mühe ein Seufzen. Er hatte nicht bemerkt, dass Kapitän Wilde neben ihn getreten war.
„Verzeiht Sir, aber das Diner ist aufgetragen und ich hielt es für meine Pflicht, Euch darüber in Kenntnis zu setzten.“ Steward wandte sich langsam von der See ab und nickte.
„Ich