Als das blonde Mädchen den Kapitän bemerkte, begann sie zu strahlen.
„Daddy!“ Sie ließ ihre gepflückten Blumen fallen und stürmte ihrem Vater in die Arme.
"Meine Prinzessin, wie ich dich vermisst habe!" Charles drückte Gwyn an sich und küsste sie.
„Daddy, bleibst du jetzt hier?“, fragte sie hoffnungsvoll, wobei sie ihrem Vater den mit Federn geschmückten Dreispitz vom Kopf zog. Der Kapitän sah seine Tochter liebevoll an, bevor er sie wieder an sich drückte.
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"Selbstverständlich ist es eine große Ehre, nach Kingston versetzt zu werden, aber kommt das nicht ein bisschen zu plötzlich? Gwyn ist viel zu jung. Wir können ihr unmöglich eine solch lange Reise zumuten!", erklärte Josefine entschieden, nachdem das Hausmädchen den Braten aufgetragen und das Speisezimmer wieder verlassen hatte.
„Was zumuten?“, nuschelte Gwyn mit vollem Mund.
„Mit vollem Mund spricht man nicht. Und eine Dame schon gar nicht, Liebling.“ Josefine schüttelte amüsiert den Kopf und nahm einen Schluck Wein. Gwyn schluckte hastig den Bissen herunter und wiederholte ihre Frage.
„Nun, ich bin doch ein Kapitän und muss oft ganz weit weg fahren. Damit ich euch nicht immer so lang alleine lassen muss, will euch beide mitnehmen.“ Charles legte sein Besteck auf den Tellerrand und musterte seine dreijährige Tochter gedankenversunken.
„Du hast Recht, Josefine. Die Fahrt nach Kingston ist zu viel für sie“, räumte er schließlich ein und griff wieder nach seinem Essbesteck. Gwyn zog eine Schnute und sah ihren Vater beleidigt an.
„Zuerst werde ich nur mit Mami nach Kingston fahren, und wenn es ihr dort gefällt, holen wir dich sofort nach. Was hältst du davon, Prinzessin?“
Josefine sah ihren Mann fassungslos an, protestierte aber nicht gegen seinen spontanen Entschluss.
Das Mädchen nickte. „Bringst du mir etwals mit?“
„Natürlich! Das schönste Geschenk, das ich sehe. Großes Ehrenwort.“ Charles streichelte seiner Tochter, deren grüne Augen vor freudiger Erwartung leuchteten, über den Kopf.
Einige Tage später wartete eine beladene Kutsche in der weitläufigen Einfahrt des Landhauses. Der Kutscher hatte sich die Krempe seines Huts tief ins Gesicht gezogen und lehnte gelangweilt an seinem Gefährt.
„Du hältst hier die Stellung, Nancy! Ich verlasse mich auf dich“
„Selbstverständlich, Sir!“ Gwyns Gouvernante verbeugte sich vor dem Kapitän.
„Hör auf Nancy! Sie wird mir alles berichten!“ Josefine kniete vor ihrer Tochter.
„Ja, Mami.“ Gwyn umarmte ihre Mutter. „Ich hab dich sehr lieb, Mami!“
Josefine küsste ihre kleine Tochter. „Ich dich auch, meine Süße.“
„Pass´ gut auf Nancy auf.“ Charles lächelte und nahm seine Tochter in die Arme.
„Wenn du wieder kommst, liest du mir dann vor?“
„Ja, hundert Geschichten mindestens.“ Charles gab seiner Tochter einen Abschiedskuss bevor er seiner Frau in die Kutsche half.
Als der Kutscher die Pferde antrieb und ihr die Eltern zum Abschied winkten, begann Gwyn zu weinen. „Mami, Daddy, kommt bald wieder!“
Erstes Buch
12. Mai im Jahre des Herrn 1713:
An Bord einer großen, englischen Fregatte, an dessen Bug in vergoldeten Lettern der Name ‚Ventus’ zu lesen war, gingen die Matrosen ihrer gewohnten Arbeit nach.
Der junge Mastgast Jack Thunder streckte sich und sah zur Mars, der Plattform am unteren Ende der Großmarsstrenge, hinauf, auf der er noch vor wenigen Minuten gesessen hatte.
Er war auf seiner ersten großen Überfahrt in die neue Welt und obgleich er froh war, nicht mehr als Tagelöhner in Liverpool zu arbeiten, konnte er seiner Aufgabe als Mastgast nicht viel abgewinnen.
Mit einem zufriedenen Lächeln schlenderte er an seinen Kameraden vorbei zur Mannschaftsunterkunft.
„Thunder, was machst du hier?“ Oliver Moody goss schwungvoll einen Eimer Wasser auf das Deck. Jack sprang ein Stück nach hinten - allerdings wurden seine Hosenbeine dennoch nass.
„Has´ du sie noch alle?“
„Verzeiht, Eure Majestät.“ Moody verbeugte sich spöttisch.
„Ich bin ein freier Mann, für die nächsten vier Stunden zumindest, also fall' vor mir auf die Knie, du Sklave!“ Thunder stolzierte ein paar Schritte weiter. Moody wandte sich zu den anderen Matrosen um und nickte ihnen mit einem schiefen Grinsen zu.
„Der braucht ´ne Abkühlung!“
Sofort packten drei Matrosen den Mastgast, während die übrigen Seeleute mehrere Wassereimer über ihn kippten.
Moody zog einen neugefüllten Eimer über die Reling, als sein Blick am Großmast hängen blieb.
„Seht euch das an! Die Kleine is´ völlig übergeschnappt!“
Die Seeleute hielten in ihren Bewegungen inne. Auch sie richteten ihr Augenmerk auf den Großmast.
Thunder trat hustend einen Schritt nach vorne und strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
„Verdammt! Wilde bringt mich um.“ Er warf einen beinahe hilflosen Blick zu seinen Kameraden, ehe er zu winken begann.
„Missy, kommt da runter. Das is´ zu gefährlich!“ Das Mädchen wandte den Kopf. Doch anstatt der Aufforderung des Mastgasts zu folgen, winkte sie zu ihm herunter.
„Verflucht!“ Thunder trat noch näher an den Mast heran.
„Was geht hier vor?“ Die forsche Stimme des Kapitäns ließ Jack erschreckt herumfahren; er hatte nicht gehört, dass der Kapitän an Deck gekommen war.
„Sir, wenn Ihr Euch selbst überzeugen wollt?“ Thunder deutete ein wenig kleinlaut mit einem Nicken auf den Ort des Geschehens.
Der Kapitän folgte der Anweisung und für einen kurzen Augenblick konnte er seine Überraschung beim Anblick des Mädchens nicht verbergen.
Ein schlanker, äußerst elegant gekleideter Mann mittleren Alters mit einem besorgten Gesichtsausdruck trat an ihm vorbei:
„Gwyn? Großer Gott, Gwyn! Komm sofort wieder herunter! Hörst du?“
„Miss, Ihr solltet herunterkommen! Euch könnte etwas widerfahren! Gray, Thunder, holt sie runter sofort und mit größter Vorsicht!“ Kapitän Wilde hielt sich die Hand vor die Augen, um die Situation besser verfolgen zu können.
Mittlerweile hatte sich die ganze Mannschaft um den Mast versammelt und sah in gespanntem Schweigen zu dem Mädchen hinauf.
Diese hatte auffallend große, smaragdgrüne Augen; ihre dunkelblonden Haare waren am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie trug ein zartblaues enggeschnittenes Kleid, ganz nach der neuesten Londoner Mode, mit Spitzenkragen und Volantärmeln, die vom Ellenbogen an immer breiten wurden.
Gwyn stand auf der Plattform und sah auf das Deck herunter.
Die Besatzung beobachtete, wie die beiden angewiesenen Männer an den Webeleinen, die zwischen den Wanten, den starken Seilen zu jeder Seite des Großmastes, gespannt waren und so als Sprossen für den Aufstieg dienten, hochkletterten, um ihr zu helfen.
Dr. James Steward war noch einen Schritt auf den Mast zugegangen; seine dreizehnjährige Nichte ließ er nicht aus den Augen. Seine