Nach unserer Ankunft im Wald hielt er mir zwischen großen Bäumen einen Vortrag. Es gäbe keine Flugzeugreifen, keine Autoreifen, keine Fahrradreifen, keinen Straßenverkehr ohne Harzer. Kein modernes Leben. Dann zeigte er mir, wie man die Rinde von Bäumen schälte und Rinnen in die Bäume fürs abfließende Harz einschnitt. Wie man den Topf zum Auffangen des flüssigen Harzes befestigte. Ich sagte ihm ständig, dass ich ein sehr guter Harzer sein würde. Sein Blick verriet mir, was er von mir hielt.
Die ersten Wochen als Harzer waren herrlich. Ich war ein freier Mensch in der Natur! Mein eigener Herr! Niemand kontrollierte mich. Keiner kümmerte sich darum, ob ich pünktlich war. Wann ich im Wald war. Ob ich am Vormittag oder am Nachmittag arbeitete. An einem kleinen Teich, auf dessen Wasseroberfläche schillernde Benzinflecken von illegal entsorgten Fahrzeugen schwammen, träumte ich bei schönem Wetter manchmal stundenlang von meiner Zukunft als berühmter Autor.
Ich fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit in den Wald. Jeden Tag. Fast jeden Tag in den ersten Wochen. Der Weg zu meinem Waldstück war wegen einer Funkstation der Sowjetarmee nicht einfach. Die meisten sowjetischen Soldaten lebten am sowjetischen Flugplatz der Stadt hinter dem Güterbahnhof in selbst gebauten, schiefwinkligen Kasernen mit löchrigen Dächern, aber ein paar hausten in der Funkstation im Wald, einer verwohnten Ruine, umgeben von sowjetischem Militärschrott. Treibstoff aus einem beschädigten Tankwagen hatte große dunkle tote Flecken im Waldboden hinterlassen. Es war eine gewöhnliche Funkstation der Sowjetarmee, wie es Tausende in der DDR gab, aber diese lag an meinem Weg. Und sie wurde bewacht von zwei bissigen Hunden. Ich hätte einen anderen Weg zu meinen Bäumen wählen können. Einen viel längeren. Ich wollte aber nicht als Deutscher in einem deutschen Wald wegen Hunden von Sowjetsoldaten einen anderen Weg benutzen. Ich hoffte jedes Mal, unbemerkt an der Station vorbeifahren zu können. Aber die Hunde hörten mich immer. Meist lagen sie träge ausgestreckt zwischen dem Militärschrott am Haus, bei meinem Anblick jedoch verwandelten sie sich sofort in von Wut geschüttelte, bellende Kreaturen. Sie rasten auf mich zu, liefen den windschiefen Zaun der Funkstation entlang auf der Suche nach dem nächsten Loch, um zu mir auf den Waldweg zu kommen. Voller Angst und Zorn trat ich mit ganzer Kraft in die Pedale weg von den Hunden. Ich sah vom Fahrrad aus in geifernde Schnauzen mit scharfen Zähnen, in vor Hass und Gier irre Augen, auf angespannte Muskeln unter räudigem Fell. Gern hätte ich den Sowjetsoldaten gesagt, dass mich ihre frei laufenden Hunde vom Fahrrad reißen und zerfleischen wollten. Leider war ich dazu nicht in der Lage. Ich hätte auf Russisch über die großen Erfolge des Sozialismus in der DDR und in der UdSSR reden können, aber nicht über meine Angst vor halbwilden Hunden auf einem sandigen Waldweg. Das war in den Russischschulbüchern der DDR nicht vorgekommen. Es hätte wahrscheinlich auch nichts geändert. Die Soldaten hätten mir gutmütig eine ihrer seltsamen Zigaretten angeboten und am nächsten Morgen wäre ich wieder von den geifernden Bestien verfolgt worden. Nein, ich musste darauf hoffen, dass meine Fahrradkette nicht vom Tretlager sprang.
Der Zirkel Schreibender Arbeiter
Es hatte lange gedauert, bis ich die unsachliche Kritik der ersten Leserin meiner Kurzgeschichten halbwegs verkraftet hatte. Frau Böhm vom Schriftstellerverband der DDR des Bezirks Schwerin hatte mir den Besuch eines Zirkels Schreibender Arbeiter empfohlen, was ich als Beleidigung empfunden hatte. Schließlich waren weder Tolstoi noch Goethe oder Thomas Mann Mitglied eines solchen Zirkels gewesen. Zudem war ich davon überzeugt, dass ein Talent wie ich so etwas nicht nötig hatte. Andererseits wollte ich aber mit jemandem übers Schreiben reden. Und ich wollte Zustimmung, Begeisterung, Ekstase für meine Kurzgeschichten erfahren. Ich hatte von Frau Böhm die Telefonnummer der Leiterin des Zirkels Schreibender Arbeiter in der Stadt erhalten. Sie musste eine bedeutende Persönlichkeit sein, denn sie besaß ein Telefon. Ich rief sie aus einer Telefonzelle an.
»Annemarie Meier-Benoit, Künstlerin, Leiterin des Zirkels Schreibender Arbeiter«, meldete sich eine breite sächsische Stimme.
»Ich würde gern zu Ihrem Zirkel Schreibender Arbeiter kommen.«
»Sind Sie etwa Arbeiter?«
»Ich arbeite jetzt im Wald.«
»Endlich ein Arbeiter!«, freute sich Frau Meier-Benoit.
Ich hatte dennoch lange gezögert, den Zirkel Schreibender Arbeiter im Kulturhaus zu besuchen, aber dann war es so weit: Wir saßen zu sechst an einem Tisch im Raum: ein Rentner, eine Hausfrau, ein Lehrer, ein Buchhalter, die Künstlerin und ich, der Arbeiter. Frau Meier-Benoit war eine ältere Frau mit blutrot geschminkten Lippen, gefärbtem Haar und einem um die Schultern gelegten Tuch in schillernden Farben. Der Rentner war der ehemalige Leiter einer LPG, weit über siebzig. Er behielt seinen Krückstock am Tisch fest in der Hand. Der Lehrer war etwa Mitte vierzig. Er trug einen guten Anzug, eine Weste und ein weißes Hemd. Die Hausfrau war seine Ehefrau. Der junge Buchhalter bewegte sich sanft und lächelte mädchenhaft. Ich erfuhr, dass alle schon seit Jahren Mitglied im Zirkel waren. Am Anfang redeten sie über ein Gedicht des jungen Buchhalters, das in der Regionalzeitung abgedruckt worden war. Die Zirkelleiterin hatte es ausgeschnitten und mitgebracht, der Buchhalter hatte gleich die ganze Zeitung dabei. Das Gedicht war die Beschreibung eines Sonnenaufgangs an einem frostigen Wintertag über dem Löschteich der freiwilligen Feuerwehr im Heimatdorf des Buchhalters. Der Buchhalter hörte verträumt lächelnd, wie Frau Meier-Benoit behauptete, wahre große Literatur schaffe es immer ans Licht der Öffentlichkeit. Der Rentner wartete ungeduldig auf irgendetwas, der Lehrer war eindeutig gelangweilt, seine Ehefrau lächelte jeden von uns mütterlich an, während Frau Meier-Benoit über den literarischen Erfolg des jungen Buchhalters redete, bis der Lehrer sie unterbrach: »Wir haben lange genug von dem Gedicht unseres verehrten Mitglieds gehört, aber ich bin länger als er im Zirkel und mein Manuskript ist immer noch nicht veröffentlicht worden!« Er stand auf, schob seine Daumen unter die Ärmelausschnitte seiner Weste und ging schimpfend auf und ab. Die anderen machten nicht den Eindruck, als würde sie sein Auftritt überraschen. Er zählte Namen von Schriftstellern auf, die nicht schreiben könnten, aber deren Bücher trotzdem veröffentlichen würden, und zog bei jedem Namen die rechte Hand aus der Weste und schnipste laut mit Daumen und Mittelfinger. Endlich setzte er sich wieder. Er schlug die Schöße seiner Anzugjacke zusammen, als hätte er ein endgültiges Urteil über die Welt gefasst, und sah mich an, ohne mich wahrzunehmen. Der Rentner hob seinen Krückstock hoch und fragte die Zirkelleiterin freudig erregt, ob er jetzt seine neue Geschichte lesen dürfe. Frau Meier-Benoit sagte, sie wolle nicht schon wieder einen schweinischen Text hören. Die Ehefrau des Lehrers nickte bekümmert. Der Alte stieß den Krückstock auf den Boden und forderte Freiheit für die Kunst. »Beim nächsten Mal«, versprach die Zirkelleiterin.
In der Pause erzählte mir die Hausfrau, dass Frau Meier-Benoit mit dem Geld als Zirkelleiterin und ein paar Stunden Musikunterricht nebenbei sehr gut leben könne. Sie besitze sogar ein Telefon. Anschließend sollte ich eine Kurzgeschichte vortragen. Ich hätte eine alte Kurzgeschichte als der Lehrzeit lesen können, aber ich wollte es mir nicht zu einfach machen.
Die Idee für die neue Kurzgeschichte war mir während eines Urlaubs mit meinem Freund Bernd in Bulgarien gekommen. Wir hatten im Urlaubsort drei Kilometer entfernt vom Strand in einem großen Plattenbau mit anderen Bürgern der DDR gewohnt – mit Aussicht auf einen anderen großen Plattenbau mit weiteren Bürgern der DDR. Bernd und ich hatten schon auf dem Hinflug überlegt, wie wir die hübschen Mädchen unserer Reisegruppe in Bulgarien ins Bett bekommen würden. Nach der Ankunft erlebten wir die erste Enttäuschung: Die Mädchen, Blondinen aus Ostberlin, wurden von Männern mit Mercedes erwartet, von Männern mit einer goldenen Uhr am Handgelenk, goldenen Ringen an den Fingern und einer Goldkette im schwarzen gekräuselten Brusthaar des weit offenen Hemdausschnitts. Von Türken aus Westberlin. Bernd und ich waren blass, blond, aus der DDR, ohne Westgeld und ohne Auto. Jeden Abend versuchten wir, in den Diskotheken der beiden großen Plattenbauten andere Mädchen kennenzulernen. Die meisten fragten uns gleich: »Bist du auch aus der DDR?« Bernd und ich waren so verzweifelt, dass wir zwei Mädchen unserer Reisegruppe für Sex in Betracht zogen, die wir vorher komplett ausgeschlossen hatten. Das eine hatte einen schwarzen Oberlippenbart, das andere ein Clownsgesicht. Die beiden nannten die Blondinen aus Ostberlin verächtlich »billige Nutten für Ausländer mit Westgeld«. Bernd und ich waren keine Ausländer mit Westgeld. Wir vier unterhielten uns vor dem Plattenbauhotel, als eine Frau