Uwe Heit
In deutschen Zeiten
Ein großartiger Augenblick
Ein Lkw überfuhr mich. Die gläsernen Milchflaschen in meinem Einkaufsbeutel zerbrachen knirschend, meine Beine zerbrachen knackend unter den Reifen. Ich war zehn. Der Lkw fuhr weiter.
Ich lag auf Kopfsteinpflaster, das später verkauft werden würde, weil mein Land, die DDR, Westgeld benötigte. Es würde verkauft werden an die BRD, deren Kleinstädte so aussehen sollten wie in der guten alten Zeit. Der notdürftige, schnell zerfahrene Ersatzbelag würde erst im vereinigten Deutschland ersetzt werden, mit dem Geld der BRD.
Es dauerte, bis ich verstand, dass ich es war, der auf der Straße ohrenbetäubend schrie. Menschen sammelten sich um mich. Eine Frau drückte meine Hand: Ich solle mir keine Sorgen wegen der Milchflaschen machen; ich würde meiner Mutter erklären können, warum es heute keine frische Milch gäbe. Ein Krankenwagen hielt neben mir. Zwei Sanitäter legten mich auf eine Trage und fuhren mit mir weg. Auf dem Weg zum Krankenhaus wurde mir klar, dass ich an diesem Tag möglicherweise nicht in die Schule musste. Das stimmte mich etwas optimistischer.
Weil in der Kinderabteilung kein Bett frei war, wurde ich in einem Zimmer der Männerstation untergebracht. Sieben Männer lagen darin in brütender Hitze bei geschlossenen Fenstern. Ich starrte von meinem Bett aus nach draußen, wo am Himmel sich schnell auflösende Wolken entlangzogen. Als es dunkel geworden war, brüllte ein Mann, der kleine Scheißer solle endlich die Schnauze halten, sonst würde er ihm den Schnabel zudrehen. Zustimmendes Gebrabbel war aus den anderen Betten zu hören. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Winseln, das ich seit Stunden ununterbrochen gehört hatte, aus meinem Hals kam.
In den nächsten Tagen bekam ich viele Spritzen. Anfangs hatte ich Angst davor, aber nach einer Woche rief ich: »Hier!«, wenn die Schwester mit Spritzen in das Zimmer kam und uns fragte: »Wer will noch mal? Wer hat noch nicht?«
Mein Klassenlehrer und zwei Mitschüler besuchten mich im Krankenhaus. Ich hatte das nicht erwartet, denn ich war unbeliebt in der Schule. Herr März als mein Klassenlehrer musste mich sicher im Krankenhaus besuchen, aber meine Mitschüler? Später erfuhr ich, dass die Klasse Sieglinde und Bernd als Besucher bestimmt hatte. Sieglinde war ein unscheinbares Mädchen, mit dem ich noch keine fünf Sätze geredet hatte. Sie stand neben meinem Bett und starrte mich an. Auch Bernd sagte nichts. Sein Vater war Schauspieler. Unsere Klasse musste jedes Jahr eine Aufführung des Märchens »Das tapfere Schneiderlein« im Theater besuchen, in der Bernds Vater betrunken als das tapfere Schneiderlein über die Bühne torkelte. Ich wusste nichts von der Verzweiflung eines Schauspielers an einem Theater in einer Kleinstadt der DDR. Schauspieler waren für mich Menschen, die in einem Fleischfachgeschäft das R rollten bei der Frage, ob es etwas anderes als Leberwurst gebe diese Woche. Bernd würde als Achtzehnjähriger in einem Schlauchboot nach Dänemark fliehen wollen, aber noch am Ostseestrand von Grenzsoldaten verhaftet werden. Vielleicht hatte er Angst gehabt vor einem Ende wie das seines Vaters, des tapferen Schneiderleins. Noch im Gefängnis würde er von der BRD freigekauft werden. Ich hatte damals keine Ahnung, dass die DDR neben Pflastersteinen auch Bürger für gutes Geld verkaufte.
Ich langweilte mich sehr in meinem Bett, sodass mir die Krankenschwestern Bücher aus der Bibliothek des Krankenhauses brachten. Die Kinderbücher hatte ich bald gelesen. Anderes wollten mir die Schwestern zunächst nicht geben, aber die Männer im Zimmer überredeten sie dazu. Wenn ich las, schwieg ich. Ich konnte sehr schnell lesen. Als ich alle Bücher der Krankenhausbibliothek gelesen hatte, brachte mir meine Mutter welche mit.
In der schlechten Luft des Krankenhauses, unter Schmerzen, vollgepumpt mit Medikamenten, umgeben von Menschen mit abstoßenden Wunden wurde mir plötzlich klar, dass ich, Frank Grunwald, Schriftsteller werden würde. Der größte aller Zeiten.
Hühner
Die Straße, in der unser Haus stand, endete am Geflügelschlachthof der Stadt. Sie war weniger eine Straße als ein ausgefahrener, unebener Sandweg voller Kuhlen. Unter den Reifen der Lkw und Traktoren, die das Geflügel Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften zum Schlachthof transportierten, wurde der Bauschutt, mit dem die Straße gelegentlich geflickt wurde, zu rötlich-weißem Staub zermahlen. Wegen der Straßen und der Transportbehälter fielen viele Tiere auf dem Weg zum Schlachthof von den Fahrzeugen: Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Fahrer bekamen ihr Gehalt so oder so am Monatsende, ihnen war es also egal; mir und meinen Freunden aber nicht. Wir kannten jede Kuhle der Straße und wussten genau, an welchen Stellen die Tiere aus den Käfigen fielen. Dann gehörten sie uns. Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Leute schimpften ständig, es gäbe trotz der wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen in den Zeitungen nichts zu kaufen. Wir jedoch hatten die Straße. Was auf einer Straße gefunden werde, sei öffentliches Eigentum, erklärte mein Vater. Also gab es bei uns zu Hause: Huhn gebraten, Huhn gekocht, Huhn sauer eingelegt. Hühnersuppe mit Nudeln. Hühnersuppe ohne Nudeln. Huhn mit Mohrrüben. Oder mit Porree. Huhn gebacken. Huhn mit Zwiebeln. Hühnerfleisch mit Käse. Hühnerfrikassee. Huhn in Weißwein (wegen des Weinangebots nur selten). Huhn mit Senf und Reis. Huhn mit Reis – ohne Senf. Huhn mit Gemüse und Reis. Ausschließlich im Herbst Huhn mit Pilzen, denn Pilze konnten wir nicht kaufen, nur sammeln. Geschmortes Huhn. Gefülltes Huhn. Huhn in Buttermilch. Eintopf mit Hühnerfleisch. Russisches Huhn. Huhn auf Ukrainisch. Rumänisches Huhn – sehr schmackhaft! Ente in allen Varianten. Gänsebraten gab es nur in der Vorweihnachtszeit, weil nur dann Gänse zum Schlachthof gefahren wurden. Kaninchen aßen wir seltener, denn die konnte ich nicht gut fangen. Enten dagegen konnte ich sehr gut fangen, sogar mehrere mit vier, fünf Griffen, in Sekundenschnelle.
Besonders unsere kinderlosen Nachbarn waren neidisch auf unsere fleischhaltigen Mahlzeiten. Acht Enten hatten sich einmal in den Garten unserer Nachbarn geflüchtet. Die Cytowics, Bednareks und Jewaroweskys, Kriegsflüchtlinge aus dem Osten, die ein seltsames Deutsch sprachen, lebten beengt in einer Villa, die nach der Enteignung der Besitzer umgebaut worden war. Den großen Garten der Villa hatten die Schlesier und Ostpreußen in viele kleine eigene Gärten aufgeteilt und ihre Kleingärten mit kniehohen Zäunen voneinander abgegrenzt. Sie stritten sich ständig und gönnten einander nichts. Nun aber zerstörten acht Enten, sichtlich verwirrt durch das erste Grün nach einem Leben im Stall, ihre kniehohen Gartenzäune, zertraten die liebevoll gehegten Beete, aber die Flüchtlinge schien das nicht zu stören. Sie standen an den Fenstern ihrer engen, kleinen Wohnungen und beobachteten die Entenschar. Sicher warteten sie auf die Dunkelheit, um die Enten ohne Zeugen fangen zu können. Ich dagegen hoffte, dass die Enten durch das Loch im Zaun in unseren Garten kommen würden. Wir alle wurden enttäuscht, denn Frau Müller, eine alte kleine Frau, erschien mit zwei Arbeitern des Geflügelschlachthofs im Garten, um die Tiere wieder einzufangen. Die Müllers waren die enteigneten Besitzer der Villa, des Gartens und des Geflügelschlachthofs und wohnten im Keller des Hauses. Anders als andere enteignete Kapitalisten der DDR waren die beiden nicht in den Westen geflüchtet. Ich war ihnen dafür dankbar, denn von grausamen, blutgierigen, kapitalistischen Ausbeutern in der Schule zu hören, war das eine – sie als Nachbarn zu haben, etwas anderes. Herrn Müller sah ich nie ganz; er verließ den Keller nicht. Ich hatte den Verdacht, dass er so gegen die Volkswirtschaft protestierte, aber meine Mutter meinte, er sei gehbehindert. Der Alte in der Kellerwohnung war sicher ein blutgieriger Kapitalist gewesen, aber auch im volkseigenen Schlachthof fanden die Tiere ein bedauernswertes Ende. Käfige voller Hühnern standen tagelang bei jedem Wetter auf dem Hof. Entlaufene Enten zogen gruppenweise laut schnatternd über den Hof, als protestierten sie gegen die Zustände. Der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs liebte es, entlaufenen Hühnern auf dem Hof mit dem Luftgewehr eine Bleikugel in den Kopf zu schießen. War das Tier getroffen, führte es einen wilden Tanz auf, bevor es am Boden zuckend starb. Überall lagen zwischen anderen Abfällen Kadaver auf dem Hof. An warmen Sommertagen und bei ungünstigem Wind war der Aufenthalt in unserem Garten wegen des Geruchs nach verfaulendem Fleisch fast unerträglich.
Es war mir unverständlich, wie meine Großeltern, die in unserem Gartenhäuschen wohnten, das ertragen konnten. Untereinander benutzten sie einen seltsamen deutschen Dialekt und betrachteten die Flüchtlinge in der ehemaligen Villa mit Argwohn. Es war meinen Großeltern als deutschen Protestanten schlecht ergangen im katholischen Polen, der »kalten Heimat«. Ihre Vorfahren hatten ein paar Hundert Jahre lang versucht, den Sand fruchtbar zu machen, den ein polnischer