Der Lehrmeister ließ das auf uns wirken, bevor er wie beiläufig erklärte: »In Berlin gibt es für Schwarzarbeit bei Professoren oder Künstlern sogar Westgeld!«
Jetzt waren wir wirklich beeindruckt.
»Wir Maurer sind die Größten im Arbeiter- und Bauernstaat!«, stellte unser Lehrmeister fest.
In den ersten Wochen fegten wir Lehrlinge die Baustelle. Milch war selten bei uns, denn er baute für seine junge Familie ein Eigenheim. Ständig suchte er Rohre, Klebebänder, Dichtungsmasse, Zement, Dachpappe, Verbindungsstücke für Dachrinnen, Zuschlagstoffe und anderes, was man in der DDR nicht kaufen konnte, was aber auf der Baustelle vorhanden war. Die Maurer auf der Baustelle gaben ihm das Material, wofür er ihnen Bier und Schnaps in der Kantine spendierte. Wir Lehrlinge ärgerten uns, dass er als Nichtraucher uns das Rauchen auf der Baustelle verboten hatte. Sechzehnjährigen in der DDR war vieles verboten, aber nicht das Rauchen. »Alle anderen dürfen auf der Baustelle qualmen! Der Milch quält uns! Er unterdrückt uns!«, schimpften wir laut in seiner Abwesenheit. Wir rauchten heimlich, wenn Milch mit seinem Motorrad Material auf seine private Baustelle schaffte. Einer von uns passte auf, dass er uns bei der Rückkehr nicht beim Rauchen überraschte. Es war schwer, ihn zu täuschen: Als Nichtraucher hatte eine feine Nase für den Nikotingeruch. Oft fragte er grimmig: »Wer von euch hat geraucht?« Natürlich beteuerten wir immer, er würde sich irren. Ein Maurer mit Zigarette sei gerade vorbeigegangen, zwei Maurer, eine Brigade! Schließlich verbot er uns den Besitz von Zigaretten auf der Baustelle. Wir versteckten sie vor ihm, er suchte sie. Milch sah unter Eimer und Kübel, stocherte im Kies umher, riss Steinhaufen auseinander, bis er Zigaretten gefunden hatte. Mit seinen wulstigen Händen zog er vorsichtig eine Zigarette aus der Schachtel und betrachtete sie genau. Dann riss er behutsam das dünne weiße Papier auf und bröselte den Tabak auseinander. Hatte er die Zigarette zerstört, holte er die nächste aus der Schachtel. Hatte er ein dickeres Stück Tabak in einer Zigarette gefunden, zeigte er es uns freudestrahlend: »Ein Balken! Ein Balken! Ein Balken!«
Es war grausam, seine Freude ertragen zu müssen. Seine Trauer, wenn er alle Zigaretten zerstört hatte, ohne einen Balken gefunden zu haben. Bald nahmen wir nur zwei oder drei Zigaretten mit auf die Baustelle, um den Verlust erträglicher zu machen. Einmal stand Milch plötzlich zwischen uns, als wir rauchten. Wir drückten hastig die Zigaretten aus; Milch zerrieb Zigaretten. Plötzlich packte er Johann, einen starken Raucher, an der Jacke und tastete ihn ab. Das war noch nie geschehen. Johann ertrug es widerstandslos. Deshalb waren wir überrascht, als Milch eine Schachtel Zigaretten aus Johanns Jacke zog. Eine fast volle Schachtel! Filterzigaretten! Aus dem Westen! Wir konnten es kaum glauben. Der Lehrmeister auch nicht. »Meine ersten Westzigaretten!«, staunte er. Johann betrachtete mit seltsam abwesendem Blick die Schachtel Zigaretten in den Händen des Lehrmeisters. Plötzlich, wie aus einem Traum erwacht, rief er: »Das sind meine!«
»Sie werden es bleiben«, sagte der Lehrmeister sehr freundlich.
»Die habe ich von meinen Westverwandten gekriegt!«, rief Johann aufgeregt.
»Wir wollen sehen, ob die Westdeutschen Balken produzieren können«, sagte der Lehrmeister.
Alle wussten, dass der feine Tabak von Westzigaretten keine Balken enthielt. Johann starrte auf die wulstigen Finger, die langsam die erste Zigarette aus der Schachtel zogen. Plötzlich riss er die Schachtel aus der Hand des Lehrmeisters. Wir waren verblüfft, auch so etwas war noch nie geschehen. Johann versuchte zu fliehen. Er lief mit seiner Schachtel in der Hand um den Kübel mit Mörtelmischung, der zwischen ihm und Milch stand. Der Lehrmeister langte über den Kübel, packte den Lehrling am Kragen und riss ihn zu Boden. Johann lag auf dem Rücken und versuchte, die Schachtel mit ausgestreckten Armen von Milch fernzuhalten. Der schwere, massige Mann hockte auf dem kleinen, schmächtigen Jungen und drückte ein Knie auf dessen Brustbein. Johanns Gesicht lief rot an. Günter Milch schnaufte und drückte. Johann schrie und fuchtelte mit den Armen. Das Schreien wurde leiser. Bald röchelte Johann nur noch. Am Anfang waren wir übrigen Lehrlinge empört über das Verhalten des Lehrmeisters, voller Mitgefühl für unseren Kameraden gewesen. Als Johann dem Erstickungstod nahe war und dennoch weitergekämpfte, hatten ein paar von uns schon Tränen in den Augen. Die meisten mussten längst sitzen, so sehr lachten wir. Wie der Lehrmeister mit dem erstickenden Lehrling um eine Schachtel Zigaretten rang, war einfach zu komisch. Am Ende konnte Milch die Schachtel ergreifen. Er wälzte sich von Johann, der wie tot liegen blieb. Es war höchste Zeit, ich hatte schon Bauchschmerzen vor Lachen. Später versicherten wir Johann, dass er uns sehr leidgetan hätte. Natürlich fand Milch nicht einen Balken im feinen Tabak aus dem Westen.
Meine erste Mauer stieß unser Lehrmeister einfach mit dem Fuß um. Dabei hatte ich mir so viel Mühe mit ihr gegeben. Sorgfältig hatte ich die ersten Steine auf den Boden an einem gespannten Faden entlang gelegt. Hatte ein Stein nicht richtig auf meiner Mauer gelegen, hatte ich ihn erneut darauf platziert. So beschäftigt war ich mit meiner Mauer gewesen, dass ich kaum die der anderen Lehrlinge beachtet hatte. Am Ende hatte der Lehrmeister meine Mauer lange schweigend betrachtet, bis er sie mit dem Fuß umstieß. Dann behauptete er, er habe noch nie so eine missratene Mauer gesehen.
Aber ich wollte ja sowieso Schriftsteller werden.
Wir Lehrlinge diskutierten wochenlang miteinander, ob wir den Lehrmeister verprügeln konnten, aber den meisten war er zu stark, zu gefährlich. Aber eines Tages, als wir Schalungen für ein Fundament in einer Baugrube aufbauten, erschien der Milch nach stundenlanger Abwesenheit am Rand der Baugrube. Er beobachtete schweigend, wie wir arbeiteten. Schließlich stieg er zu uns herunter und zog schnaufend Luft in die Nase. Wir waren sicher, dass er kein Nikotin riechen würde, denn wir hatten ihn dieses Mal rechtzeitig gesehen.
»Wer hat geraucht?«, schnarrte er. Keiner von uns hielt eine Antwort für nötig, denn Milch war betrunken. Vor einem Kübel mit Mörtel blieb er stehen. »Was ist das? Pferdepisse?« Die Mörtelmischung war tatsächlich zu dünn. Der Lehrmeister kippte den Kübel samt Inhalt um, sodass sich die Mischung in die Baugrube ergoss. Plötzlich packten Ingo und Ludwig ihn an den Armen und warfen ihn zu Boden. Der Lehrmeister war überrascht, wehrte sich dann aber heftig gegen die beiden. Ludwig schrie Kevin an, er solle ihnen helfen, aber der rührte sich nicht. Wir beobachteten fasziniert Ingos und Ludwigs Kampf mit dem Lehrmeister. Milch hätte die beiden fast von sich geworfen, aber schließlich sprangen alle – außer Kevin – hinzu und drückten ihn auf den Boden, wo er wie ein fetter, großer Käfer zappelte. Wir wussten nicht, wie weiter. Der Lehrmeister wehrte sich schweigend. Einige Minuten vergingen. Dann ließen wir ihn wie auf Kommando los und sprangen zurück. Milch stand auf, rückte seine Jacke der Gesellschaft für Sport und Technik zurecht, schrie uns böse an: »Das werdet ihr büßen!« und verschwand. An dem Tag sahen wir ihn nicht mehr. Später erwähnte er den Vorfall nie. Aber offensichtlich hatten wir ihm Respekt abgerungen, er nahm sich ein wenig zusammen.
In der Diskothek
Mit meinem Mitlehrling Rolf besuchte ich die Diskothek im Haus der »Deutsch-Sowjetischen Freundschaft«. Rolf prahlte gern mit seinen Erfolgen bei Mädchen: »Ich habe an jedem Finger zehn!« Boxer sei er gewesen, behauptete er. Olympia-Kader der DDR! Er habe »wegen der Weiber« die Sportschule verlassen müssen. Rolf war als Kind mit seiner Familie aus Polen in die DDR gekommen. Oft erzählte er von seinen Verwandten in Polen. Riesige Höfe mit Scharen von Hühnern, Gänsen und Enten würden sie besitzen. Er müsse dort gebratene Hühnerkeulen, Eisbein und geräucherte Gänsebrust essen bis zum Erbrechen. Wir bezweifelten, dass seine Verwandten so gut lebten, aber keiner von uns war je im Ausland gewesen. Als Ingo einmal sagte, dass Rolfs Nachname polnisch klinge, hatte der mit seinem schwachen ausländischen Akzent aggressiv geantwortet: »Wir sind keine dreckigen Polen! Der Name Szalowskie ist ein kerndeutscher Name aus Schlesien!«
Es war fast unvermeidlich, dass wir zueinander fanden.
»Du willst doch auch in die Disko. Ich kann dich mitnehmen«, sagte Rolf eines Tages großzügig.
»Ich kann doch nicht tanzen!«
»Das ist doch leichter als scheißen. Los! Ich zeige es dir.«
Wenig später standen wir Arm in Arm im Zimmer.
»Tanzen lernt