Die neue Besiedlungswelle veränderte zunehmend die Aufgaben des Militärs. Bis zur Entwicklung des Nullzeit-Sturzantriebs waren Kolonien oft jahrelang auf sich alleine gestellt. Kam es zu Notsituationen, konnten sie mit keiner schnellen Hilfe rechnen. Nun war es möglich, sie in weniger als einem Tag zu leisten. Die Raumstreitkräfte waren zwar noch immer eine militärische und bewaffnete Streitmacht, aber zusätzlich wurde aus ihr eine interstellare Rettungstruppe gebildet.
Es gab noch zehn Regimenter der Sky-Cavalry, deren jeweilige Stärke von zweitausend Troopern auf sechshundert geschrumpft war. Jeder der Sky-Trooper war militärisch ausgebildet, verfügte jedoch auch über ein breites Basiswissen in den Bereichen Brandschutz, Rettung und medizinischer Erstversorgung. Jeder der drei Züge einer Kompanie wurden zudem für eines der Fachgebiete spezialisiert geschult.
Von den fünf noch im Dienst befindlichen Trägerschlachtschiffen waren drei als Rettungseinheiten umgerüstet worden. In ihren Hangars und Laderäumen stapelten sich Container und Module, mit Ausrüstung zur Bekämpfung jeglicher Art von Katastrophen, die eine besiedelte Welt treffen mochte.
Die Arcturus-Basis war nun nicht mehr nur der Hauptmilitärstützpunkt des Direktorats, sondern zugleich der Kern des interstellaren Rettungswesens. Sechs der aktiven Kavallerieregimenter waren hier stationiert und wurden immer wieder für den Einsatz gedrillt oder zusätzlich ausgebildet.
Für manchen Militärangehörigen war es eine schwierige Umstellung, doch die Alternative wäre die Entlassung aus dem aktiven Dienst gewesen. Keine verlockende Aussicht, wenn man bedachte, dass viele Soldaten aus den aufgelösten Regimentern kaum Arbeit fanden. Manche verdingten sich bei den Händlern, denn sie fühlten sich dem Weltraum verbunden, andere schlossen sich der Besiedlungswelle an.
Joana Redfeather war vor vier Jahren zum Major aufgestiegen und damit einer der jüngsten Kampfoffiziere, die ein Bataillon aus drei Kompanien befehligte. Sie galt als ausgesprochen erfahren. Sie hatte nicht nur an der Hanari-Mission teilgenommen, sondern auch den langen Krieg, zwischen den Shanyar und den menschlichen Überlebenden einer illegalen Minen-Kolonie, beendet. Mancher betrachtete das mit Neid, denn in den geschrumpften Raumstreitkräften waren Beförderungen und Kommandopositionen dünn gesät. Vor allem, wenn sie die Aussicht boten, aktiven Dienst im Weltraum zu leisten und dabei fremde Welten kennenzulernen.
Im Gegensatz zur Sky-Navy, deren Besatzungen durch die Patrouillenflüge doch einige Abwechslung genossen, verlief der Dienst bei der Sky-Cavalry eher eintönig. Drill und Ausbildung wechselten sich ab, doch es gab kaum einen Außeneinsatz. Innerhalb von vier Jahren hatte es zwei Übungseinsätze gegeben und zwei echte Hilfeleistungen für in Not geratene Raumschiffe. Den Sky-Troopern war daher jede Abwechslung recht und die Geburtstagsfeier für Joana Redfeather bot einen willkommenen Anlass. Wahrscheinlich war sie auch aus diesem Grund so groß geraten, denn immerhin nahmen fast dreihundert Gäste daran teil. Nicht alle kamen wegen Joana. Einige wollten sicherlich die Gelegenheit nutzen, um mit dem Hoch-Admiral ins Gespräch zu kommen und auf diese Weise ihre Verbindungen auszubauen und sich für eine Beförderung zu empfehlen.
Die meisten der Soldaten trugen ihre Uniformen. Die wenigsten verfügten über zivile Kleidung. Die Dienstbekleidung schien zeitlos und war seit fast hundert Jahren unverändert, was jedoch nicht für die zivile Mode galt. Was modisch war, bestimmte die Haute Couture auf dem Mars, und bis zur Einführung des Nullzeit-Antriebes waren Jahre vergangen, bevor der neueste Trend per Überlichtschiff zum Arcturus gelangte. Ein Soldat, der sich dann mit dem Aktuellsten einkleidete, war wiederum mehrere Jahre zum Mars unterwegs. Wenn er ankam, trug er Kleidung, die wahrscheinlich schon seit fünfzehn Jahren aus der Mode war. Da sich keiner als modischer „Hinterwäldler“ blamieren wollte, begnügten sich die Militärangehörigen mit ihren Uniformen. Auch hier bewirkte der Hiromata-Antrieb inzwischen sichtbare Veränderungen. Neuheiten vom Mars waren binnen kürzester Zeit in den Auslagen der Einkaufspassagen der Basis zu sehen.
Joana gehörte zu jenen, die über Zivilkleidung verfügten. Diese war ebenso zeitlos wie das Festgewand ihres Vaters, da sie ebenfalls die Stammestracht trug.
Es waren nicht nur Militärangehörige gekommen. Auch ziviles Personal und einige Vertreter der Handelsgesellschaften ließen sich blicken.
Einer von Letzteren fiel Joana Redfeather sofort ins Auge. Sie ließ sich nicht lange auffordern, als er sie zum Tanz bat. Der Mann hieß Hendrik und war ein durchtrainierter Hüne, intelligent und, vor allem, ausgesprochen amüsant. Beim Tanz kamen sie sich näher. Nahe genug, dass Joana bemerkte, dass er ein durchaus körperliches Interesse an ihr zeigte. Warum auch nicht?
Das Licht im Wald war längst in die Nachtphase gewechselt. Die meisten Gäste waren gegangen. Ein paar Hartgesottene versuchten die Reste des Buffets zu beseitigen. Einige der weniger Standfesten schliefen ihren Rausch auf dem weichen Boden aus. John Redfeather war nirgends zu entdecken und Mario Basari wohl einer der wenigen, die bemerkten, auf welche Weise Joana und Hendrik miteinander tanzten. Er lächelte verständnisvoll, als die beiden, schon bald darauf, zwischen den Bäumen verschwanden.
Es wurde der Abschluss eines wundervollen Geburtstages und Joana Redfeather genoss ihn in vollen Zügen. Ihre indianische Haut schien aus Bronze und Kupfer zu bestehen und mit der hellen Haut von Hendrik zu verschmelzen, als sich ihre Leiber vereinigten. Er war ein fantasievoller Liebhaber, mit jener Mischung aus Sanftheit und Fordern, welche Joana schätzte. Während seine Zunge ihre Lippen, den Mund und andere Stellen ihres Körper erkundete, dachte sie flüchtig daran, dass der Kuss wohl eine der wenigen Errungenschaften der Weißen war, für die sie als Indianerin tatsächlich dankbar war. Doch dieser Gedanke verflog rasch unter der gemeinsamen Leidenschaft, der sie sich hingaben. Es war die schönste Form der Erschöpfung, mit der sie beide schließlich zur Ruhe kamen und auf dem Waldboden einschliefen.
Das Erwachen war unangenehm und von einem pochenden Schmerz in der linken Schläfe begleitet. Joana Redfeather löste sich von Hendrik, der noch fest schlief. Sie beide lagen noch immer nackt auf dem Waldboden. Die junge Indianerin spürte Nadeln und kleine Zweige, die sich gegen ihre Haut pressten. Es war nicht schmerzhaft und für einen Moment genoss sie die Verbundenheit mit der Natur. Bis sich abermals das Pochen in ihrer Schläfe meldete.
Joana stieß einen leisen Fluch aus und richtete sich halb auf, während sie sich umsah. Es war dunkel, doch das Licht der Sterne ermöglichte es ihr, die Umgebung zu erkennen. Am Grillplatz waren zwei andere Schläfer zu sehen. Einer lag halb auf dem Tisch und schnarchte vernehmlich. Der andere hatte es sich auf einer der Bänke gemütlich gemacht. Nun bewegte er sich schwach, verlor den Halt und stürzte, unsanft geweckt, auf den Boden.
Der Schmerz in der Schläfe war unangenehm und langsam drang es an Joanas Bewusstsein, dass es sich nicht um die Nachwirkung von Alkoholgenuss handelte. Sie stöhnte leise und legte einen Finger an ihre Schläfe, spürte die winzige Erhebung des dort eingepflanzten Implants und rieb mit sanftem Druck darüber. Alle Angehörigen der Raumstreitkräfte und selbst die meisten Zivilisten trugen ein solches Gerät. Die miniaturisierte Hochleistungs-Tetronik funktionierte wie ein historisches Mobiltelefon und konnte zudem als Navigationshilfe genutzt werden. Die Reichweite war sehr gering und von den, in praktisch jedem Raum befindlichen, Übertragungsgeräten abhängig. Es gab Menschen, die befürchteten, durch das Implant jederzeit überwacht zu werden, und die daher darauf verzichteten, es sich einsetzen zu lassen oder es sich wieder entfernen ließen. Für die Angehörigen der Direktorats-Streitkräfte war es ein nahezu unverzichtbares Teil der persönlichen Ausrüstung.
Das rhythmische Pochen in Joanas linker Schläfe war nichts anderes als ein Signal, welches sie aufforderte, ihr Gerät einzuschalten. Es war auf die allgemeine Militärfrequenz eingestellt und Joana versteifte sich instinktiv, als sie die Bedeutung dessen begriff, was ihr über das Implant mitgeteilt wurde.
„An alle Besatzungsmitglieder der D.C.S. Trafalgar: Katastropheneinsatz! Einschiffung und Bereitschaft nach Prioritätsstufe A! Dies ist keine Übung!“