„Hier wohne ich“, stellt Zpixs lakonisch fest.
„Aber offensichtlich nicht allein. Wer sind deine Mitbewohner?“
„Meine Familie: Mein Bruder Zpoxs mit seinen drei Partnern, meine eigenen Lebensgefährtinnen Khtoko und M’xith, mein Frauenbruder L’minh, meine Leibesmutter, meine Schwestermutter, deren Leibesmutter, unsere sechzehn Kinder und vier Enkelkinder.“
„Meine Güte“, entfährt es Cora. „Und wo sind sie alle?“
„Die Erwachsenen und die älteren Kinder gehen ihren Pflichten nach, arbeiten und lernen, und die Kleinkinder und Alten genießen das Leben. Sie werden alle vor Morgenanbruch zurück sein. Dann essen wir zusammen, erzählen uns, was wir erlebt haben und gehen schlafen.“
„Dass du mit zwei Xinghi-Frauen zusammenlebst, habe ich verstanden, Zpixs, auch denke ich, dass deine Leibesmutter deine leibliche Mutter ist, aber wer sind dein Frauenbruder und deine Schwestermutter?“
„Er ist der andere Lebensgefährte meiner Frauen. Wir Xinghi heiraten meist zu viert, manchmal auch zu sechst. Die Schwestermutter ist die Lebensgefährtin meiner Leibesmutter und mir ebenso lieb. Ihre beiden Männer sind leider verstorben und zu den Wurzeln zurückgekehrt.“
„Zu den Wurzeln?“
„Ja, des Baumes, der unserer Sippe gehört. Dort haben wir sie begraben. Sie sind von ihm wieder aufgenommen worden und leben, wie alle Ahnen unserer Sippe, in ihm weiter. Wenn du ein Flüstern im Wind hörst, dann sind es vielleicht die Blätter des Baums, vielleicht auch ihre Seelen. Wir können ihre Worte verstehen.“
Sie verlassen das Haus. Cora betrachtet den Stamm des Baumes, von dem der mächtige Ast ausgeht, an dem die Wohntraube von Zpixs’ Sippe hängt. Er ist hier oben immer noch dicker als der Stamm der uralten Dorfeiche in Brenton, die auf dem Platz vor dem Gasthof steht, und unter deren Krone sich das ganze Dorf versammeln kann. Ein Kletternetz, dessen Maschen mit kurzen Bambusrohrstücken verbunden sind, die als Tritte dienen, führt hinauf und verschwindet im Laubgewölbe.
„Wohin geht es da?“, will sie wissen.
„Zum Dach des Waldes. Du hast den höchsten Baum der Ostlande vor dir. Ich bezweifle, dass es irgendwo auf der Welt einen größeren gibt. Und er gehört unserer Sippe.“
Da Cora nicht die Worte selbst, sondern die Gedanken ihres nichtmenschlichen Freundes hört, kann sie den Stolz wahrnehmen, der in ihnen schwingt.
„Möchtest du einen Blick von dort über die Länder des Ostens werfen?“
Das lässt sie sich nicht zweimal sagen und folgt dem Xinghi hinauf. Sie durchbrechen zum zweiten Mal ein Blätterdach und stehen auf einer Plattform hoch über dem Dschungel, die auf dem letzten, waagerecht verlaufenden Ast des Baumriesen errichtet ist, dessen Stamm hier immer noch so dick ist, dass ihn drei Menschen zusammen nicht mit den Armen umfassen könnten und der hinter ihnen noch weitere achtzig Fuß in die Höhe ragt.
Eigentlich ist Cora hierher gekommen, um einen Blick auf die Landschaft unter sich zu werfen, auf das Dschungelmeer, das sich weit in die Ferne erstreckt und dessen Wogen denen eines stürmischen und in der Zeit erstarrten Ozeans gleichen, oder auf die Berge, diese stummen Zeugen der Geschichte der gesamten Menschheit bis zurück zu Wathans Hammer, auf die weite Ebene, die Sümpfe und den breiten Strom bis hin zur Großen Kluft, aber ihr Blick verweilt nur kurz und wird dann von etwas anderem gefangen, weitaus beeindruckender als alles, was Cora bisher gesehen hat: vom Sternenhimmel.
Das samtartige Himmelszelt ist durchsetzt von Tausend mal Tausend und mehr glitzernden Diamanten, keiner von schwächerer Leuchtkraft als der hellste Stern, den die junge Frau zuvor mit ihren eigenen Augen erblickt hat. Sie erkennt kaum ein Sternbild wieder. Dort, wo vorher einige wenige die charakteristische Form gebildet haben, strahlen nun Dutzende, ja Hunderte mehr. Über dem Zenit glänzt die Milchstraße viele Male heller als in der sternenklarsten Nacht im Hochgebirge. Zarte Filamente schimmern in ihr, fadenartige Strukturen sind zu erkennen. Dunklere Wolken, eine sieht aus wie der Kopf eines Pferdes, verdecken an einigen Stellen ihr silbriges Schimmern. Funkelnde Sternhaufen, leuchtende Kugeln und Ringe, bizarre, zerfaserte Wolken, spiralige Nebel mit einem helleren Kern und langen aufgewickelten Armen, manche größer als die Sonnescheibe, sind über das Himmelsgewölbe verteilt. Wandelsterne in ihrem ruhigen, weichen Licht, ein Komet mit einem langen Schweif, der wie der Zeigefinger eines Gottes nach Westen zeigt, aufblitzende und verlöschende Sternschnuppen, die nachleuchtende Striche über die schwarze Leinwand ziehen, sind die langsamen und schnellen Wanderer zwischen den unverrückbaren Edelsteinen der Sterne, die so hell strahlen, dass Cora ohne Probleme ein Buch lesen könnte. Ihr Großvater hat ihr erzählt, dass die Seelen der Verstorbenen, die Gnade vor den Augen Wathan-Bejhis gefunden haben, dort wohnen, und dass die Astronomen siebentausend von ihnen gezählt haben. Sie hat sich immer gefragt, warum so wenige vor dem göttlichen Gericht frei gesprochen wurden. Sollte die übergroße Mehrzahl der Seelen in der Unterwelt bei Wathan-Kha Buße tun müssen? Jetzt blickt sie zur Vergangenheit der Menschheit hinauf, auf unzählige Generationen, auf Millionen und Abermillionen Erlöster, und sie dankt Wathan für seine Gnade.
Lange Zeit steht sie ehrfürchtig schweigend da und genießt das Wunder mit den Nachtaugen des Xinghi. Dann haucht sie:
„Danke, Zpixs.“
Ihr Begleiter wendet sich ihr zu:
„Wir sollten jetzt gehen, Cora. Ich möchte heute noch vor den Rat treten und ihm euer Anliegen um meine Hilfe vortragen. Du kannst leider nicht dabei sein. Du musst zurück. Es ist nicht gut, wenn ein Körper zu lange von seiner Seele getrennt ist. Komm jetzt.“
Sie klettern hinab.
Spin erwachte mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Etwas stimmte nicht, das spürte er mit seinen Waldläuferinstinkten. Es war noch fast dunkel, aber der schwache Schimmer der Morgendämmerung suchte sich bereits seinen beschwerlichen Weg durch die Lücken im Dschungeldach hinab zu der kleinen Lichtung.
Er setzte sich auf und blickte sich um. Ein trockenes Rascheln war es gewesen, das ihn geweckt hatte. Er kannte das Geräusch, wenn Schuppen über Schuppen glitten. Dann entdeckte er sie: Die sich häutende Schlange lag auf der Brust der schlafenden Cora. Eine nur einen Fuß lange Giftnatter, eines der tödlichsten Tiere überhaupt, besonders, wenn sie ihre Haut wechselte.
Die kleine Schlange wirkte erregt. Die alte, zu enge Haut abzustreifen, musste anstrengend und beschwerlich sein. Es bereitete ihr Unbehagen. Sie könnte einem Feind nicht entfliehen, der sie jetzt angriffe, und war daher äußerst reizbar. Jede plötzliche Bewegung Coras würde sofort zum tödlichen Biss führen. Zum Glück schlief die junge Frau tief und fest. Ihre Brust hob und senkte sich fast unmerklich. Es schien, als habe gerade dieses sanfte Schaukeln die Schlange ein wenig