Der Vorarbeiter verließ seine Leute, die es sich auf dem Boden gemütlich machten und ihre Vesper auspackten, und ging zu einem Seitenstollen, dessen Eingang ein paar Schritte abseits lag. Er hob die Lampe und leuchtete in den dunklen Gang. Weit reichte der Lichtschein nicht. Er trat hinein und folgte dem Stollen. Mit fachmännischem Blick begutachtete er die grau glänzenden Streifen in den Wänden. Die Silberader wurde umso unergiebiger, je weiter er vordrang. Dieser Stollen verband zwei Teile des Bergwerks – die tiefer gelegene alte und die neue Grube, in der sie jetzt arbeiteten. Die alte Grube hatte die Minenleitung nach einem Wassereinbruch stilllegen lassen. Die Arbeiter hatten versehentlich einen unterirdischen Fluss angebohrt, wodurch die meisten Stollen vollliefen. Diese alten Schächte und Gänge waren zur fixen Idee des Vorarbeiters geworden. Er glaubte an das Gerücht, dass es dort noch Unmengen an Silber gab, das nur darauf wartete, abgebaut zu werden. Die Minenleitung wollte davon nichts wissen, und deshalb stellte er Ermittlungen auf eigene Faust an. Er hoffte, im verlassenen Teil auf eine ergiebige Ader zu stoßen und reich zu werden. Der größte Teil des Wassers war wieder abgeflossen, sodass ihm seine Erkundungsgänge, die er – zur Belustigung seiner Leute, die ihn hinter vorgehaltener Hand als Narren bezeichneten – in den Arbeitspausen machte, einigermaßen ungefährlich schienen.
Er hielt die schwere Grubenlampe an ihrem Henkel in seiner Rechten. Sie baumelte in Kniehöhe, und ihr schwankender Schein warf einen zwei Schritte weiten Hof. Es wäre zu kraftraubend gewesen, sie wie eine Fackel ständig hochzuhalten. Außerhalb dieses Kreises herrschte tiefes Dunkel. Aber er musste auch nicht weit sehen. Es genügte ihm, die Stollenwände nach dem Glänzen des Silbererzes abzusuchen. Nach einigen Minuten erreichte er einen steilen Quergang, durch den Wasser in einer Rinne floss. Diesem folgte er weiter abwärts. Er bog um eine Ecke und hielt erschrocken an.
Vor ihm bewegte sich etwas. Ein großer Schatten kroch auf ihn zu. Er hob die Lampe über den Kopf, sodass ihr Lichtschein darauf fiel. Als er die Alptraumkreatur erblickte, ließ er die Laterne fallen, wandte sich mit einem erstickten Schrei um und rannte um sein Leben. Er kam gerade mal zehn Schritte weit, bevor sein Verfolger die Flucht mit brutaler Gewalt beendete.
Blut färbte das Wasser des Rinnsaals im Schein der zerborstenen aber noch flackernden Grubenlampe rosarot. Die Hyäne hielt sich nicht lange mit Fressen auf und ließ die zerfleischten Überreste des Vorarbeiters zurück. Sie wollte töten. Nicht weit entfernt erklangen die Stimmen weiterer Menschen. Sie betrat einen Gang, an dessen Ende Licht schimmerte. Sie schlich näher. Dort, im Schein heller Lampen, saßen zwei Zweibeiner mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden. Sie fraßen etwas. Die Hyäne hielt sich außerhalb des Lichtkreises und beobachtete die Männer. Ihre Spitzhacken, in den Augen der Kreatur gestielte Zähne ähnlich der Sense des Bauern, der sie verletzt hatte, lagen ein Stück entfernt auf dem Boden. Die Menschen schienen also schutzlos und ungefährlich. Sie konnte sich Zeit lassen und das Töten genießen. Mit gierig aufgerissenem Rachen, aus dem schleimiger Sabber tropfte, trat sie in den Lichtkreis und blickte in die schreckensgeweiteten Augen der Männer.
Als Idu mit dem leeren Karren um die Biegung kam, scheute sein Esel. Das Tier witterte den warmen, süßlichen Geruch zuerst. Als auch Idu ihn wahrnahm, erblickte er einen bläulich-grauen Darm, der sich wie eine sterbende Schlange in einer Blutlache ringelte und noch schwach bewegte, als die gärenden Gase aus ihm entwichen. Der Ekel würgte ihn, und er übergab sich vor seine Füße. Sein Verstand erfasste die Szene, die sich seinen Augen bot, nur langsam: Die Wände des Stollens mit Blut vollgespritzt; überall Leichenteile. Der Leichnam von Besia vom Hals bis zum Schambein aufgerissen und entleert. Nur ein halber Lungenflügel ragte aus dem Brustkorb; der Rest verschwunden. Der Torso eines anderen Mannes mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ohne Arme, Beine und Haupt. Der Kopf von Merkath, seinem Freund, ein Stück weit entfernt auf dem Boden, das zertrümmerte Schädeldach zuunterst, aus dem Halsstumpf ragte ein Stück der Wirbelsäule heraus. Den Gesichtsausdruck des Toten sollte Idu sein Lebtag nicht mehr vergessen.
Sie fanden die Leiche des Vorarbeiters einen Tag später in der alten Grube. Drei weitere Männer galten als vermisst. Der schwer bewaffnete Suchtrupp durchkämmte alle bekannten Stollen und Gänge, aber sie blieben spurlos verschwunden. Stattdessen fand man seltsame Fußspuren: Eindrücke an sandigen Stellen, ähnlich den Abdrücken eines Wolfs, nur viel größer, deren Tiefe auf ein Gewicht schließen ließ, das dem eines ausgewachsenen Ochsen gleichkam. Die Silbermine blieb drei Tage lang geschlossen, dann befahl ihr Leiter, dass die Männer wieder an die Arbeit gehen sollten. Jedem Schürftrupp stellte man zwei bewaffnete Wachleute zur Seite. Viel zu wenige, wie sich herausstellte, denn in den nächsten Tagen verschwanden zwei Trupps einschließlich der Soldaten, die sie schützen sollten. Die Minenleitung sandte einen berittenen Boten mit einem Hilferuf zur nächsten Stadt.
Das Gasthaus
Das Gebäude, das etwas abseits der Ortschaft an der Reisestraße zwischen dem Rabengebirgspass und der Stadt Rhynian stand, erschien – zumindest in dieser Region Orinokavos – außergewöhnlich, denn es war im südländischen Stil der Eroberer gebaut. Das hatte seinen Grund: Der Besitzer hatte südländische Vorfahren. Genau genommen war er sogar ein entfernter – sehr entfernter – Verwandter des Kaisers, ohne allerdings davon zu wissen. Und er hielt sich für einen Patrioten, stolz auf die großartige Kultur seiner Vorfahren.
Vor mehr als einhundertdreißig Jahren waren die Südländer unter der Führung des Feldherrn Orino Kavo mit einer großen Flotte gelandet und hatten die Mitte und den Norden des zerfallenen Alten Königreichs nach kurzem Krieg eingenommen. Lediglich an Koridrea bissen sie sich die Zähne aus. Aus den unwirtlichen Ländern Pheldae und Vulcor zogen sie sich aber bald wieder zurück, da ihr Heer zu klein war, um die weiten Landstriche auf Dauer zu besetzen und gegen die ständigen Überfälle der Aufständischen zu verteidigen. Orino Kavo, der seinem Bruder im Streit um die Thronfolge im südlichen Reich unterlegen war, schien vorläufig zufrieden mit seiner Eroberung und ließ sich zum Kaiser des neuen Staates, dem er seinen Namen gab, krönen. Er gierte nach Macht, war aber auch klug und wusste, dass er sich nur halten konnte, wenn er die einheimische Bevölkerung für sich einnahm. Die klügsten Köpfe unter ihnen holte er sich als Berater an den Hof. Jeder seiner neuen Untertanen erhielt einen erheblichen Geldbetrag oder ein Stück Land. Mit den Eroberern kamen neue Freiheit und Aufklärung, die das dunkle Zeitalter ablöste, ins Land. Der neue Herrscher revolutionierte die Gesetzgebung und schaffte die Privilegien der Adeligen (mit Ausnahme der Mitglieder der kaiserlichen Familie) ab. Alle Bürger besaßen nun die gleichen Rechte.
Allerdings gab es auch Repressionen. So führte Orino Kavo die südländische Sprache als neue Landessprache ein. In allen Ämtern sprach man sie, in den Schulen durften die Lehrer nicht mehr im Idiom der Einheimischen unterrichten, und die Besetzer ließen fast alle Bücher in ihre Sprache übersetzen. So kam es, dass der Wortschatz der Urbevölkerung in wenigen Generationen fast ausstarb.
Der Versuch, die Vielgötterreligion der Südländer einzuführen, scheiterte allerdings. Die Einheimischen verteidigten ihren Glauben an Wathan mit Inbrunst, und der Widerstand gegen die neuen Götter war so stark, dass der Sohn des ersten Kaisers, Orino Seka, ebenfalls weise wie sein Vater, gleich am Anfang seiner Herrschaft die Freiheit der Religion in Orinokavo verkündete. Seka erkannte schnell die Vorteile des Monotheismus und konvertierte schon bald zum Wathanismus.
Die Eroberer brachten neben fortschrittlichen Wissenschaften auch ihre großartige Kultur mit. Und so entstanden überall Häuser, Paläste und Wathan-Tempel im südländischen Stil, von dem der damalige Pridemus so angetan war, dass er seinen Amtssitz nach Lankoma verlegte, als der Kaiser ihm dort einen prachtvollen Großtempel errichten ließ.
Die Soldaten der Eroberer heirateten einheimische Frauen und Mädchen, diese bekamen Kinder, sodass sich die Bevölkerung nach wenigen Generationen durchmischt hatte. In den Adern der meisten Bürger Orinokavos floss nun ein wenig südländisches Blut. Alles in allem nahm das Land eine gute Entwicklung bis zu dem verhängnisvollen Augenblick, als sich der letzte Kaiser, Orino Toko, entschloss, sein Reich zu vergrößern und Koridrea anzugreifen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Kommen wir zurück zu dem auffälligen