Deutschland 1800 - 1953. Jürgen Ruszkowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Ruszkowski
Издательство: Bookwire
Серия: gelbe Buchreihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783752913613
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kaum beschreibbare und ihm bis dahin völlig unbekannte Elendswelt auf, und er gewinnt Einblick in sie auf seinen Wegen in die Hütten der Armut, in die Kellerwohnungen und die Hinterhäuser, wie sie außer in Hamburg wohl damals kaum zu gewinnen war. Er sieht das Kinderelend jener Zeit, da die Kinder von früh auf zum Broterwerb der Eltern beitragen mussten. Sie gingen in Fabriken, boten Grünwaren und Früchte an, Schwefelhölzer und Zigarren, Kalender und viele andere Dinge. Die Schule konnten sie nicht besuchen, weil sie keine Zeit dazu hatten, keine Schuhe an den Füßen und nur notdürftige Kleidung auf dem Leib. Einen dieser Jungen, den Wichern als „Findling“ irgendwo aufgelesen hatte, wird er ein Jahr darauf als ersten Zögling mitnehmen in das neu zu gründende Rettungsdorf in Horn. Wichern fand diesen Jungen in der Wohnung und in den Händen eines ‚Trunkenboldes’. „Der 16jährige Knabe war fast so tierisch roh, wie man uns die in den Wäldern der Ardennen früher eingefangenen Kinder geschildert hat. In dem armen Jungen hatte sich kaum die erste Regung des Schamgefühls entwickelt, und sein Sprachschatz bestand aus sehr wenigen, seltsam gestalteten Wörtern. Über seine uns lange dunkel gebliebene Abkunft hat uns erst ein schmutziges Papier belehrt, welches sich in der Rocktasche des bald danach verstorbenen sauberen Pflegevaters vorfand. Er gehört zu den unglücklichen Kindern sträflicher Verbindung, welche von ihren verbrecherischen Eltern schon gleich nach der Geburt, mit einem dürftigen Reisepfennige versehen, auf die Wanderschaft geschickt, das heißt samt einer geringen Mitgift für immer armen Leuten übergeben werden, welche des blanken Sümmchens froh, ohne Zaudern allerlei Verpflichtungen unterschreiben, die sie so wenig kennen als zu halten imstande sind. Die Eltern hatten sich von ihren Pflichten auf rechtliche Weise losgekauft und bekümmern sich um ihr Fleisch und Blut nicht mehr!“ Auch der trunkene Pflegevater hatte sich um ihn nicht weiter gekümmert – nun ist er einer der Schutzbefohlenen des Besuchsvereins, eines der vielen Kinder, die den Männern und Frauen, die dies Elend erlebten, den Gedanken nahelegt, solch gefährdeten Kinder aus einer verwahrlosten Umgebung heraus zu holen, um ihnen eine liebeerfüllte und sie behütende Heimat zu geben.

      Mit den Mentoren seiner Studienzeit wird so der Gedanke einer Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder entwickelt. So fügt sich ein Glied zum anderen, und am Ende bietet sich der Plan zur Gründung eines Kinderrettungsdorfes ganz von selbst.

      Im Kreise dieses Männlichen Besuchsvereins sitzen die jungen Leute an einem Oktoberabend 1832 wieder beisammen. Es ist im Haus des Schullehrers Hoffmann, und es sind dabei einige schlichte Handwerker, einige junge Theologen, ein Oberpostsekretär und ein Kondukteur, junge Männer aus verschiedenen Volks- und Bildungsschichten, aber eins in der Liebe zu ihrem Herrn und eins unter seinem Gebot: „Lasset die Kindlein zu mir kommen!“ Auf der Suche nach einem helfenden Ausweg aus dem bedrückenden Kinderelend wird in dieser Stunde zum ersten Mal der Gedanke laut, es müsse auch in Hamburg eine Anstalt geben, in der Eltern, die es nicht selbst vermöchten, ihren Kindern eine christliche Erziehung zuteilwerden zu lassen, geholfen werden könne. Was es im Württembergischen Korntal gäbe, im Schloss Beuggen in Baden, in Düsselthal am Rhein, das müsse auch in Hamburg gegründet werden. Da hat wohl der Graf Adelbert v. der Recke Pate gestanden, der schon 1826 mit dem Lehrer Pluns in brieflicher Verbindungstand. Schon Martin Luther hatte seinem Vater in einem Brief darüber geklagt, dass man keine Stiftung habe, „worin man die jungen Knaben in guten Ordnung hielte, dass sie nicht irre liefen, damit ihre Jugend im Zaum gehalten würde“. Und während sie so sitzen und sprechen, wächst aus dem Fragen und Suchen ein Plan und ein Ziel: Wir gründen auch in Hamburg ein Rettungshaus. Aber Wichern fährt dann in seiner Erzählung fort: „Hätten wir unsere Unwürdigkeit und unser Unvermögen angesehen, so hätten wir das Vorhaben weit hinter uns werfen müssen; denn wie wir vor Gott keines Dinges rühmen konnten, so waren wir auch vor Menschen nichts. Wir alle waren nicht bloß Männer, die selber nicht mehr hatten, als was sie für sich und ihre eigenen Familien bedurften, also für fremde Kinder keine Häuser bauen konnten, sondern waren auch der großen Menge unbekannt und überdies Neulinge, ein öffentliches Werk zu übernehmen. Aber je mehr wir solches Unvermögen aller Art an uns selber kannten, desto lebendiger und getroster mussten wir auf Den bauen, dem alles Vermögen innewohnt und der Sein Wort und Seine Verheißungen uns nicht vergebens gegeben haben will. In diesem Geiste schieden wir an jenem 8, Oktober voneinander, jeder mit dem Versprechen gegen den andern, die hochwichtige Sache vor dem Herrn zu erwägen. Dabei wurde aus dem Munde eines Handwerksgesellen, der unser Genosse war, die Hoffnung laut, dass der Herr auch ein Zeichen Seines Wohlgefallens zur Ermutigung unsers Glaubens geben könne.“ Und begegneten sich die Freunde in den folgenden Wochen, so fragten sie wohl einander: „Betest du fleißig, dass der Herr uns Seinen Willen und Seine Wege zeige?“

      Die nächste Zusammenkunft war für den November vorgesehen, aber schon nach zwei Wochen trug sich etwas zu, was die Freunde als Gottes Einverständnis mit ihrem Plan und als „Handgeld“ deuten durften. Am Vormittag des 25. Oktober war bei dem Oberpostsekretär Hachtmann ein Mann erschienen und hatte ihn gebeten, einen Betrag von 300 Mark als „Reumiete“ anzunehmen. Er brächte das Geld ihm, weil er ja so viel von Armen wisse. Die Verwendung des Geldes überlasse er ihm, aber am liebsten möchte er die Summe für eine erst zu gründende Stiftung verwandt sehen. „Das war“, so fährt Wichern fort, „ein Handgeld vom Herrn. Unvergesslich bleibt mir die späte nächtliche Stunde, in welcher der teure Empfänger mich aufsuchte, voll Lobes und Dankes für dies ermutigende Zeugnis göttlicher Hilfe.“

      Nun war es damals in Hamburg Brauch, dass der Empfang solcher Spende für öffentliche Zwecke auch öffentlich bescheinigt wurde, und solche Bescheinigung musste geschehen durch einen Mann, dessen Name Ansehen und Gewicht hatte. Als solchen baten die Freunde Senator Hudtwalcker um diesen Dienst, und so wurde zum ersten Mal der Plan des Rettungshauses öffentlich bekannt – schon wenige Wochen, nachdem er im Kreis des Männlichen Besuchsvereins laut geworden war. Nur muss um der Wahrheit willen hier gesagt werden, dass dieser Plan in dem Herzen des jungen Wichern schon lange vorher lebendig war, ja dass er ihn so stark innerlich bewegte, dass er „halbe Nächte darum in seinem Bett durchwachte“.

      Zum andern traf es sich, dass Senator Hudtwalcker Verwalter des Testaments eines Quartiermannes, A. W. Gehrken, war, in dem der Erblasser für verschiedene christliche Zwecke, unter anderem für ein künftiges Rettungshaus, mehrere Tausende eingesetzt hatte.

      Dadurch, dass Hudtwalcker von der Absicht der Freunde hörte und ihrem Freundeskreis beitrat, erhielt der Plan der unvermögenden Männer greifbare Gestalt, denn es eröffnete sich ihnen die Aussicht auf ein Vermächtnis von 15.800 Mark.

      Aber er macht ihnen auch klar, dass sie nicht als Besuchshelferkreis ihren Plan verwirklichen können. Sie müssen nach geltendem Anstaltsrecht die Gründung durch ihn vorbereiten lassen.

      „Am 12. November“, so lesen wir, „versammelte sich unser kleiner Besuchsverein wieder. Wir waren jetzt, die wir vor damals vier Wochen noch nichts gehabt hatten als das Gebet, die Verheißung und den Glauben an dieselbe – schon, wir konnten es selbst kaum glauben, in den Besitz von 7.000 Reichstalern Geldes gekommen. Wer anders hatte den reichen Tisch gedeckt als der himmlische Stifter des Hauses! Er wollte uns verstehen lehren, wer da sind ‚die Armen, aber die doch viele reich machen, die nichts innehaben, und doch alles haben’. Unsere Herzen waren Altäre voll des Lobes und Dankes.“

      Am Tage darauf besuchte Johann Hinrich Wichern, wohl auf Veranlassung von Senator Hudtwalcker, den Syndikus Sieveking auf seinem Landsitz in Hamm vor den Toren Hamburgs. Die Eltern (der Vater war Kaufmann in Hamburg) der Frau Syndika, Caroline Henriette, einer geborenen de Chapeaurouge, hatten, einst von Pestalozzi angeregt, in ihrem Hammer Parkgelände ein Haus errichtet, in dem arme Kinder erzogen und für den Handwerkerberuf vorbereitet wurden. Das gut gemeinte Unternehmen machte aber sowohl den Gründern wie auch ihren Kindern und Erben aus mancherlei Gründen wenig Freude. Schließlich mussten sie sich entschließen, es aufzugeben, und just an diesem 13. November, als Wichern den Senatssyndikus besuchte, hatte am Vormittag der letzte Junge das Haus verlassen.

      Am 30. April 1833 betritt es Wichern erstmalig mit Sieveking, und am 31. Oktober 1833 zieht Wichern mit seiner Mutter, seiner Schwester und einem seiner jüngeren Brüder unter das Strohdach des Rauhen Hauses ein. Wenige Tage später kommen die ersten drei Knaben, die zu den verkommensten Kindern der Stadt gehörten. Einer unter ihnen, ein sechzehnjähriger Bursche, dessen Sprachschatz nur aus wenigen Worten bestand, hatte bisher in einer schauerlichen