Deutschland 1800 - 1953. Jürgen Ruszkowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Ruszkowski
Издательство: Bookwire
Серия: gelbe Buchreihe
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783752913613
Скачать книгу
dieses Angebot als vom Volke, „aus der Gasse kommend“, entrüstet abgelehnt hatte, löste sich das Parlament auf. Neue Unterdrückungen und Krawalle gegen die Juden folgten.

      Zahlreiche Juden ließen sich nun taufen, um damit, in den Worten Heinrich Heines, „das Entréebillet zur Gesellschaft“ zu erwerben. Wie Heines Beispiel zeigt, half es nicht viel. (Im Gegensatz dazu wurde der als Kind getaufte Benjamin Disraeli Premierminister des britischen Empire und enger Vertrauter von Königin Viktoria. Disraeli betonte sein ganzes Leben lang in Wort und Schrift sein jüdisches Erbe.)

      * * *

      Johann Hinrich Wichern in Hamburg-St.-Georg

       Johann Hinrich Wichern in Hamburg-St.-Georg

Grafik 45

      In seinen Notizbüchern und in einem umfangreichen Manuskript „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben“ hat der junge Wichern viel von der schreienden Armut und der trostlosen sittlichen Verwahrlosung festgehalten, die ihm auf seinen Besuchen im ‚Gängeviertel’ Hamburgs entgegentraten. Er fertigt Protokolle an, wobei er in Kontenbüchern auch die familiären und gesundheitlichen Zustände der Kinder vermerkt. Diese Aufzeichnungen suchen an Schärfe der Beobachtung und an der Hingabe am Einzelfall ihresgleichen. Hier findet man eine interessante Parallele zu dem Bild, das etwas später Friedrich Engels von der Lage der arbeitenden Klasse in England entwirft.

Grafik 53

      Großfamilie in einem Hinterhof in Hamburgs Gängevierteln

      Was hindert uns, hineinzugehen in die Hütten des Unheils, an welche wir hier gedenken, den Jammer mit eignen Augen zu sehen und die armen Leute zu bitten und zu ermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes?...

      Dieser von Rautenberg schon 1830, als Wichern noch in Göttingen studierte, begründete, und von dem jungen Wichern geführte Besuchsverein, stößt hinein in die entlegensten Hinterhöfe der Armut und des Elends, in die dunkelsten Schlupfwinkel leiblicher und seelischer Verwahrlosung, in einen bisher nicht für möglich gehaltenen, von einem wohlbehüteten und wohlsituierten Bürgertum bisher nicht gekannten Abgrund sozialer Verlorenheit und menschlicher Verkommenheit. In einem späteren Bericht ist zu lesen: „Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel. Die rohe Befriedigung der niedersten Bedürfnisse ist’s allein, was sie noch suchen. Alles andere haben sie aufgegeben. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr in der Welt, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung.

Grafik 56

      Familie in einem Hof in Hamburgs Gängevierteln

      Innerhalb ihrer Kreise zerstören sie alle Ordnung völlig und am letzten Scheit lodert das Gesetzbuch häuslicher Zucht und Sitte auf. Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jeder seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens Lust. Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unseren Türmen.“ Wichern zog selbst durch die Elendsquartiere und Lasterhöhlen, und sah in die tiefsten Tiefen der Not und des Unglaubens hinein. Er gewann Eindrücke von der Verelendung und Gefährdung, Abstumpfung und Verbitterung der breiten Masse, die ihn nicht mehr losließen und für die Zukunft seinen Weg und sein Werk bestimmten und prägten.

      Da ist das berüchtigte Gängeviertel in Hamburg, eine dunkle Ecke, ein muffiges Hinterhaus. „Durch den lichtlosen Flur muss man sich nach der Tür tasten. Hinter der Tür: nur trübes Licht im dunklen Raum. Schnapsflaschen auf schmutzigem Tisch. Und ein Geruch von Verwesung und Moder. Kartenspielende Männer. Eine Frau rekelt sich winselnd auf der wackligen Bettstelle, wirr hängen ihr die öligen Haare ungemacht um den Kopf. „Du versoffenes Aas!“ schimpft einer der Männer, dem selbst der Trunk und das Laster im Gesicht geschrieben stehen. In einer Ecke ein Knäuel sich balgender Kinder. Gezänk um eine Kruste Brot. In den Augen der offene Hunger. Auf dem Tisch der Schnaps. Nur fluchende Männer und ein heulendes, betrunkenes Weib, das den Namen „Mutter“ kaum noch verdient. „Guten Tag – wir kommen von der Sonntagsschule – wir möchten Ihre Kinder abholen!“ Spottende Flüche und höhnisches Gelächter – und dann die Antwort von einem der Männer: „Meinetwegen – Ihr könnt sie haben – alle! Haut ab – dann sind sie aus dem Wege.“ Und einer der Schnapsbrüder schreit: „Ihr könnt sie behalten – umsonst – Ihr könnt sie geschenkt bekommen.“ Beklommen trippeln die Kinder an der Seite des fremden freundlichen Mannes – es ist der junge Wichern – zur „Sonntagsschule“. Dort werden sie gewaschen und gespeist und lernen singen, beten, auch schreiben, rechnen und lesen, und lernen fröhlich und dankbar sein.

      Freilich, viele Bemühungen, leiblich und geistlich zu helfen, sind oft wie Tropfen auf heißem Stein, und helfende Hände werden von den Verständnislosen in Verbitterung und mit Hohn zurückgewiesen: „Baut diesen Versunkenen die schönsten Schulen vor die Tür, ihre Kinder werden den Weg darüber hin durch Fenster oder Ziegel finden. Bauet sie mit derselben ein; sie werden euch die Kinder mit List und Gewalt entführen. O fürwahr, Freunde, wenn der Geist christlicher Gemeinschaft und Zucht nicht besondere starke Dämme gegen diesen reißend wachsenden Strom des Unheils aufführt, so mögen wir zehn Schulen in jeder Gasse errichten – ein großer Teil des aufkeimenden Geschlechts wird doch nicht viel besser werden.“

      So war die Einrichtung der Sonntagsschule – das erkannte Wichern sehr klar – für die gefährdete Jugend zunächst nur eine halbe Hilfe. Was war damit schon viel getan, wenn man die Kinder nur am Sonntag für kurze Stunden aus den Gassen und Gossen herausholte, und wenn man sie dann die ganze Woche über wieder in den Schmutz und das Laster ihrer Umwelt zurückschickte.

      Wenn man diesen jungen Menschenkindern wirklich helfen wollte, war ein dauerndes Herauslösen aus dem verderblichen Einfluss und ein Verpflanzen in einen neuen Mutterboden dringend von Nöten. So reifte denn bei Wichern und bei seinen Freunden und Mitarbeitern der Plan, nach dem Beispiel des Grafen von der Recke in Düsseltal, und eines Johannes Falk in Weimar, und nach dem Vorbild des Halle’schen Waisenhauses, zur Gründung eines Rettungshauses aufzurufen. Ihm schwebte eine freundliche Heimstatt vor, in der die verlorenen und verirrten Kinder zu kleinen Familiengruppen zusammengefasst, wieder Elternliebe und Heimatgefühl erfahren dürfen, und in Geborgenheit und Nestwärme, aber auch in Ordnung und Pflichterfüllung Vertrauen zu sich selbst und zu den andern finden, und wie Kinder fromm und fröhlich sein können.

      In einem Brief schildert Wichern seine Hoffnungen und Pläne: „Ich denke an eine kleine christliche Kolonie, wo Haus an Haus steht, und die Häuser unter Hilfe von Knaben aufgebaut werden; und soll sich die Anstalt zu einem Mittelpunkt eines christlichen Lebens bilden, von welchem aus unser Volk im tiefsten Grunde erfasst und aus seinem Sumpf heraus in die neue Welt Gottes hineingestellt wird. Wer ein solches Kind jemals gesehen, der würde die Angst und Tiefe des Bedürfnisses in den Seelen dieser Kinder begreifen, und könnte dem heiligen Triebe, zu retten nicht widerstehen. Wer wollte nicht teilhaben am Werk der Rettung, wer nicht helfen, Hütten der schützenden, bessernden, der Leben bringenden Liebe zu bauen.“ Wichern wirbt und wartet und bittet.

      Wichern erkennt die Aussichtslosigkeit, sittlich bedrohten Kindern in der Sonntagsschule durchgreifend zu helfen, wenn sie im Bannkreis ihrer zerrütteten Familie bleiben. Was hatte er denn gesehen? In einer Lumpensammlerfamilie schliefen vier Personen auf einem Strohsack unter einer Decke. Viele Kinder liefen fast nackt herum. Knaben banden ihre zerlumpten Sachen mit Bindfäden zusammen. Ein sechzehnjähriges Mädchen hatte sich seit seinem fünften Lebensjahr ohne jede Aufsicht herumgetrieben. Kinder wuchsen ungetauft, unkonfirmiert und ohne Schulunterricht auf. Wenn junge Burschen mit jungen Mädchen zusammenliefen, dann unterblieb fast selbstverständlich die Trauung. Einen zwanzigjährigen jungen Mann fand Wichern mit einem sechzehnjährigen Mädchen und mit einer öffentlichen Dirne zusammen hausen. Kindesmisshandlungen fielen nicht auf. Einmal traf Wichern selbst die Kinder eines Trunkenboldes betrunken an. Furchtbare Frauenschicksale entrollten sich vor seinen Augen.

      Durch