4467 Tage oder Der Rache langer Atem. J. U. Gowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. U. Gowski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752986945
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      »Hey das ist kein Panzer«, rief Meyerbrinck und trat aufs Gaspedal.

      4.

      Koslowski lief zurück zur Marienburger Straße 9. Ein typischer Ost-Berliner Altbau. Noch unsaniert mit bröckelnder rissiger Fassade, aus der Eisenträger herausragten. Rostige Erinnerungen an früher mal vorhandene Balkone. Das Haus benötigt dringend eine Sanierung, dachte Koslowski und öffnete die schwere hölzerne Haustür. Es empfing ihn ein Geruch aus einer Mischung von Urin und feuchtem Moder. Unterhalb des Lichtschalters las er eine alte, mit einer Schablone aufgetragene ehemals rote Inschrift: Hier ist keine Latrine! Dem Geruch nach zu urteilen konnten einige Mitmenschen mit dem alten deutschen Wort nichts anfangen. Die Treppe knarrte, als er das dunkle Treppenhaus hinaufstieg. In der dritten Etage stand vor der linken Wohnungstür eine Streifenpolizistin. Sie war eine unscheinbare Person mit aschblonden Haaren, die sie zu einem Zopf nach hinten gebunden hatte. Die grüne Uniform wirkte an ihr zu groß und machte sie nicht attraktiver. Aber auch der Sexappeal einer Veronica Lake würde in dieser Uniform verkümmern, dachte Koslowski. Es soll ja bald neue geben. Wie nannte Meyerbrinck die Entwürfe für die neuen Uniformen: The American Style. Die blonde Polizistin und er kannten sich vom Sehen, das Ersparte Koslowski seinen Dienstausweis zu zeigen. Ein kurzes Hallo reichte. Er betrat die Wohnung. Im Wohnungsflur stand der Partner der Polizistin, ein weißhaariger sehniger Mann von Mitte fünfzig mit einem anderen Mann im blauen Overall, der stark schwitzte. Seine dunkelbraunen Haare klebten am Kopf. Der schwitzende Mann schien vom Schlüsseldienst oder der Hausmeister zu sein. Den Polizisten kannte Koslowski schon seit Jahren. Ein ruhiger, zuverlässiger Zeitgenosse. Nur seinen Namen vergaß Koslowski immer wieder.

      »Tag«, begrüßte er ihn knapp.

      »Guten Tag«, erwiderte der Weißhaarige freundlich.

      »Sie sind vom Schüsseldienst?«, wandte sich Koslowski an den Schwitzenden.

      »Ja«, antwortete der beflissentlich und wischte sich nervös mit einem karierten Taschentuch über das gerötete Gesicht.

      Koslowski hatte das Gefühl, dass die Haare, die dem kleinen Mann an der flachen Stirn klebten, sich dabei keinen Millimeter bewegten.

      »Was ist passiert?«, fragte Koslowski den Polizisten.

      »Die Mutter des Toten, Elisabet Meyer hat die Notrufzentrale angerufen, weil er sich nicht wie versprochen bei ihr gemeldet hatte. Sie machte sich Sorgen. Er war wohl noch nicht lange wieder in Berlin. Die Mutter meinte, er wäre depressiv. Außerdem war er wohl geistig etwas zurückgeblieben. Nach dem Anruf sind wir hierher gefahren. Ich habe an der Tür geklingelt, geklopft. Keine Reaktion. Meine Kollegin hatte inzwischen den Schlüsseldienst angerufen, um die Tür öffnen zu lassen. Ich bin in die Wohnung gegangen. Meine Kollegin wartete mit dem Mann vom Schlüsseldienst hier vor der Tür. Im hinteren Zimmer habe ich ihn gefunden. Erhängt. Nachdem ich mich vom Tod der Person überzeugt hatte, informierte ich die Zentrale. Alles weitere wissen sie ja. Es ist nichts berührt worden außer der Türklinke und dem Lichtschalter im Flur«, beantwortete er ruhig und sachlichen die Frage.

      »Spurensicherung? Leichenwagen?«

      »Sind unterwegs.«

      »Haben Sie sich im Zimmer umgesehen?«, fragte Koslowski .

      »Nein«, kam prompt die Antwort.

      Was anderes hatte Koslowski auch nicht erwartet. Der Kollege war schon zu lange dabei und würde nicht in einen möglichen Tatort platzen und Spuren zerstören.

      »Gut, ich werde mich jetzt im Zimmer umschauen während sie hier vor der Tür Posten beziehen. Und Sie«, damit wandte sich Koslowski an den Handwerker »gehen mit der Kollegin nach unten und warten da. Vielleicht habe ich noch ein, zwei Fragen.«

      Sofort drehte sich der schwitzende Mann um und stieg die Treppe hinunter. Er schien erleichtert zu sein. Die blonde Polizistin folgte ihm weniger begeistert. Koslowski ging durch den kleinen Flur und zog sich dabei die Wegwerfhandschuhe über, dann öffnete er die Zimmertür mit einem leichten Schubs und blieb im Türrahmen stehen. Es roch ungelüftet nach kaltem Zigarettenrauch. Das Zimmer war mit Raufasertapete tapeziert. Die Wände weiß gestrichen. Der Stuck an der Decke war dunkelbraun abgesetzt, wie es in den 60er, 70er Jahren Mode gewesen war. Ebenso die Rosette in der Mitte der Decke. Der Haken, an dem vielleicht früher mal ein Kronleuchter befestigt war, hatte nun für ein Seil hergehalten. An dem Seil hing ein Mann, der zweifellos tot war. Das Alter schätzte Koslowski auf Mitte, Ende dreißig.

      »Das ist also der Wohnungsmieter!«, stellte Koslowski mehr für sich fest.

      »Scheint so«, erwiderte der Polizist. Er war unbemerkt hinter Koslowski getreten.

      »Wir werden es gleich wissen.«

      Koslowski betrat das Zimmer und war mit drei Schritten bei dem Toten. In der ausgebeulten Gesäßtasche der braunen Jeans befand sich die Brieftasche. Komisch, selbst beim Sterben konnte sich der Tote nicht von ihr trennen. In der Brieftasche befanden sich fünfzehn Euro und etwas Kleingeld. Der Ausweis war auf den Namen Thomas Meyer ausgestellt. Das Passbild stimmte überein. Er sah auf das Geburtsdatum und rechnete kurz nach. 32 Jahre.

      »Überprüfen sie die Personalien«, wies Koslowski den Polizisten an, der immer noch an der Zimmertür stand, und reichte ihm den Personalausweis.

      »Ist gut.« Der Polizist nahm den Ausweis und drehte sich um.

      Koslowski hörte, wie er die Treppe hinunter stieg. Er schaute sich um. Es gab nicht viel zu sehen. Die Wohnung wirkte unpersönlich, wie ein Provisorium. Keine Bilder an der Wand. Keine Gardinen oder Vorhänge am Fenster. Keine Bücher, keine Pflanzen und doch hatte hier ein Mensch gewohnt. Traurig. Vor der rechten Wand stand ein ungemachtes Bett, ein alter kleiner Röhrenfernseher auf der Erde. An der gegenüberliegenden Wand stand eine Kommode. Die Fächer der Kommode waren leer, bis auf zwei. Darin befand sich etwas Wäsche. Schon komisch wie wenig Sachen manche Menschen brauchten, dachte Koslowski. Er zählte sich dazu. Am Fenster stand ein Schreibtisch, der passende Stuhl lag umgekippt in der Mitte des Raumes. Er schaute sich den Schreibtisch an. Neben dem von Kippen überquellenden Aschenbecher lagen ein Kugelschreiber und ein Din A4 Blatt. Der Abschiedsbrief. Sorgsam nahm er ihn vom Tisch und las ihn sich durch. Er runzelte die Stirn, überlegte kurz. Dann holte er aus seiner Jackentasche einen der Asservatenbeutel, die ihm Meyerbrinck vorsorglich mitgegeben hatte. Er tütete den Brief sorgfältig ein und steckte ihn in seine Tasche. Danach entschloss er sich, auch noch die Küche und die Toilette zu inspizieren. Er ging über den Flur, wo sich linker Hand die Küche befand. Sie war in demselben Zustand wie das Zimmer. Sauber und unpersönlich. Ein unbenutzter billiger Elektroherd der Marke Boman, ein Tisch und ein Stuhl. Der Küchenschrank beherbergte ein IKEA Kochtopf-Set und etwas Geschirr. Bis auf eine Tasse und ein Glas schien alles jungfräulich zu sein. Der Kühlschrank war angeschlossen, aber leer. Koslowski trat in den Flur hinaus. Das Bad befand sich rechts neben der Eingangstür. Die Tür war klein, sehr schmal und ließ sich durch den Schlüssel im Schnappschloss öffnen. Sie klemmte. Das Alter und eine dicke Farbschicht leisteten beim Öffnen Widerstand. Der Raum war ein schmaler dunkler Schlauch, an dessen Ende sich eine alte Elektrodusche befand. Um in die Dusche zu gelangen, musste man an einem kleinen Waschbecken vorbei und über das Toilettenbecken steigen. Koslowski fühlte sich fünfundzwanzig Jahre zurückversetzt. Über dem Waschbecken hing ein kleiner Spiegelschrank. Er sichtete darin eine Zahnbürste, Zahnpasta und zwei ungeöffnete Medikamentenschachteln. Er holte einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche und notierte sich die Namen der Medikamente. Auf dem Waschbecken lag ein elektrischer Rasierapparat in seinem Etui. Daneben hing ein gräuliches Handtuch. Seife war nicht zu sehen. Koslowski kam gerade aus der Toilette, als der hagere Polizist wieder die Wohnung betrat.

      »Er ist es.«

      »Gut. Sieht aus wie Todesfall ohne Fremdeinwirkung. Suizid durch Erhängen. Warten sie auf die Spurensicherung. Danach kann die Leiche abtransportiert werden. Schicken sie jemanden zu seiner Mutter.«

      »Geht klar«, nahm er die Anweisungen mit unbeweglicher Miene entgegen.

      Koslowski zog die Handschuhe aus, um sie in seine Parkajacke zu stecken,