4467 Tage oder Der Rache langer Atem. J. U. Gowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: J. U. Gowski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752986945
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gemacht. Kinder hätte sie gern gehabt, aber es sollte nicht sein und ihr Erwin war auch nicht unglücklich darüber. Ja ihr Erwin... Sie seufzte.

      Bis 1984 standen hier die Gasometer des Gaswerkes IV, die die Stadt bis 1981 mit Gas aus Verkokung versorgten. Das Resultat war eine hohe Belastung durch Staub, Ruß und Gas. Ab 1979 belieferte die Sowjetunion die DDR mit Gas und damit wurden die nutzlosen Gasometer 1981 stillgelegt. Drei Jahre später wurden sie dann unter Protest von Umweltaktivisten gesprengt.

      Frau Jacobs hatte den Protest der Langhaarigen nicht verstanden. Diese großen Dinger waren hässlich und dreckig. Sie fand es gut, dass dafür neue Wohnungen und Grünanlagen geplant wurden. Und wie schön es dann geworden ist. Als sie dann 1986 hier eine Wohnung bekamen, hat Erwin gleich eine Flasche Sekt geöffnet. Rotkäppchen, aus dem Deli-Laden. Jetzt nichts Besonderes mehr, aber damals. Das war jetzt 25 Jahre her.

      Die Luft war lau und bewegte sich kaum. Ein schöner Maitag neigte sich dem Ende. Sie hörte, wie ihr Erwin in die Küche schlurfte, wahrscheinlich holte er sich ein kühles Bier aus dem Kühlschrank. Die 19.00 Uhr Nachrichtensendung im ZDF war wohl zu Ende. Wenigstens das schafft er, dachte sie.

      Sie wandte ihren Blick wieder dem Park zu. Alles wirkte friedlich und still. Weiter hinten sah sie den Glatzkopf mit seiner Aktentasche nach Hause kommen. Wie immer in Schlips und Anzug. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Klar, es war kurz vor 19.30 Uhr. Wahrscheinlich ein Beamter. Obwohl am Samstag und um die Zeit? Sie schüttelte den Kopf. Dann überlegte sie, ob er mit der Straßenbahn oder mit der S-Bahn gekommen war. Der S-Bahnhof Greifswalder Straße war ja nicht weit weg und ein Auto besaß er nicht, das hätte sie schon mitbekommen.

      Hinten am Rondell, in der Nähe der Rutsche sah sie die kleine Luise aus dem Nachbarhaus. Sie wohnte da mit ihrer Mutter im 4. Stock. Ein Mann sprach mit ihr. Sie schienen sich gut zu verstehen. Richtig erkennen konnte sie ihn nicht. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Wahrscheinlich ihr Vater, der ab und zu zu Besuch kam, vermutete sie. Luise tat ihr leid. Sie war oft allein. Die Mutter arbeitete viel, soweit sie wusste bei Kaisers an der Kasse. Auch öfter bis spät abends. Es ist nicht einfach in der heutigen Zeit für alleinerziehende Mütter, dachte Frau Jacobs. Schon gar nicht im Handel bei Öffnungszeiten von 8.00-22.00 Uhr. Der Gedanke daran löste wieder ein Gefühl der Empörung aus, das sie immer überkam, wenn sie an die Ungerechtigkeit in der Welt dachte. Früher ging es doch auch. Da hatte der Laden nur bis 18.00 Uhr auf, bis auf den langen Donnerstag einmal im Monat, da ging es dann auch mal bis 19.00 oder 20.00 Uhr. Keiner ist deswegen verhungert. Was muss man denn um 22.00 Uhr noch kaufen? Keiner dachte an die Verkäuferinnen und ihre Familien. Sie seufzte wieder.

      Kurz darauf lenkte ein Pfiff ihren Blick in eine andere Richtung. Er kam von dem riesigen Thälmannkopf, der den Hauptzugang zum Park beherrschte, doch sie konnte niemanden sehen. Als sie ihren Blick wieder Luise zuwenden wollte, war der Platz leer. Sie blickte noch mal kurz in die Runde. Nun genug für heute, dachte sie und schloss das Fenster. Es ist Zeit sich bettfertig zu machen, um noch ein bisschen in dem Schmöker zu lesen, der sie schon eine ganze Weile gefangen hielt. Den kurzen dünnen Schrei hörte sie schon nicht mehr.

      Der Mann schaute nach oben und lauschte. Die Bäume knarrten leicht im Wind. Irgendwo rief ein Vogel. Sein dünnes, braunes Haar wurde vom lauen Wind leicht gezaust. In seinem hageren Gesicht zeigte sich Erleichterung. Er schniefte. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Niemand schien den kurzen Schrei gehört zuhaben. Die abendliche Stille hatte sich nicht aus ihrer Lethargie reißen lassen. Er fühlte sein Herz vor Erregung laut schlagen. Sie standen in dem Schutz der Bäume und seine schmale kräftige Hand hielt ihren Mund zu. Zärtlich schaute er auf sie hinunter. Sie war still und die graublauen Augen waren weit geöffnet. Er bemerkte die kleine Narbe über der Augenbraue.

      »Du brauchst keine Angst haben«, flüsterte seine Stimme heiser. Seine Augen glänzten fiebrig.

      »Ich will doch nur mit dir spielen! Du darfst auch bestimmen was.« Er schaute sie fragend an und hoffte auf ein zustimmendes Zeichen.

      »Wenn du leise bist, nehme ich meine Hand von deinem Mund. Versprich mir nicht zu schreien, ja?«

      Seine Stimme klang flehend, als er zu dem kleinen Mädchen sprach.

      Er wollte nur zärtlich sein, sie streicheln. Sie war so schön, so unschuldig. Doch die Stimme erreichte sie nicht mehr. Seine rechte Hand löste sich langsam von ihrem Mund und ihr blondgelockter Kopf kippte haltlos nach vorn.

      Das Begreifen dauerte nur einen kurzen Moment. Er ließ den achtjährigen toten Körper auf die Erde gleiten, fiel dann auf die Knie, und fing leise wimmernd an zu weinen.

      Die Abendsonne wärmte noch trotz der späten Stunde. Von irgendwo wehte süßer Fliederduft heran, ein Versprechen auf einen kommenden schönen Frühlingstag.

      

       Sonntag 8. Mai

      

      2.

      

      Frank Grabowski sah aus dem offenen Fenster. Es war sieben Uhr. Er hatte schlecht geschlafen. Wieder einmal. Das Fenster im Schlafzimmer hatte er in der Nacht offengelassen, in der Hoffnung, dass sich die Stadt etwas abkühlte. Ein Fehlurteil. Der Preis war die laute nächtliche Geräuschkulisse vom Partyvolk auf dem S-Bahnhof, Motorradgeknatter in der Berliner Straße und die S-Bahn, die am Wochenende die ganze Nacht durchfuhr. Die drückende Hitze und der laute Geräuschpegel waren aber nicht der wirkliche Grund für seine Schlaflosigkeit. Es war Sie. Sie fehlte ihm. Seit er sie verloren hatte, schlief er selten gut. Die Leere, die sie in seinem Leben hinterlassen hatte, machte ihm zu schaffen, raubte ihm einerseits die Ruhe, andererseits lähmte sie ihn. Die Kollegen kannten ihn als gelassenen, unterkühlten Ermittler. Zum Glück schaffte er es, diese Fassade im Dezernat aufrecht zu halten. Doch spätestens hier in der Wohnung fiel sie ab. Die vier Wände waren sein Gehäuse, sein Schutzraum. Grabowski ging ins Wohnzimmer, öffnete dort das Fenster. Auf dem Tisch lag die Schachtel f6. Fünfzehn Zigaretten zählte er. Das bedeutete, dass er schon fünf von seiner geplanten Tagesration geraucht haben musste. War er so oft aufgestanden? Er konnte sich nicht erinnern. Doch der Blick in den Aschenbecher ließ keinen Zweifel zu. Was soll’s. Resigniert zuckte er mit den Achseln und steckte sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen. Das Feuerzeug klickte. Er nahm einen kräftigen Zug. Sein schmales Gesicht entspannte sich.

      Achter Mai - Tag der Befreiung. Er wusste nicht, warum ihm das plötzlich in den Kopf kam. Egal. Mittlerweile kein besonderer Tag mehr, ein beliebiger Sonntag wie jeder andere auch. Er überlegte, ob er zum Hertha Spiel fahren sollte. Sie spielten in Aue. Wenn sie dort gewinnen, war ihnen der Aufstieg in die 1. Bundesliga nicht mehr zu nehmen. Aber wahrscheinlich würde er sich dazu nicht aufraffen können und wieder vor dem Fernseher versacken. Auf jeden Fall lagerten genug Flaschen Guinness in seinem ansonsten leeren Kühlschrank. Frisch gezapft schmeckte es natürlich besser. Und wenn er mal die Stimmung unten beim Türken checkte? Flora Bistro. Dort lief der Fernseher Tag und Nacht. Im Vorbeigehen hatte er schon öfter gehört, dass ein Fußballspiel übertragen wurde. Guinness gab’s da ganz sicher nicht. Er wusste nicht mal, ob die überhaupt Bier vom Fass hatten. Aber menschliche Gesellschaft strafft die Körperhaltung. Mal sehen.

      Frank Grabowski ging in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine ein. Zurück im Zimmer, drückte er die Zigarette aus und schloss das Fenster. Irgendwo trällerte ein Vogel lautstark. Er ging hinüber in das Schlafzimmer mit dem breiten Bett. Ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl stand vor dem Fenster. Auf dem Boden lagen Zeitschriften verstreut. Der Monitor auf dem Tisch war an. Er hatte vergessen, ihn gestern Nacht auszuschalten. Er schaltete den PC ein und setzte sich. Als der Webbrowser sich öffnete, gab er die Internetseite der Bahn ein, um die Bahnverbindung nach Aue heraus zu suchen. In die Suchmaske tippte er den Zielort ein. Nach ein paar Sekunden zeigte ihm die Seite die Streckenverbindung an. Fahrdauer etwas über vier Stunden. Wenn er pünktlich zum Spielbeginn da sein wollte, müsste er um 8:27 Uhr mit dem