»Wäre die Kleine dann weniger tot? Sie ist doch sofort, nach dem die Mutter weg war hinunter zum Spielplatz gegangen.«
»Was wir noch nicht sicher wissen«, erwiderte Koslowski. »Was ich bei der Frau nicht verstehe: Einerseits gluckenhaft, fast klammernd, aber wenn sie was Besseres vorhat, das Kind allein lassend.«
Er blieb kurz auf der Treppe stehen und wandte sich zu Meyerbrinck um, der hinter ihm lief. »Ich denke, du kümmerst dich um diesen Andre Lange. Ich werde mit den Kollegen sprechen, die die Häuser abgeklappert haben. Vielleicht hat ja jemand was gesehen. Wir telefonieren nachher, ok?«
Meyerbrinck nickte zustimmend.
Als sie aus dem Haus traten, merkte Koslowski, dass die Temperatur noch um ein paar Grad gestiegen war. Seinem mürrischen Gesicht nach zu urteilen empfand er das als persönlichen Angriff. Meyerbrinck musste grinsen. »Und immer schön die Parkajacke anbehalten.«, konnte er sich nicht verkneifen.
Koslowski fand das nicht komisch.
7.
Sie trafen sich abends im Landeskriminalamt. Die Temperaturen hatten für Koslowski ein erträglicheres Maß angenommen und der dicke Wachtmeister vom Dienst einem freundlichen, älteren Kollegen mit munteren grauen Augen Platz gemacht.
Das Büro war in dem Zustand, wie sie es vor wenigen Stunden verlassen hatten. Koslowski warf seine Jacke über die Lehne vom Bürostuhl an seinem Schreibtisch und setzte sich. Der Stuhl ächzte kurz unter der plötzlichen Last. Koslowski verschränkte die Arme hinter dem Kopf und meinte: »Du zuerst.«
Meyerbrinck zog sein kleines Notizbuch aus seiner Jacketttasche, während er das Jackett an die Garderobe hängte. Dann setzte er sich an den anderen Schreibtisch, Koslowski gegenüber.
»Gut, dass du nicht mit gekommen bist Sal«, hub Tom Meyerbrinck an. »Der Typ ist eine Luftnummer. Hört sich gern reden. Und ja, er war mit der Ankert zusammen. Die ganze Nacht. Seine Frau war bei ihrer Mutter. Auf das Verhältnis angesprochen meinte er, er könne seine Frau nicht verlassen. Da seine Frau sehr labil sei und es sonst nicht schaffe. Das hat er auch wohl der Ankert gesagt. Wie sagte er so schön: Seine Frau ist sehr nah am Wasser gebaut, vor allem wenn sie was getrunken hat. Ich vermute eher, dass sie den Laden schmeißt und er nur der Clown ist. An den Wänden hingen eingerahmte Zeitungsausschnitte, Interviews mit ihm. Ich hab sie mir durchgelesen. Sie die Köchin, er der ehemalige Kameramann. Auf den Fotos, die ich bei ihm dort gesehen habe, sah er aber eher nach Beleuchter und Kamerawagenschieber aus. Es kamen solche Sätze wie: Dass er das Glück hatte, in seiner Lehrzeit Biermann und Havemann kennengelernt zu haben und ihn das geprägt habe. Da musste ich an dich denken, und wie du solche Leute magst«, lachte Meyerbrinck.
»Ja, ja unsere intellektuellen Grabenschützen und immer von der Stasi umzingelt.« ,grummelte Koslowski. »Wetten das er sich daran erst nach der Wende erinnerte. Wenn es denn überhaupt stimmt. So was nennt man wohl, seinen Selbstwert steigern.«
»Deswegen meinte ich, gut dass du nicht mitgekommen bist.« Meyerbrinck grinste ihn an. Er wusste, er hatte Koslowski wieder auf dem richtigen Fuß erwischt.
»Und bei dir? Irgendetwas Ergiebiges?«, fragte Meyerbrinck.
»Drei Zeugen die Luise am Samstag noch zwischen 19.00 und 19.30 Uhr lebend gesehen haben. Zwei der Zeugen mit einem Mann.
Eine Frau Jacobs, wohnt im Nachbarhaus. Sie kennt Luise und ihre Mutter vom Sehen. Sie konnte den Mann nicht richtig erkennen, vermutete aber das es der Vater sei. Das war kurz vor 19.30. Dann ein Herr Sendel. Ein akkurater Herr mit sorgsam polierter Glatze. So um die 50. Er hat ein Versicherungsmaklerbüro mit Bürozeiten von 10.00 bis 19.00 Uhr, auch samstags. Auf dem Heimweg vom S-Bahnhof Greifswalder Straße kommt er immer über den Zugang, an dem der Thälmannkopf steht. Er hat das Mädchen mit einem Mann am Spielplatz stehen sehen. War aber zu weit weg, um etwas genau erkennen zu können. Selbst ob es die kleine Luise war, war er sich nicht sicher. Auch hier muss es nach seiner Aussage kurz vor 19:30 Uhr gewesen sein. Die dritte Zeugin, eine Frau Reuter. Ca 75 Jahre und ehemalige Opernregisseurin hat ihren neurotischen Köter Gassi geführt. Ich hab den kennengelernt. Was für ein Kläffer.«
Koslowski verdrehte bei der Erinnerung an den Hund die Augen.
»Sie hat die Kleine gegen 19.00 gesehen. Allerdings allein. Sie spielte an der Rutsche.« Er stand auf und fing an im Büro herumzuwandern. »Also was haben wir? Das Kind ist bis kurz vor 19:30 Uhr lebend gesehen worden. Mit einem unbekannten Mann sprechend. Die Mutter war um diese Zeit wahrscheinlich schon in Friedrichshagen bei ihrem Liebhaber, der ihr sicher nicht nur was aus seiner vermeintlichen DDR Dissidentenzeit erzählte. Womit die beiden, wenn sie nicht gelogen haben, ein Alibi haben. Wir können davon ausgehen, dass Luise bis kurz vor 19:30 Uhr noch am Leben war. Wir müssen mit mehr Leuten noch einmal eine Befragung in den Häusern durchführen. Jetzt haben wir einen Zeitpunkt und einen unbekannten Mann, der mit ihr gesprochen hat. Vielleicht hat doch jemand was gesehen und kann uns eine Beschreibung von dem Unbekannten liefern oder der Unbekannte meldet sich sogar selbst. Wir sollten das morgen früh in die Wege leiten. Einwände?«
Koslowski schaute Meyerbrinck an.
»Nein, machen wir so. Klärst du morgen mit dem Chef, dass wir noch mehr Leute für die Befragung brauchen?«
»Ich ruf ihn gleich an. Er wird sowieso wissen wollen, wie der Stand der Dinge ist. Und danach? Noch Lust auf ein Bier?«
»Nee, ich will nach Hause. Lotte und die Jüngste warten mit dem Essen auf mich. Ich hab mit ihr telefoniert. Aber ich fahr dich noch zu deinem Pub, wenn du willst.«
»Gern«, erwiderte Koslowski erfreut und griff nach seiner Jacke.
»Du solltest morgen aber ein anderes Hemd anziehen.«
»Wieso, müffel ich so stark?« Koslowski schnüffelte theatralisch unter seiner rechten Achsel.
»Nee«, sagte Meyerbrinck und deutete auf Koslowski‘s Bauch.
Koslowski schaute an sich hinunter, auf die leichte Wölbung seines Bauches und sah das Malheur. Ein Hemdknopf fehlte. Typisch Koslowski, dachte Tom Meyerbrinck.
8.
Der Sonntag hatte sich in die Länge gezogen, war zäh vergangen wie jeder andere arbeitsfreie Sonntag in letzter Zeit. Aufstehen, Essen, Trinken. An den Wochenenden empfand er die Einsamkeit besonders stark. Er hatte nicht viele Freunde, genau genommen sind ihm nur ein, zwei geblieben. Doch wie sagt einer seiner Freunde immer: Das Wochenende gehört der Familie. Dazu gehörte Grabowski eindeutig nicht.
Er war nicht nach Aue gefahren, hatte den Versuch unternommen Zeitung zu lesen. Irgendwann dann das erste Guinness. Kurz nach Mittag waren es schon drei Guinness und zwei Whisky. Auch das Bistro hatte er nicht aufgesucht. Es war einfacher, den Fernseher einzuschalten und sich das Hertha-Spiel da anzusehen. Schließlich hatte er Sky für teures Geld abonniert. In diesem Fall war es von Vorteil keine Frau mehr zu haben. Man konnte ohne schlechtes Gewissen Fußball schauen, dachte Grabowski. Keine Frau, die deswegen nörgelte. Das schien aber auch der einzige Vorteil, wie er bitter feststellte. Hertha BSC gewann in Aue 2:0. Damit war der Aufstieg in die 1. Bundesliga vor dem letzten Spieltag endgültig gesichert. Grabowski freute sich. Er schaute sich noch einmal die Zusammenfassungen der anderen Spiele an. Später meldete sich der Hunger und trieb ihn in die Küche. Nach dem Blick in den Kühlschrank griff er zu dem Flyer von Call A Pizza, wählte die Nummer und gab telefonisch seine Bestellung durch. Pizza Hawaii. Nach nur 25 Minuten klingelte der Pizzabote an der Tür. Der freute sich nur mäßig darüber, dass Grabowski ihm das Geld passend gab. Plötzlich kam er sich geizig vor. War er schon immer so gewesen? Wenn ja, warum war ihm das nie aufgefallen? Einfach weil Ina immer für sie beide bezahlt hatte? Sie hatte immer die Rechnungen beglichen und sich hinterher an seinem Portemonnaie bedient. Kann sein, dass er sich nie um so etwas gekümmert hatte.
Nachdem er die Pizza aufgegessen hatte, packte er den leeren