Der Nachthimmel war klar und von tiefem schwarz. Irgendwo an den weniger beleuchteten Enden der Stadt, konnte man sicher einen schönen Sternenhimmel sehen. Hier sah man nur die am kräftigsten Leuchtenden. Er konnte den großen Bären ausmachen, erinnerte sich, wie er ihn seiner Frau gezeigt hatte. Sie mochte es, wenn sie über den Feldacker bei seinen Eltern gingen und er ihr die Sternenbilder erklären konnte. Wieder spürte er das Ziehen, die Ohnmacht. Wie kann so etwas ungesühnt bleiben? Ganz einfach: Er hatte es zugelassen! Doch für die Sühne würde er sorgen. Auf dem Schreibtisch lag immer noch das Foto. Er hatte es nicht wieder in die Schublade gelegt. Entschlossen nahm er einen Schluck aus der Flasche. Es war mittlerweile das siebente Bier und schon etwas lauwarm, fast schal. Er spürte, wie sein betrunkener Zustand ihn in seiner Entschlossenheit bestärkte. Die Ängste schwanden. Er kam ins Gleichgewicht und gewann an Selbstvertrauen. Es war ihm klar, dass es morgen früh wieder ganz anders aussehen würde. Wie jedes mal. Er zündete sich eine f6 an und inhalierte tief. Was für ein Elend, dachte Frank Grabowski und meinte sich. Draußen fuhr mit lautem Knattern ein Motorrad vorbei. Nach dem er aufgeraucht hatte, schloss er das Fenster und ging in die Küche. Aus dem Kühlschrank holte er sich das letzte Bier und öffnete es, nahm einen tiefen Schluck. Dann rülpste er. Im Kühlschrank hatte er noch eine Büchse Fisch entdeckt. Hering in Dillsauce. Er holte die Büchse raus, öffnete sie und aß im stehen den Fisch mit einer Gabel direkt aus der Büchse. Ina hätte das nicht zugelassen. Er hörte förmlich, wie Ina genervt sagt: »Kannst du dich nicht an den Tisch setzen, bevor du anfängst, das Essen in dich rein zu schlingen. Und Teller haben wir auch!«
Die Soße dippte er mit dem schlabberigen Toastbrot auf, zu faul, es in den Toaster zu schieben. Dabei bekleckerte er sein Hemd. Er stellt fest, er war besoffen. Er wankte zur Toilette, sah sein Gesicht im Spiegel und fand tatsächlich noch seine blassblauen Augen. Der sorgfältig gezogene Seitenscheitel von heute Morgen hatte sich aufgelöst. Was für ein Elend, dachte er wieder. Frank Grabowski öffnete seine Hose und pisste ins Waschbecken.
Koslowski war müde. Die Haustür ließ sich wie immer schwer öffnen. Er ging durch den Hausflur und betrat den Hof, dessen Wände immer noch die Wärme des Frühlingstages ausstrahlten. Ihm entgegen kam ein alter Mann, leicht gebeugt und trotz der Wärme mit einer dicken Strickjacke bekleidet. In der Hand eine Mülltüte. Koslowski wollte schon an ihm vorbei gehen, als der Mann ihn am Arm festhielt. Irritiert blieb er stehen.
»Ja?«
»Guten Abend. Ich bin ihr Nachbar«, stellte er sich vor. »Und ich hab gestern ein Paket für sie entgegengenommen.«
Koslowski schaute ihn verwirrt an.
»Wenn Sie kurz warten, bis ich den Müll entsorgt habe, kann ich ihnen das Paket geben.« Der Alte lächelt freundlich.
Koslowski runzelte die Stirn. »Ähh, ja klar.«
Im Gesicht des Alten bildeten sich kleine Fältchen um seine grauen Augen. Er kicherte leise.
»Schon ein paar Bierchen intus wie? Ich hab es ja mehr mit Rotwein. Über 50 Jahre war ich mit meiner Frida verheiratet. Wir sind oft ins Rhônetal gefahren.« Er sah Koslowski an. »Eigentlich sollte der Mann vor der Frau sterben. Hat bei mir und meiner Frida leider nicht geklappt. Frauen können besser damit umgehen. Haben sie Lust auf einen Tee, oder müssen sie noch ihre Katzen füttern.«
Koslowski schaute ihn überrascht an.
»Na ja, ich seh sie öfter am Fenster sitzen«, erklärte der alte Mann.
»Ist das ihre Privatbibliothek?«, rief Koslowski aus, als er das Wohnzimmer seines Nachbarn betrat und vor den Wänden mit den Büchern stand.
»Ja«, kam die kurze Antwort. »Schauen Sie sich ruhig um, ich mach derweil einen Tee für uns.«
Koslowski ging staunend die Regale ab, die bis unter die Decke reichten. Die Böden bogen sich teilweise unter der Last. Ein System konnte er nicht erkennen. Aber er musste zugeben, er war beeindruckt. Den größten Platz nahmen Foto- und Kunstbände ein. Es mussten einige hundert sein. Darunter viele Monographien von Malern der Renaissance. Aber auch Surrealisten und die Moderne waren vertreten. Am meisten staunte er über die Sammlung von Ausstellungskatalogen von Strawalde. Die musste beinahe vollständig sein. Koslowski kannte sich nicht wirklich aus mit Kunst, war aber durch seine Eltern vorbelastet.
»Sie mögen Strawalde?«
»Den kennen Sie?«, kam die erstaunte Gegenfrage aus der Küche.
»Na, ja mein Vater hatte mit ihm, ich sag mal freundschaftlichen Kontakt.«, erklärte Koslowski.
»Dann wissen Sie ja sicher, dass er auch als Dokumentarfilmer gearbeitet hat?«, fragte die Stimme des Alten aus der Küche. »Allerdings unter seinem bürgerlichen Namen Jürgen Böttcher. Als wollte er beides nicht vermischen. Er hat nach meiner Meinung in beiden Bereichen gänzlich anders gearbeitet. Im Gegensatz zu seinen grafischen Arbeiten hat er in seinen Filmen nichts übermalt. Im Gegenteil: Auf seine sehr sanfte Art hat er versucht den Nerv bloßzulegen, ohne den Finger verletzend in die Wunde zu stecken. Beim Malen wollte er etwas anderes erreichen. Er fügte hinzu, veränderte. Für mich war er ein Ausnahmekünstler in der DDR.«
Koslowski sagte nichts, hatte keine Lust auf einen kulturpolitischen Vortrag. Es erinnerte ihn an seinen Vater. Er wollte dazu keine Meinung haben. Hinten in der Ecke stand ein Plattenspieler. Er sah groß und schwer aus. Irgendwie ganz schön wenig Knöpfe fand Koslowski. Daneben stand ein breites Regal mit Schallplatten. Er tippte auf an die hundert. Hauptsächlich Klassik und Opern wie Koslowski feststellte, als er kurz durchblätterte.
»Soll ich etwas auflegen?«, fragte der alte Mann, der unbemerkt mit einem Tablett ins Zimmer gekommen war. Er stellte das Tablett auf dem kleinen Holztisch ab, der am Fenster stand, eingerahmt von zwei Stühlen.
»Nein, vielleicht ein anderes Mal.«
Ein Schmunzeln zeigte sich auf dem faltigen Gesicht. Er hatte Koslowski durchschaut.
»Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Johannes Thieme.«, sagte er und reichte Koslowski die Hand.
»Koslowski, einfach nur Koslowski.«, erwiderte der. Er wollte seinen Vornamen nicht nennen.
»Schön! Da wir das jetzt hinter uns gebracht haben, können wir den Tee genießen«, meinte Thieme leise lachend. »Ich hoffe, der hindert sie nachher nicht am Schlafen.«
»Ich glaube, da hindern mich eher andere Dinge«, erwiderte Koslowski.
Thieme blickte neugierig zu ihm auf. Koslowski zeigte keine Anstalten es weiter auszuführen und so goss er den Tee in die Tassen.
»Milch? Zucker?«
9.
Montag 9. Mai
Koslowski schreckte vom Weckerklingeln hoch. Die graue Katze, die es sich auf seinem Bauch gemütlich gemacht hatte, sprang erschrocken beiseite und hinterließ ein paar Krallenspuren auf seinem Bauch. Er knurrte und rieb sich die schmerzende Stelle. Er wusste nicht mehr, wie lange er noch bei dem alten Mann in der Wohnung gewesen war. Nur, dass aus der einen Tasse Tee noch zwei, drei Gläser Rotwein wurden. Und er vergessen hatte, das Paket mitzunehmen. Er schaute auf die Uhr. Sie zeigte 6.30 Uhr. Es war also genug Zeit. Um 8 Uhr wollte er in der Direktion sein. Kleines Meeting mit dem Chef und dann 8.30 Uhr die Einsatzplanung. Er ging in die Küche, um die Katzen zu füttern. Erwartungsgemäß saßen sie schon vor dem Schrank, in dem er das Futter aufbewahrte. Dann säuberte er das Katzenklo, bevor er sich um sich selbst kümmerte. Duschen, anziehen, dauerte keine Viertelstunde. Zähneputzen ging nicht, die Zahnpasta war alle und er hatte vergessen neue zu kaufen. Aber da war noch ein Rest vom Mundwasser. Mit Hilfe der Zahnbürste im Mund verrieben und kurz gegurgelt. So geht es auch mal, dachte er.
Während der Laptop hochfuhr,