Dionysius Areopagites führt zu diesem Zweck die Kategorien «geeinte» und «geschiedene» Namen Gottes ein[71]: Wird Gott als Einheit gedacht, gelten die geeinten Namen, insofern sie sich auf die «gesamte Gottheit», respektive auf die ausstrahlende Ursache von Allem beziehen. Die «geschiedenen Namen beziehen sich auf die 3 göttlichen Realitäten Vater-Sohn-Heiliger Geist. Sie sind nicht umkehrbar und jeweils nicht für alle drei, sondern nur für einen Aspekt gültig.[72]
Dieser qualitative Sprung im theologisch-philosophischen Denken der Spätantike, den Dionysius Areopagites hier vollzieht, erinnert mich sehr an jenen geistigen Sprung Einsteins zu Beginn des 20. Jahrhunderts, «Welle» und «Teilchen» in der Atomphysik gleichzeitig, als Aspekte eines Prozesses, sehen zu können.
Während bei Proklos die zweite Hypostase – als das zuerst Verströmte – geschieden von der Ersten (dem «Guten») ist, gelingt es Dionysius Areopagites gewissermassen die drei ersten Hypostasen (Hervorbringungen, Ausströmungen) in
Einem, Einung und Scheidung in Einem zu denken.[73]
Vor einer weiteren Erkenntnisarbeit betreffend den ersten Namen «das Gute», «geziemt» es sich für Dionysius Areopagites durch ein Gebet dorthin zu führen, denn wie eine Kette aus Lichtern oder das Tau beim Treideln eines Schiffes zieht uns das Gebet näher an den Gegenstand der Erkenntnis (Gott, das Gute) heran.[74]
Über das «Gute» zu sprechen, bedeutet automatisch, das «Böse» mit zu bedenken, es ebenfalls darzustellen und der Frage nach der Entstehung des «Bösen» – also letztlich der Theodizeefrage – nachzugehen, denn wenn das Gute[75] absolute und alleinige Ursache von Allem ist, wie kann dann das Böse daraus erwachsen? Wo hätte es seine Position im Weltsystem des Dionysius Areopagites?
Dionysius Areopagites Erörterungen zum Guten beginnen mit einer Art grossem «Sonnengesang»: Dem Vergleich des Guten mit dem Licht.[76] Es ist Dionysius Areopagites wichtig, zu betonen, dass das Gute nicht die Sonne ist sondern die Sonne ist ein Symbol für das Gute, für Gott.[77] «Licht» ist der zweite Name in der absteigenden Reihenfolge der Namen Gottes und «Sonne» ist das Symbol dafür.
Und wie alles Irdische allein durch die Kraft der Sonne leben kann, so existiert auch Alles an sich – vom Engel bis zum «Leblosen»[78] – durch das Gute, ist Folge seiner Ausstrahlung, erwärmt durch dieses Sonnenlicht.
Selbst wenn etwas mangels dieser Wärmequelle erkaltet, wie Dionysius Areopagites zum Guten in DN IV schreibt, bleibt doch das Licht, die Sonne weiter existent – und das Erkaltete übrigens auch, wie ich weiter unten zum Thema Ursprung des Bösen zeigen werde.
Da das Gute über allem Seienden, vor Allem besteht, ist es auch die Idee der Struktur vor dem Strukturlosen, das immer Seiende vor dem Nichtseienden … und dann eben ausstrahlend sämtliche folgenden Hierarchiestufen, wie sie Dionysius Areopagites dann ausführlich in den Himmlischen und Kirchlichen (= irdischen) Hierarchien erläutert, hinab.
Sehr geschickt baut Dionysius Areopagites nun bereits sehr früh in seiner Darstellung des Lichtes als Bild für die erste Hypostase des Guten auch den Vorschein des Bösen mit ein oder umgekehrt: Beschreibt die Stellung des Unvollkommenen in dieser Ausstrahlung des vollkommen absolut Guten.[79]
Warum nun strahlt dieses Gute überhaupt aus? Wie kommt es denn zur Hypostasierung? Denn eigentlich hätte das Gute/Gott eine solche Ausstrahlung wohl gar nicht nötig und könnte doch ruhig, ewig weiter bewegungslos von der Anschauung seiner selbst träumen.
Dionysius Areopagites erweist sich auch hier als treuer Schüler der Platoniker, sowohl der «alten» als auch der «neuen» Variante: Eros/Liebe ist die treibende Kraft, die das Gute zum Ausströmen, zur Schöpfung letztlich treibt. Und weil das Gute aber letzter und erster Grund ist, ist es auch die Liebe: Treibendes insofern es treibt und Getriebenes insofern es hypostasiert wird, sich selbst hypostasiert. In Anlehnung an Einstein ausgedrückt: Welle und Teilchen.[80]
Übrigens ist es nicht nur das grosse Bild, der Himmel, Erde und Gott umfassende neuplatonische Wurf, welcher bei Dionysius Areopagites fasziniert. Das haben schliesslich andere PhilosophInnen vor Dionysius Areopagites so oder ähnlich auch schon geschrieben und gesagt. Faszinierend ist eben auch, wie Dionysius Areopagites in diesem grossen Entwurf seine eigene, persönliche Auseinandersetzung mit dem damaligen Zeitgeist, dem Mainstream eines sich allmählich auf eine ideologisch einförmige, staatlich legitimierte Form des Christentums verengende Religion und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Misstrauen gegen Andersdenkende, gegen Sprache, etc. einbaut.
Am Beispiel des Begriffes «Liebe» schildert er gleichzeitig, wie Vorurteile und Klischees ein differenziertes Sprechen oder Schreiben verunmöglichen und entwickelt sein eigenes Anliegen, Sprache wieder als korrektes und differenzierendes Instrument für die Darstellung komplexer Inhalte zu verwenden.[81]
Eine korrekte Sprache als Teil der sinnlich wahrnehmbaren Welt ist Dionysius Areopagites geradezu notwendig, um sich auf den Weg der schlussendlichen Übersteigung dieser Sinnlichkeit zu machen.
Liebe ist die prozesshafte Seite, das treibende Agens. Doch was treibt diese Liebe selber schlussendlich an?
Nicht nur bei den «ehrwürdigen biblischen Schriftstellern», wie Dionysius Areopagites in Kapitel IV schreibt,[82] sondern gerade auch bei Plato und den Neuplatonikern findet sich das Postulat, dass das Schöne immer dieses Gute ist. Besser: Dass das Gute sich schön, sich anmutig darlebt.[83]
Dionysius Areopagites ist nicht nur wegen seiner «Sprachtheorie» modern. Neuplatonische Ideen wurden auch ausserhalb des theologisch-kirchlichen Diskurses, beispielsweise von den Dichtern und Philosophen des deutschen Idealismus, weiter verwendet und bearbeitet. Als e i n e der herausragenden Abhandlungen zur Ästhetik überhaupt gilt Kleists «Marionettentheater»[84]. Als Nachdenken über das Verhältnis von Anmut und Rationalität im künstlerischen Schaffensprozess bis heute höchst aktuell.[85]
Anmut oder Schönheit als das Ziel allen (zumindest künstlerischen und spirituellen) Strebens schlechthin, ein Streben, das sich eben nur als Liebe/Eros bezeichnen lässt.[86]
Das Gute, das Schöne/Anmutige und die Liebe sind aber schlussendlich (nur) Aspekte ein und derselben Einheit: Mal statisch zu denken, mal bewegt-bewegend. Es verwundert im Grunde, wieso die griechischen Philosophen nicht schon früher auf die sich daraus ergebende spirituelle Triade (Schöpfer – Sohn – Geist) gekommen sind.
Das Prinzip aus Schön – Liebe – Gut durchzieht und prägt in Dionysius Areopagites' Weltentwurf natürlich nun alle Hierarchien des Seins und sie alle bewegen sich jeweils in drei verschiedenen Modi darin: In sich kreisend, insofern sie an sich und dem Ursprungsguten beteiligt sind, gradlinig in Hinsicht auf gleich- oder tiefer geordnete, spiralförmig im jeweiligen Rückbezug auf das Gute.[87]
Immer mal wieder kurz vorher schon angetönt, wie erwähnt, wendet Dionysius Areopagites sich dann am Schluss des Kapitels IV der Frage nach dem Bösen zu. Wo ist sein Platz in diesem bewegten, vom absolut Guten geprägten Weltsystem?[88]
Mit der ganzen logisch ausgebildeten Kraft eines, sicher auch mehrsprachig geschulten Philosophen seiner Zeit, der auf höchstem Niveau denkt und lehrt,[89] entwickelt Dionysius Areopagites kurz und schlüssig und in der Nachfolge des Proklos, die klassische neuplatonische Idee von der Defizienz des Bösen weiter: Warum es gar kein «Böses» an sich (analog dem Guten) geben könne und zeigt auf, wo sich die Stellung dieser «Schwäche» im System des ausgeströmten Guten befindet, sowie, auf welche Art und Weise es entsteht.
Fast verschlägt es einem den Atem, ob der Modernität dieser Herleitung und Einordnung, die man auch bei Augustinus finden kann, und man fragt sich unwillkürlich,