In Kapitel III beginnt Dionysius Areopagites dann mit seiner sachlichen Definition von Hierarchie als geheiligter Ordnung.[125] Ihre Funktion ist die Angleichung an Gott so gut wie möglich und Einswerdung mit ihm …[126]
Die Verwendung des Begriffes Hierarchie (statt z.B. Ordnung) impliziert automatisch die Definition eines «wie geartet», einer Qualität, nämlich Schön. Diese geheiligte Ordnung ist das durchgängige Abbild des Einen – Guten.[127]
Hier stehen der gesamte Platonismus, insbesondere Plotin und Proklos Pate, weshalb man vermutlich davon ausgehen kann, dass die Vorstellung einer Art «Hierarchie» bereits Mainstreamwissen, zumindest bei den Intellektuellen zu Dionysius Areopagites Zeiten, darstellte, wenngleich Dionysius Areopagites diesen Begriff nachweislich erfunden hat[128].
Der Dreischritt (Triade) ist das bestimmende Gliederungselement himmlischer aber auch irdischer Hierarchien, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, insofern dieser logisch aus dem Prozess eines «In-sich-Ruhens» – «Verströmens» und «Zurück-Kehrens» besteht oder auch in der Trinität von Sein – Leben – Geist, usf.
Die gesamte, Himmel und Erde umfassende Hierarchie bildet eine Dreierstruktur ab, neun Ebenen, welche in sich wieder in dreimal drei gegliedert sind.[129]
Es ist eine geisteswissenschaftliche Systematik, die von Stund an als Methode, ja, nicht nur die christliche Theologie und den Aufbau einer entsprechenden Kirchenstruktur bestimmte, sondern an vielen geistigen Orten als Muster von Erkenntniswegen generell – von Bonaventura[130] bis Rudolf Steiner – auch ausserhalb christlichen Nachsinnens über geistige Vervollkommnung des Menschen rezipiert wurde und wird. Meistens wird sie auch, gut neuplatonisch, dialektisch aufgefasst: Als (greifbare) statische, vorher bestimmte Struktur einerseits und als Prozess andererseits.[131]
Diese Dialektik erstarrt eigentlich immer erst dann, wenn das Offene, Prozess–hafte hinter dem Aufbau der Struktur zurückbleibt und Menschen oder unauto–risierte Mächte ihrem jeweiligen Machtstreben folgen. Das zeigen z.B. sowohl die Problematik der stark hierarchisch strukturierten katholischen Kirche in der Gegenwart als auch beispielsweise die Machtstrukturen modernen Managements des internationalen Bankenwesens.
Kritiker von Dionysius Areopagites übersehen oft, wie sehr er selber davon ausging, dass die jeweilige Nähe oder Ferne zum absolut Guten eben auch ein ethisches Qualitätsmerkmal ist. Nach der neuplatonischen Prämisse, dass alles Geschaffene am Guten Teil hat (und selbst das Böse nur unvollkommenes Gutes ist), ist selbst auf der «untersten Seinsebene» der Menschen noch Gutes vorhanden, bei jener der Steine und Pflanzen sowieso.
Aus dieser Logik heraus bedarf es auch keiner asketisch-individuellen Anstrengungen, wie z.B. Evagrios Pontikos sie als Kampf gegen die verführerischen Logismoi aller Art beschrieb. Das wäre gewissermassen die unterste, operative Ebene, um auf meinen Vergleich vom Beginn des Abschnittes zurückzukommen. DIONYSIUS aber schreibt auf der strategischen Ebene dessen, was man heute Strukturentwicklung oder Masterplan nennen würde.[132]
Die drei himmlischen Triaden gliedern sich wie folgt:
Erste, unmittelbare Triade, «die immer um Gott steht und direkt an ihn anschliessend und vor den anderen ohne Vermittlung mit ihm eins geworden:»[133] Throne (= jeder Herabminderung entzogen), Cherubim (= Fülle der Erkenntnis)[134] und Seraphim (= Entflammer).[135]
Die zweite Triade besteht aus den Mächten, Herrschaften und Gewalten. Die Bezeichnungen bedeuten, dass die Mächte, Herrschaften und Gewalten von keiner Seite her bedrängt oder gezwungen werden können.[136]
Die Dritte Triade – schon im Übergang und engerem Kontakt mit den Menschen enthält dann die Engel, Erzengel und Prinzipien.[137] In der dritten Triade der himmlischen Hierarchien bilden die Erzengel eine Art Vermittlerfunktion zwischen den noch vollkommenen, «nach oben» hin, auf das Urprinzip bezogenen Prinzipien und den «nach unten» vermittelnden Engeln, welche dann «Eingebungen» an die Menschen vermitteln.[138]
Die ganze dritte Triade steht den auf sie folgenden Menschen vor und die gesamte Himmlische Hierarchie aber dann auch die irdisch-kirchliche, wie wir sehen werden, ist letztlich durch «Weihen», also Weitergabe, in Bewegung gesetzt.[139] Diese Engel könnte man auch «Boten» nennen, so Dionysius Areopagites, weil eben ihre Information (=Teilhabe an und Weitergabe des göttlichen Lichtes) im Grossen und Ganzen doch eher in eine Richtung, nämlich vom Einen weg die Vielfalt der Hierarchienleiter hinab geschieht. Dionysius Areopagites zählt einige Beispiele solcher engelhaften Botengänge und Begegnungen aus der Bibel auf.
Im letzten, XV. Kapitel der CH beschreib Dionysius Areopagites schlussendlich all jene Allegorien, mit deren Hilfe (da eben auf sinnlicher Wahrnehmung basierende Vergleiche) diese Hierarchien, besser hierarchischen Prozesse gegenseitiger Rückbezüglichkeit in Philosophie und Bibel dargestellt wurden:
Das Feuer, das anderes verbrennt oder erwärmt, sich selber jedoch nie, die fünf Sinne mit ihren dem Geist analogen Fähigkeiten am Gottesprinzip teilzuhaben, der Körper und seine Gliedmassen, Gewänder und Gerätschaften, Werkzeuge, Mineralien und Himmelserscheinungen, mythische Tiere, … usw. Nichts ist letztlich zu unwürdig, um nicht durch den Grundsatz der ungleichartigen Gleichartigkeiten[140] für die Darstellung des Einen/Guten sowie der dorthin führenden Hierarchiestufen zu dienen. Das Hohe Lied auf die symbolische Theologie, eine Variante der positiven/kataphatischen Theologie.
3.2.2.2 De ecclesiastica hierarchia
So, wie die himmlischen Hierarchien, McGINN zieht die Bezeichnung «Thearchia» vor[141], was übersetzt eben «Gottesprinzip» heissen würde, eine in meinen Augen etwas sperrige Übersetzung, wie sie auch Günter HELD in den CH verwendet;[142] Stufen der Annäherung abbilden, bildet auch die irdische/kirchliche Hierarchie Stufen der Reinigung – Erleuchtung – Vollkommenheit ab.[143]
Der Begriff «Thearchia» hat sich allgemein nicht durchgesetzt, im Gegensatz zu «Hierarchia», der – heutzutage eher negativ besetzt – gegliederte Ordnungen ganz allgemein bezeichnet, wobei diese Gliederung im Sinne von Kompetenzrängen, Entscheidungsbefugnissen und Abhängigkeiten in gewisser Weise immer als qualitativ von «oben» nach «unten» gedacht wird.[144]
Nach dem einführenden Kapitel, in welchem Dionysius Areopagites die Verbindung zwischen den himmlischen und den kirchlichen Hierarchien erläutert und ihre aufeinander bezogenen Funktionen erklärt, entfaltet Dionysius Areopagites – in übrigens wesentlich umfangreicherer und geordneterer Weise als in den CH – die drei Triaden der Kirchlichen Hierarchien; jedes diesbezügliche Kapitel immer noch einmal unterteilt in eine Beschreibung des Rituals und (ganz im Sinne der oben erwähnten symbolischen Theologie) und seiner tieferen Bedeutung.
Wie oben bereits im Bild der operativen und strategischen Funktionen in einer Unternehmensstruktur dargestellt, unterscheiden sich die himmlischen und die kirchlichen Hierarchien in etwa auf die gleiche Art.[145]
Diese praktisch-operative Hinführung braucht symbolische Vergleiche, Sinnlichkeit, eben konkrete Bilderwelten, um die Menschen nach Massgabe ihrer spirituellen Fähigkeiten und Kompetenzen weiter zu führen.[146] Die kirchliche Hierarchie ist der Ort, an dem all diese symbolischen Akte stattfinden.[147] Hierarch ist derjenige, in dessen Verantwortung und spirituell-theologische Kompetenz sie durchgeführt werden.[148]
Kapitel II beginnt nun mit dem Ritus, der Taufe, dem «Initiationssakrament». Im dargestellten Fall handelt es sich aber um die Erwachsenentaufe und gleichzeitigen Erwachsenenfirmung, also um den bewussten Eintritt eines Menschen in diese kirchliche Hierarchie zum Zwecke der «Erkenntnis der Wahrheit».[149]
Vier kirchliche Stände sind an diesem Prozess