Parallelleben. Caspar Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Caspar Keller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847688518
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User verlangen Grundrecht auf Gerätefreiheit“.

      „Eilmeldung: Rette-mich-nach-Ende-App knackt 1 Milliarde-Grenze“.

      „Eilmeldung: 100 millionste Like für Multi & Media“.

      Insgesamt verzeichne ich fünfundachtzig neue E-Mail-Eingänge an diesem Morgen. Das ist wenig. Marktforscher nennen diese konsumerhebliche Auffälligkeit „kollaterale Reizresistenz“ - und sie arbeiten daran.

      Seit der nahezu biblischen Auferstehung von Multi & Media, also seit dem Zusammenschluss von Medien, sozialem Netzwerk, Monopolen aus Produkt, Nahrung, Unterhaltung, erhält jedes Mitglied, gefragt oder ungefragt, mindestens eintausend E-Mails, Kontaktanfragen und Einladungen zu „Like“-Conventions pro Tag. Was zuvor die Verbraucherschützer Sturm laufen ließ, ist in einem öffentlichen Akt von der Masse geschluckt worden. Die Verbraucherschützer in einer Online-Diskussion dazu befragt drückten den „Like“-Button.

      Mein E-Mail-Programm filtert und legt die Nachrichten in Ordner ab, sodass mir zwei Nachrichten im Ordner „Privat“ verbleiben. Ich öffne diesen. Die eine Nachricht von den zweien wurde falsch abgelegt:

      „Du hast eine Kontaktanfrage. Clara wartet bereits. Folge dem Link auf Multi & Media und verabrede Dich.“ Werbung einer Partnervermittlung.

      Ich stille Claras Verlangen nicht und gebe ihr einen Korb - den digitalen Papierkorb. Die andere Nachricht ist von meinen Eltern. Ich überfliege die Zeilen, überlege, ob ich sie anrufe. Lasse es dann aber sein. Es ist zu früh. Warten wir erst mal ab.

      Ich schaue durch die Doppelverglasung eines der alten Fenster meines Arbeitszimmers, eigentlich unser Esszimmer, jedoch habe ich mir unseren Esstisch vereinnahmt. Bei einer Drei-Zimmer-Wohnung nicht anders zu machen. Ess-, Wohn- und Schlafzimmer, drei, dann für jeden sein eigenes Arbeitszimmer, fünf, ein Kinderzimmer, das zunächst als Gästezimmer dienen kann, sechs, mit Kinderfreude oder besser -Freuden, denn auch ich bin in brüderlicher Bande aufgewachsen, zusammen mit dem extra Gästezimmer acht. Acht Zimmer - ein Haus. Reduziert auf drei Zimmer.

      Gegenüber schimmert bedrohlich der rote Backstein einer Schule, ein Gebäude von anno Neunzehnhundert, massiv, hoch, disziplinarisch. Ich hatte schon immer den Eindruck als könne mir dieser Ausschnitt als Indikator dienen, wie es da draußen ist. Ich trete ans Fenster heran, stelle mich dicht davor und schaue hinaus. Der Morgen hält sich bedeckt grau. Zumindest gibt diffuses Sonnenlicht dem erwachenden Tag einen leichten Hellgraustich. Der rote Backstein wabert. Das Außenthermometer steht bei dreizehn Grad.

      Schon seit Tagen liegt die Temperatur bei dreizehn Grad. Die Meteorologen vom staatlichen Wetterdienst beschwichtigen, dass die milden Temperaturen, wenn auch ungewöhnlich für Dezember, nicht aber alarmierend sind. Und schon gar nicht das Ende der Welt bedeuten. Das interessiert nur keinen.

      Nur die Wenigsten hören überhaupt noch hin, wenn der Staat, seine Regierung, sein Apparat, seine öffentlich-rechtlichen Medien floskelhaft, schwammig, politisch die Unruhe kleinzureden versuchen.

      Die Unruhe spaltete die Menschen. Nicht allein in zweierlei Lager. Der Mensch selbst verwandelte sich in spaltbares Material. Dabei verhielten sich seine Ansichten, Neigungen und Triebe wie Atomkerne. Die Unruhestiftung der Medien führte zu ihrer Kernspaltung. Durch das World Wide Web bahnte sich eine unkontrollierte Kettenreaktion durch das Social Web und die Blogosphäre, durch die Message-Portale, Foren, Chats und Dienste.

      Ein beherzter und engagierter Versuch, die frei gewordene Energie mit Attitüden von Pathos und Revolution zu versehen, mündete in der Gründung von „FWK Freie Web Kultur“ und „Web-Laisser-faire“ und beanspruchte für sich eine Freiheitliche Soziale Webordnung. Sie wurde nach nur einer Stunde gekippt. Der Grund: Sexistische Kackscheiße!

      Fortan gilt das Vorrecht des banalen Web-Kannibalismus. Je unausgegorener, je kleingeschriebener, je wortärmer, je ausdrucksloser, desto mehr geistlose Anhänger.

      Wie ihnen gerade der Sinn nach steht, wie sie gerade emotional berührt sind, vielleicht weil ihre Avatare besseren Sex haben als sie selbst oder weil sie in Echtzeit nichts Besseres anzufangen wissen, lassen sie es raus, kotzen sich aus, hinterlassen in der Blogosphäre, den Netzwerken, den Foren, den Online-Plattformen ihre digitale Schleimspur niedriger Beweggründe. Das eine Wort gibt den Zündstoff für das Widerwort, das dem nächsten nicht passt, der dagegenhält, der wiederum zurechtgewiesen wird vom nächstbesten Besserwisser. Dabei wird dem eigenen Wort, der eigenen Meinung, jeder noch so primitiven, überflüssigen, unwahren Pauschalisierung superlativische Allgemeingültigkeit beigemessen. Und wenn die wenigen Argumente ausgehen, hilft nur noch die persönliche Reduzierung, Anfeindung, Beleidigung.

      Die Spaltung schuf ein neues Menschenbild. Sie brachte ein Mensch-Isotop hervor. Eine neue Spezies. Die User.

      Während ich so dastehe und mich in Gedanken verliere, spiele ich mit dem Ring, den ich seit dem Jahr 1995 am linken Ringfinger trage. Ich streife ihn ab und betrachte ihn. Auf den ersten Blick ein einfacher Silberring, wobei er Ähnlichkeit mit einem Siegelring aufweist. Das Metall fühlt sich samtig an. Obenauf das ins Silber gestanzte Negativ einer kreisförmig angeordneten Symbolik. Eine Fratze in der Mitte mit herausgestreckter Zunge, ringsherum umgeben von dicht besetzten Hieroglyphen, unterteilt in dreizehn Sektionen, in denen schemenhaft jeweils abschließende Handlungen zu erkennen sind, die deutlichen Bezug zur sakralen Prozession erkennen lassen. Ich hänge mit dem Kopf wenige Zentimeter über dem Ring bis mir vor den Augen die Schärfe verschwimmt. Ich richte mich auf, schließe die Augen. Mir rinnt die Zeit; Schätzungen um die Bedeutung eines Ringes müssen warten.

      Drachen-Express

      Nach Verlassen der Wohnung erspähe ich durch das Treppenhausfenster Herrn Bartsch im Hinterhof. Er ist der Nachbar von unten, der gemeinsam mit seiner Frau eine der zwei Parterre-Wohnungen bewohnt. Er steht mit dem Rücken zu mir während ich passiere.

      „Nach weißer Weihnacht sieht das nicht aus, was?“, begrüße ich ihn.

      Erschrocken fährt er herum. Seine Statur ist die eines pensionierten Beamten. Bauch, Hohlkreuz, stelzige Beine, die Arme hängen schlaff zur Seite herunter, spärliches Haar. Herr Bartsch erinnert mich in vielerlei Hinsicht an den Taubengucker aus meiner Kindheit. Der Taubengucker bog jeden Tag auf seinem Uralt-Drahtesel um die Ecke, guckte Löcher in den Himmel und fuhr dabei so langsam, dass er jeden Moment drohte zur Seite zu kippen. Wenn ich ihn auf Hochdeutsch mit der Tageszeit begrüßte, guckte er nur, dann guckte er wieder Löcher in den Himmel. Das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her und noch immer habe ich diese Wirkung auf Fremde, die der Höflichkeit mit Argwohn begegnen. Auch Herr Bartsch ist kein Mann vieler Worte und es hat drei Jahre gedauert bis wir mehr Worte als nur die Tageszeit wechselten. Er trägt im Haus den Ehren-Titel des Hausmeisters. In den kalten Wintern der letzten Jahre bahnte er, einer menschgewordenen Schneeraupe gleich, beständig und ausdauernd den Weg durch die Schneemassen. Ich wünschte, es gäbe auch dieses Jahr Schnee für Herrn Bartsch.

      „Weihnachten fällt dieses Jahr aus“, verrät er und macht dabei traurig große Augen.

      Seine Gesichtsfarbe ist kreideweiß. Die Stirn liegt in Falten. Sein Mund steht ihm

      offen.

      „Doch so ernst?“, flachse ich.

      „Was sich da zusammenbraut, das haben wir noch nicht erlebt. Glauben Sie das? Die wollen doch tatsächlich vorzeitig den Bundestag auflösen. Und die Rede ist von einer neuen Form der Demokratie“, unterrichtet er mich.

      Ich will gerade positiv von bahnbrechendem Neuanfang sprechen, da fliegt in dem Moment etwas tief und mit luftzerfetzendem Getöse über unsere Köpfe hinweg. Ich richte meinen Blick nach oben. Kann aber nichts sehen. Es klingt wie Rotoren. Von überall her erfüllt das Wummern den trichterförmigen Hof. Von oben drückt komprimierte Luft, mein Körper vibriert, ohrenbetäubender Lärm lähmt.

      Herr Bartsch steht da, den Kopf im Nacken, der Mund geht auf und zu, ein bizarrer Glanz huscht ihm übers Gesicht. Und ich erwarte, dass er gleich von einem fremden Licht weggetragen wird.

      Dann