Parallelleben. Caspar Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Caspar Keller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847688518
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auf, ihre Mundwinkel ringen noch um das tendenzielle Vorzeichen, doch gewinnt ihr Lächeln. Ich küsse sie zärtlich auf den Mund. Einen Moment verharren wir noch, dann ist sie weg.

      Die Normalität aufrecht halten! Das ist, was die Regierung propagiert. Die lebt nur schon viel zu lange gedanklich auf dem Mond. Die Medien lassen daran keinen Zweifel. Es vergeht kein Tag ohne Schlagzeilen über politisches Versagen, Politiker-Versagen, Versagen der Politik. Die Spitzen der regierungsbildenden wie auch der oppositionellen Parteien bekamen anfangs gar nichts mit. Sie verstanden einfach nicht, was es auf sich hatte. Dieses penetrant wiederkehrende Datum, das es wieder und wieder auf die Tagesordnung schaffte. Das doch so gar keine Bedeutung zu haben schien. Also griffen die Parlamentarier mit jederzeit politisch versierter Gestik, die Herren schlugen die Beine übereinander, die Damen fuhren sich durchs Haar, zu ihren technischen Geräten. Der Blick in den Kalender offenbarte ganz klar seine Irrelevanz.

      Weder für die Bundestagswahl noch für die Landtagswahl, auch nicht für Wähler mobilisierende Kommunalwahlen. Die Herren machten erschrocken dicke Backen - vielleicht die Präsidenten-Wahl im Verband frauenfördernder Unternehmer? Nein, Schwein gehabt! Die Damen machten erschrocken einen schmalen Mund - vielleicht die Präsidentinnen-Wahl im Verband männerfördernder Unternehmerinnen? Nein, Glück gehabt! So sehr waren sie dem Volk entrückt, dass für sie die politische Welt am 21.12.2012 unmöglich aufhören konnte sich zu drehen.

      Das medial gebildete Volk wusste seit dem Jahr 2009, was kommt. Das Ende. Der Grund für diese Annahme geht zurück auf das geistige Vermächtnis der Maya, einem frühen amerikanischen Volk, angesiedelt in Mexiko. Die Maya brachten es während ihrer tausende Jahre dauernden Kultur zu einer erstaunlichen mathematischen und astronomischen Leistung. Hierdurch gewannen sie die Erkenntnis über die Berechnung von Fixpunkten in der Unendlichkeit der Zeit bei gleichzeitiger Berücksichtigung astronomischer Konstellationen. Die hierfür verwendete sogenannte „Lange Zählung“ endet abrupt am 21.12.2012. Dann nämlich überschreitet die Zählung im Maya-Kalender die Datumsgrenze Dreizehn. Für die Maya war die Zahl Dreizehn Beginn und Ende.

      Die profane Verwendung der Zahl Dreizehn war den Maya fremd. Sie wussten um ihre Kraft, ihren Zorn, ihre gewaltige Wut.

      Der moderne Mensch hingegen glaubte, 2013 wird ein vorzüglicher Weinjahrgang. So glaubte er auch, Technik für Fortschritt, gesund weil biologisch, Protest ist Verstand. All das glaubte er, solange er sich sicher wähnte. Mit Beginn der Unruhe verrutschte sein Glaubenskorsett. Jetzt drückt es ihm auf die Bandscheibe und macht ihn bewegungsunfähig.

      Die Unruhe überkam die Menschen nahezu im Schlaf. Über das Massenmedium TV erfolgte die erste Welle. Sie traf gut drei Viertel der Bevölkerung völlig unvorhergesehen. Die allermeisten von ihnen hatten keine Chance, sich zu entziehen.

      Insbesondere diejenigen unter ihnen, die nur mit der Schwäche von Reality-Soaps, Castingshows und Weichspülformaten gerechnet hatten, waren schutzlos ausgeliefert. Die zweite Welle erging über die Onlinemedien und erfasste weite Teile derjenigen, die dem Schein des Web-Boulevards frönten. Sie erlagen ebenso zahlreich, mit dem Unterschied, dass sich das Hin und Her qualvoll in die Länge zog. Voller Selbstüberschätzung gaben sie bis zuletzt in Foren und Chats ihren Senf ab, wähnten sich eines Besseren, teilten ihr Schlechtestes, bis sich auch hier die Wogen glätteten.

      Die erste Welle vollzog sich in drei Teilschritten. In einem ersten Schritt stellten die Medien die schicksalhafte Verbindung zwischen uns und den Maya her. Für das weitere Verständnis käme es auf vier Zahlen an. 3113, 2013, 5125, 13.

      Auf das Datum 3113 vor Christus falle der Beginn des gegenwärtigen Zyklus der Maya. Das Ende sei berechnet worden für den 21.12.2012. Nur habe man allzu sehr den Fokus auf 2012 gelegt und dadurch nicht den Blick für das Große und Ganze geschärft. Es sei schon erstaunlich, dass das Ende so kurz vor 2013 liege. Und das sei die neue, ernst zu nehmende Erkenntnis, die uns alle maßlos zu schockieren habe. Die Prophezeiung müsse dahingehend richtig gedeutet werden, dass nach 2012 nichts mehr käme. Das Ende also mit 2013 beginne. Und als wenn das nicht schon genug wäre, ergibt die Quersumme von 5125, also die Dauer des gegenwärtigen Zyklus der Maya, die Zahl 13. Na, wenn uns das mal jetzt nicht den Boden unter den Füßen wegziehe, fügten sie an.

      Das Fernsehvolk schwankte. Jetzt also doch, dachte es nur. Sie mussten sich aber auch anderweitig schwerwiegend entscheiden. Es galt per Anruf, verbunden mit horrenden Kosten, abzustimmen, wer aus der Castingshow rausfliegt. Die Schnepfe oder der Macho oder das Küken oder der Spinner oder die Kaputte oder der Penner oder das Talent, aber auf keinen Fall der Süße.

      Und fast hätte sich das Fernsehvolk für das Talent entschieden und die neue Erkenntnis über das Ende ignoriert, wenn nicht die verkabelten Bürger einer Gemeinde in der Pfalz den Medienbeobachtern gesteckt hätten, dass das Interesse schwindet.

      Also zogen die Medien alle Register. In einem zweiten Schritt erklärten sie ausdrücklich, dass das Ende der Prophezeiung der Maya kein Zufall mehr sei. Zur Verdeutlichung verwiesen sie auf die 0,01-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass Beginn und Ende der Mayaprophezeiung sich ausgerechnet auf Jahre beziehe, die am Ende die 13 hätten. Also, das sei aber jetzt so richtig beängstigend, merkten sie an.

      Das Fernsehvolk wusste nicht, was es von 0,01-prozentiger Wahrscheinlichkeit halten sollte und dachte nur, bestimmt hat das wieder so ein Klugscheißer von Mathe-Genie herausgefunden und wünschten sich, sie könnten den aus der Castingshow werfen. Bei den verkabelten Bürgern aus der Gemeinde in der Pfalz lagen mittlerweile die Nerven blank und vor lauter Aufregung über die zutage tretende Unfähigkeit der Medien bissen sie in die Kabel, die sie mit den Medienbeobachtern verband. Dadurch verursachten sie einen Kurzschluss, der sie voneinander trennte. Manch einer unter den Bürgern der Gemeinde in der Pfalz nutzte die Gelegenheit und wechselte frei von Beobachtung auf den Sexkanal.

      Die Medien, ahnungslos und blind, schlugen das große Buch der Marktforschung auf. Darin enthalten sind alle Ergebnisse, Erkenntnisse und Taktiken aus nahezu einhundert Jahren Konsumentenforschung in Form von medizinischen Experimenten, klinischen Studien und Verträglichkeitstests von Produkten, die mit den Probanden überwiegend freiwillig und nur in den ersten fünfzig Jahren unter Anwendung von körperlichem und psychischem Zwang vorgenommen wurden. Die Medien fanden darin ihre Antwort. Sie entschieden sich für eine analoge Anwendung der Strategie Dreiunddreißig aus dem Experiment: Verabreichung von Keksen, wie von Mutti, mit Psychopharmaka versetzt. Zwar überlebte der Proband selbst das Experiment nicht, aber sie würden ja auch niemandem illegal Arzneimittel verabreichen wollen - sie doch nicht. Nein, sie wendeten das Ergebnis nur quasi an, indem sie dem Fernsehvolk mit Raffinesse und psychischer Manipulation auf die Sprünge halfen.

      Also erklärten sie in einem dritten Schritt ganz einfach, die Gesamtkonstellation der vier Zahlen sei so unwahrscheinlich wie Lotto. Und nichts weiter.

      Jetzt hörte das Fernsehvolk hin und dachte sich, wenn das, was die Maya sagen so unwahrscheinlich ist wie Lotto, für das sie aber jede Woche ihr hart verdientes Geld rauswerfen und das in der Hoffnung, raus aus Maloche, rein in Dekadenz, für sie und ihn mit neuen Titten und auch nicht gewillt sind daran was zu ändern, denn besser niemals an Lotto zweifeln, immer nur Lotto vertrauen und niemals blöde sein und an etwas noch viel Unwahrscheinlicheres, nämlich an sich selbst glauben, dann vertrauen sie jetzt doch besser den Maya und den Medien, denn die müssen es ja wissen. Das Talent flog trotzdem im Anschluss aus der Castingshow.

      Dann brach die Unruhe aus.

      Die Medien lieferten mit dieser Aktion ihr Glanzstück ab. Sie selbst nannten es später aus Eigenlob und Selbstverliebtheit den Ikarus der Borniertheit und schufen im Wege der Vermarktung das Ikarus-Festival, den Ikarus-Award und den Ikarus-Newcomer-of-the-Year.

      Nachdem die entkabelten Bürger der Gemeinde in der Pfalz wieder eingefangen und vom Freiheitsgefühl entwöhnt waren, erfolgte die zweite Welle.

      Fortan lieferten die Medien Rund-um-die-Uhr-Liveberichte von Plätzen, wo nichts passierte. Sie erklärten aber mit höchst wissenschaftlicher Gewissheit, dass wenn man nur lang genug sich das mal vorstelle, man einen höchst exklusiven Eindruck kriege. Also begannen die Menschen auf die Bildschirme zu stieren. Auf die Fernseher, auf die Displays, auf die Screens, auf die Oberflächen. Denn sie wollten ja um nichts auf der