Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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An norma­len Tagen wimmelte es hier von Berufstätigen, die Atocha als Dreh­kreuz zwischen ihren Büros in der Innenstadt und ihren Wohnun­gen in den Vororten nutzten. Hinzu kamen jetzt die Pilger. Viele wa­ren in den Vororten Getafe und Leganés untergebracht, wusste Os­car. Sie wuselten die breiten Treppen des Bahnhofsgebäudes herun­ter wie aus einem Bienenstock. Überall sah Oscar ihre gelben Hüte, die orange-schwarzen Rucksäcke, die Fahnen.

      Wie eine zu gut gelaunte Besatzung, dachte er.

      Anders als Nando, der wie ein farbenverwirrter Stier in den gel­ben Hüten bloß ein neues, sehr gelegenes Reizsignal sah, um sich zu prügeln, scherte Oscar sich nicht sonderlich um sie. Er hatte Religi­on generell immer skeptisch beäugt, das Christentum speziell. Eine Religion, in der Vergewaltiger Erlösung finden konnten, wenn sie nur rechtzeitig bereuten. Doch nur weil die Kirche Menschlichkeit ihrer Dogmatik opferte, hasste er die Pilger nicht. Nur an diesem Ort störte ihn die Anwesenheit der Fremden. Das war ein spani­scher Platz. Genau hier hatte er gestanden, vor sieben Jahren, nach­dem sein Freund Miguel nach der Bombenexplosion in einem Regionalzug zusammen mit fast zweihundert anderen gestorben war. Zu Tausenden hatten sie hier gegen den Terrorismus protes­tiert. Schweigend. Mit Kerzen in den Händen. Oscar hatte geweint.

      Heute saß das Gebäude da, als wäre nie etwas passiert. Während sie darauf zusteuerten, fielen Oscar die drei Reiter der Polizei auf, die in einigem Abstand dazu im spärlichen Schatten einer Ta­pas-Bude Stellung bezogen hatten. Selbst die Tiere schien die Hitze zu quälen. Sie schüttelten die Köpfe und trippelten herum, dass sie ihre Köpfe in den Schatten halten konnten, nur damit ihre Reiter sie wieder herumlenkten, damit sie selbst nicht in die Sonne schauen mussten. Daneben ließ gut ein Dutzend uniformierter Fußsoldaten in olivgrüner Vollmontur die Schultern hängen. Auf den flimmern­den Treppen, die zum Hauptgebäude hinaufführten, lungerte eine Gruppe spanischer Jugendlicher in ihrem Alter. Einige rauchten, an­dere zeigten sich die neusten Tricks auf ihren Skateboards, wieder andere tranken Hochprozentigen, den sie zwischen den Schlücken in den Innentaschen ihrer Jeansjacken versteckten. Jedem Pilger, der sie passierte, pfiffen oder fluchten sie hinterher. Oscar fragte sich, wie sie bei den Temperaturen freiwillig lange Ärmel tragen konn­ten. Doch noch mehr fragte er sich, was die beiden dunkellockigen Jungen in der Gruppe suchten, die Oscar so bekannt vorkamen und sich enthusiastisch mit den anderen unterhielten, obwohl sie ein­deutig Pilger waren. Die Ausweise um ihre Hälse verrieten sie.

      Zwanzig Meter entfernt bemerkte Oscar das Polynesen-Tattoo. Er zog Selena am Arm, doch die hatte es schon gesehen. Unauffällig änderte sie ihren Kurs an der Gruppe vorbei.

      Doch Marilyn blieb Marilyn; auch wenn es nicht Teil des Plans war. Der andere Junge, deutlich kleiner und schmaler, erkannte sie im selben Augenblick und zog den Tätowierten auf eine Art am Arm, die ihn sofort aus dem Gespräch löste. Brüder, vermutlich, dachte Oscar. Ob der Große wusste, dass sein Bruder schwul war?

      Auf dem Weg nach unten nahm der Tätowierte zwei Stufen auf einmal. Er hatte ein Gesicht für Zahnpastawerbungen und breite Schultern, um sein Gesicht vergessen zu lassen.

      »Schon genug Opfer für heute, Victoria Cuentra?«, fragte er. Sein ausgezeichnetes Spanisch hatte einen südamerikanischen Einschlag. Er sprach den Namen aus, als wüsste er, dass er falsch war.

      »Jacob, richtig?« Selenas Lächeln wirkte nicht einmal aufgesetzt. »Ja, für heute ist Feierabend.«

      »Erfolgreich?«

      »Können nicht klagen.«

      »Cooler Nasenring.«

      »Trage den nur privat. Der Boss sieht's nicht so gerne.«

      In der Stille, die folgte, glaubte Oscar, das Gewicht in seinen Ge­säßtaschen würde ihm die Hose herunterziehen. Er hatte Jacobs Portemonnaie. Der Junge, der Jacob hieß, kratzte sich am Nacken.

      »Ich glaube, ich hätte deinem Rat besser folgen sollen«, lachte Ja­cob. »Mir hat wirklich einer das Portemonnaie abgezogen.«

      Er ließ die Höflichkeitsform fallen, als wolle er Selena ein zweites Mal herausfordern, nachdem er ihr schon ihren falschen Namen vor die Füße geworfen hatte. Oscars Hosentasche fing Feuer. Er konnte nicht sagen, ob Jacob etwas ahnte, es sogar wusste, oder vollkom­men naiv war und keinerlei Gedanken daran verschwendete, dass Selena ihm das Portemonnaie noch während des Gesprächs wieder aus der Hosentasche gezogen haben könnte.

      »Bist du hier nicht falsch?« Selena deutete über den Platz und dann auf den Weltjugendtagsausweis, den Jacob noch immer um seinen Hals trug. »Habt ihr euch verlaufen?«

      »Abgekapselt trifft es eher. Du erinnerst dich an meinen Bruder?«

      Der Bruder hieß Mo. Alle stellten sich vor. Wieder fiel Oscar auf, dass Selena die einzige war, die ihn bei seinem richtigen Namen nannte. Auch das mochte er an ihr. Der andere Junge, Mo, war aus nächster Nähe unverkennbar Jacobs Bruder. Er verstand wenig von dem, was gesprochen wurde, nickte aber brav. Nicht einmal Selenas Lächeln hob seine Laune. Was Oscars Radar noch deutlicher aus­schlagen ließ als noch am Mittag. Alle gaben sich die Hände. Jacob suchte den Augenkontakt; grüne Augen, die Oscar signalisierten, dass stimmte, was die breiten Lippen sagten, dass Jacob sich wirk­lich freute ihn kennenzulernen. Selbst die Randalemacher hatten wohl über das unverkennbare Schild um seinen Hals hinweggese­hen. Oscar fragte sich, ob man die Art des Deutschen nicht auf An­hieb sympathisch finden konnte.

      »Stolzer Händedruck«, lachte Jacob, als er Nando die Hand gab.

      Nando schnaubte etwas, erhöhte den Druck. Jacob ließ sich nichts anmerken, wandte sich schon wieder Selena zu. Der Stier ließ seine Nüstern plustern.

      »Vielleicht solltest du die Dorfjugend hier mal interviewen«, schlug Jacob vor. »Die haben zu dieser Massenveranstaltung ihre ganz eigene Meinung.«

      Selena konnte sich diese sicher genau vorstellen. Unter anderen Umständen hätte sie den Tequila mit ihnen vielleicht geteilt. Trotz­dem fragte sie nach, wie eine Reporterin nachgefragt hätte.

      »Ach, es geht um diese fünfzig Millionen Euro«, antwortete Ja­cob. »Ich hab mich aufklären lassen. Offenbar wir das hier ja viel diskutiert.«

      Die 50-Millionen-Euro-Frage. Angeblich hatte die Regierung den Weltjugendtag mit Steuergeldern mitfinanziert, die das Volk — be­sonders das junge — gerne in Universitäten und Arbeitsplätze in­vestiert gesehen hätte. Oscar selbst wartete immer noch, dass sich eine Meinung so weit durchsetzen würde, dass er sie als seine eige­ne ausgeben konnte. Sein Cousin hatte sich längst positioniert, auch wenn Oscar glaubte, dass Nando lediglich dachte, so Selena beein­drucken zu können. Engagiert begann er zu schimpfen, doch Jacob hob schnell die Hände. Er wolle nicht mit einem Pilger verwechselt werden, sei viel eher auf der Seite der Spanier, sagte er. Schnell ent­brannte unter Selena und ihren beiden Verehrern eine heiße Diskus­sion. Oscar wandte sich gelangweilt ab.

      Auch Jacobs Bruder hörte nicht hin. Ihre Blicke trafen sich. Oscars Radar schlug wieder aus, unmissverständlich, doch aus dem ge­quälten Gesicht kam nichts zurück. Verleugnungsphase, schloss Os­car. Seine eigene war noch nicht lange her.

      »Oscar, si

      Oscar nickte, die Lippen zusammengepresst. »Mo.«

      »Ghandi.« Mos Hand deutete auf Oscars T-Shirt. Das Konterfei von Mahatma Ghandi prangte dort, gelb auf schwarz.

      »Ja, Ghandi.«

      »Chulo

      Stille. Für mehr reichte Mos Spanisch wohl nicht. Oscar glaubte Grillen zirpen zu hören.

      Jeder sah wieder in eine andere Richtung. Von irgendwoher drang Lärm. Ansehnliches Gesicht, dieser Deutsche, dachte Oscar, wäh­rend er ihn von der Seite betrachtete. Wenn sein Bruder einmal genug Abstand nahm, um keinen Schatten zu werfen. In einer Boyband wäre Mo der vom Management zum introvertierten Schweiger mit den träumerischen Augen stilisierte Keyboarder gewesen, auf den fette Mädchen standen, weil sie vorgaben, einfühlsame Jungs zu bevor­zugen, obwohl sie sich in Wahrheit nur vom Geschmack der Masse absetzen wollten und wussten, neben den aufgetakelten Klassenka­meradinnen