Nicht von ungefähr gab Marlen Haushofer den Roman ihrem ersten Leser mit folgenden Worten zu lesen: »Hier ein Katzenroman.« Das ist mehr als bloßes Understatement.
Diese Auslagerung der Persönlichkeit findet sich, besonders bildhaft, in den Romanen der Reihe »His Dark Materials« von Philip Pullman (ab 1995 / der erste Band als Film: »Der goldene Kompass«, USA, Großbritannien 2007; Regie und Drehbuch: Chris Weitz). Dort hat jeder Mensch seine Seele in ein Tier ausgelagert, das ihn ständig begleitet.
Ein andres schönes Bild ist uns aus zahllosen Filmen und Cartoons vertraut: Auf der Schulter des Helden sitzend streiten sich ein Engelchen und ein Teufelchen miteinander.
In der Wirklichkeit findet sich Vergleichbares: bei den Totems der Indianer, die als eine Art Schutzgeist, Krafttier, Urahn betrachtet werden. Und nicht zuletzt bei dem Klischee, dass ein Hund seinem Besitzer mit der Zeit immer ähnlicher wird.
An folgenden Stellen aus »Die Wand« wird deutlich, dass Marlen Haushofer die Tiere als Symbole oder Aspekte ihrer selbst verwendet (bewusst oder unbewusst):
Luchs, schöner, braver Hund, wahrscheinlich macht nur mein armer Kopf das Geräusch deiner Tritte, den Schimmer deines Fells. Solange es mich gibt, wirst du meine Spur verfolgen, hungrig und sehnsüchtig, wie ich selbst hungrig und sehnsüchtig unsichtbare Spuren verfolge. Wir werden beide unser Wild nie stellen.
(…)
Wenn ich »Winter« denke, sehe ich immer den weißbereiften* Fuchs am verschneiten Bach stehen. Ein einsames, erwachsenes Tier, das seinen vorgezeichneten Weg geht. Es ist mir dann, als bedeute dieses Bild etwas Wichtiges für mich, als stehe es nur als Zeichen für etwas anderes, aber ich kann seinen Sinn nicht erkennen.
(…)
Luchs war immer selig, als ich ihn streichelte. Freilich, er konnte gar nicht anders, aber ich vermisse ihn deshalb nicht weniger. Er war mein sechster Sinn. Seit er tot ist, fühle ich mich wie ein Amputierter.
(…)
Im Traum bringe ich Kinder zur Welt, und es sind nicht nur Menschenkinder, es gibt unter ihnen Katzen, Hunde, Kälber, Bären und ganz fremdartige pelzige Geschöpfe.
Als Symbol für die Erzählerin selbst, in ihrer Gänze, steht (neben dem weißen Fuchs) eine weiße Krähe, die entsprechend im letzten Satz des Romans eine Rolle spielt. Die anderen Tiere – die im Roman und die aus dem oben zitierten Traum – stellen Facetten der Protagonistin dar, die mal mehr, mal weniger offensichtlich sind.
Indem Sie Teile der Persönlichkeit eines Charakters auslagern, können Sie in Ihrem Roman Aspekte Ihrer Hauptfigur nicht nur agieren, sondern sogar miteinander in Konflikt treten lassen.
Beispiel. In Ihrer Heldin streiten sich Ordnungsliebe und Chaos miteinander. Sie zeigen einen Streit zwischen Berta, der Tochter Ihrer Heldin, die für die Ordnungsliebe steht, mit dem Sohn der Heldin, Max, der für das Chaos antritt.
Sie können noch weiter gehen und wiederum aus den Handlungen der Kinder Rückkopplungen zur Mutter einflechten: Wie reagiert sie auf den Streit? Welche Seite nimmt sie ein? Was sind ihre Argumente dafür?
Das alles wird, sofern es sich um wesentliche und für den Roman wichtige Facetten der Persönlichkeit Ihrer Heldin handelt, Ihren Roman vertiefen. Zugleich bietet Sie dem Leser damit eine spannendere Alternative zu inneren Monologen.
Auch symbolische Wirkungen können Sie auf diese Weise verstärken.
Beispiel. In einem Unternehmen macht der neue Mitarbeiter dem alten Hasen seine Position streitig. Der schon stereotype Satz des alten Hasen dazu: »Du erinnerst mich an mich.« Der Aufsteiger symbolisiert, er versinnbildlicht den Hasen, wie er in seiner eigenen Jugend war. Interessant (weil konfliktreich) wird es dann, wenn der Junge einen anderen Weg einschlägt als der Alte damals und den Alten, gerade dadurch, schlägt. So etwa in dem Filmklassiker »Wall Street« mit Michael Douglas und Charlie Sheen (USA 1987; Regie: Oliver Stone; Drehbuch: Stanley Weiser, Oliver Stone).
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*) Nein, dem Fuchs hat man keine weißen Reifen aufgezogen. Sein Fell sieht aus, als trüge es weißen Reif.
[Meinen Dank an Solveig, durch deren hilfreichen Kommentar im Blog ich diesen Artikel um einen Aspekt erweitern konnte.]
Wie Sie Ihre Charaktere den Lesern näher bringen
So fesseln Sie Ihre Leser (an die Heldin Ihres Romans)
Kinofilme des Hollywood-Mainstreams eignen sich wegen ihrer übersichtlichen und klaren Struktur gut zum Studieren klassischer Plot-Formen. Kinder- und Jugendbücher sind meist vergleichsweise einfach (wenngleich nicht notwendig simpel) gestrickt. Auch an ihnen lässt sich gut zeigen, worauf es beim Erzählen ankommt.
Beispielhaft ist, wie Christoph Marzi in seinem Roman »Grimm« (Heyne 2010) die jugendliche Heldin Vesper einführt. Nach wenigen Seiten hat er den Lesern all das geliefert, was sie brauchen, um die Figur zu mögen, sich für sie zu interessieren und ihr beizustehen durch dick und dünn.
Marzi arbeitet mit bewährten Eigenschaften. In einem Erwachsenen-Roman (Randnotiz: Was stellen Sie sich unter einem erwachsenen Roman vor? Was muss ein Roman haben, um erwachsen genannt zu werden?) wirken diese womöglich ein wenig flach, banal oder stereotyp. Man sollte aber nicht vergessen, dass das Zielpublikum noch nicht so viele Klischees und Stereotype eingesammelt hat wie Erwachsene – der 28-Jährigen ihr alter Hut ist dem 8-Jährigen seine Offenbarung.
Welche Eigenschaften machen Vesper zu einem Menschen, den wir mögen, wertschätzen, ja, vielleicht als Heldin anhimmeln, falls wir noch etwas jünger sind?
Vesper ist stark. Die klassisches Heldeneigenschaft. Wir mögen starke Charaktere.
Vesper ist ehrlich. Das war, bei Erscheinen von Marzis Buch, nicht mehr bloß eine Sekundärtugend. In unsicheren Zeiten mit einer sehr ungewissen Zukunft, in der Betrügen zur Normalität zu werden scheint, dürften solche Eigenschaften wie Ehrlichkeit neue Bedeutung gerade bei Kindern und Jugendlichen gewinnen.
Vesper ist unabhängig. Während Stärke allein etwas bieder und langweilig wirken mag, ist Unabhängigkeit gerade bei einer Frau oder einem Mädchen etwas Aufregendes für jugendliche Leserinnen. Einen Helden zeichnet seine Unabhängigkeit aus, was auch heißt: Individualität. Ein Held ist keiner, der in einer Gruppe zum Sieg rennt. (Die Helden von Bern, die 1954 das Fußballwunder von Bern vollbrachten, mögen mir das verzeihen.)
In dieselbe Kerbe haut auch das Rebellische in Vesper (Sorry, das Rebellische haut in die Kerbe? Frühmorgenmetapher …). Sie ist nicht zufrieden mit den Zuständen, und, noch wichtiger: Sie ist nicht bereit, sich mit diesen Zuständen abzufinden. Sie tut etwas dagegen.
Womit eine essenzielle Eigenschaft einer Heldin präsent wäre: Eine Heldin wird aktiv, sie reagiert nicht, sie agiert. In Autorensprache übersetzt: Sie bringt einen Roman voran, sie wirft sich gegen die Hindernisse, die ihr auf dem Weg zu ihrem Ziel im Weg stehen. Man kann es nicht oft genug sagen: Passive Helden sind der sichere Tod jedes Romans.
Vesper ist eigen. Sie hat etwas an sich, was andere nicht haben. Sie denkt ihre eigenen Gedanken, zieht ihre eigenen Schlussfolgerungen. Das hat viel mit Unabhängigkeit zu tun, beschreibt jedoch mehr die Unabhängigkeit im Denken.
Eigen sein heißt oft auch, originell zu sein. Wir lieben originelle Helden: Sie überraschen uns mit ihren Ideen, mit witzigen Dialogen, sie lösen die Probleme des Plots auf ihre, eben ganz eigene Art.
Eigentlich (sic!) ist ein eigener Charakter denkbar weit vom Klischee entfernt.