Diesen Wissensvorsprung seines Charakters können Sie nahezu beliebig in die Länge und durch den Roman ziehen. Was zugleich die Schwierigkeit und die Gefahr ist: nicht zu erkennen, wann der späteste (und damit optimale) Moment gekommen ist, das Rätsel zu lösen.
Es bleibt nicht die einzige Gefahr. Stellen Sie als Autorin das falsch an, fühlt der Leser sich hingehalten. Vor allem dann, wenn das Geheimhalten künstlich wirkt. Ob es das tut, steht und fällt damit, wie konsistent Sie in der gewählten Perspektive erzählen.
Beispiel.
Gerade in der Ich-Perspektive wirkt es unglaubwürdig, wenn die Erzählerin ein wichtiges Geheimnis, das ihr bekannt ist, anspricht, es aber nicht verrät.
So habe ich den Roman »Sister« von Rosamund Lupton (Piatkus 2010 / eigene Übersetzung / dt. »Liebste Tess«) auch wegen einer solchen, für mich sehr gewollt und künstlich wirkenden Konstruktion beiseitegelegt.
Die Erzählerin schreibt an ihre tote Schwester und über den Mord, dem sie zum Opfer gefallen ist. Den Mörder und die Umstände kennt sie, aber sie verrät sie dem Leser nicht – mit einer an den Haaren herbeigezogenen Begründung:
Und es geht darum, dir zu sagen, warum du ermordet wurdest. Ich könnte am Ende beginnen, dir die Antwort geben, die letzte Seite, aber du würdest eine Frage stellen, die ein paar Seiten weiter zurück führt, dann noch eine, den ganzen Weg dahin zurück, wo wir jetzt sind. Also werde ich dich einen Schritt nach dem anderen führen, so, wie ich selbst dahinterkam, ohne mit meinem Wissen vorzugreifen.
Allein dass die Autorin hier den Bedarf hat, das Geheimhalten zu begründen, zeigt schon, wie fadenscheinig diese Konstruktion ist.
Das können Sie auch auf alle anderen Erzähltechniken anwenden: Immer, wenn Sie etwas ausführlich begründen oder erklären, liegt etwas im Argen. Erklärungen des Autors lösen keine Probleme, sie machen lediglich darauf aufmerksam.
Suchen Sie den Fehler und beheben Sie ihn – erzählerisch.
Ich jedenfalls werde das Rätsel, wer den Chocolatier ermordet hat, hier nicht aufdecken, so künstlich Ihnen diese Geheimniskrämerei auch vorkommen mag.
In der Regel erlauben die Leser dem POV-Charakter einen Wissensvorsprung und sind gerne bereit, sich dafür sehr weit an der Nase herumführen zu lassen. Wie weit, das ist leider von Leser zu Leser verschieden.
Anders stellt sich die Sache bei auktorialer Erzählperspektive dar. Der Erzähler dort ist kein Charakter des Romans. Stattdessen wird er als externer Erzähler wahrgenommen und akzeptiert. Der Leser verzeiht ihm jedwede Finte und Finesse, mehr noch: Der Leser erwartet, von ihm möglichst wirkungsvoll genasführt zu werden.
Wenn im auktorialen POV eine Romanfigur mehr weiß als der Leser, wird dies als erzählerisches Mittel erkannt und nicht als etwas, was den Charakter seine Glaubwürdigkeit kostet.
Der andere Fall eines Wissensvorsprungs: Der Leser weiß mehr als der POV-Charakter. Das klassische Beispiel: Im Keller sitzt das mit einem Samowar bewaffnete Monster Edeltrud, bereit, jedem Teenager, der zufällig die knarrenden Stufen hinabsteigt, gnadenlos eine Tasse selbst zubereiteten Kamillentees einzuflößen. Wir Leser schreien den Teenagern mental zu: »Tu’s nicht! Da unten sitzt Edeltrud!« Und wollen natürlich, dass die Teenager dennoch hinunter gehen, obwohl sie den Kamillentee ja schon auf der Treppe riechen können.
Die Spannung hier resultiert daraus, dass der Leser Gefahren früher erkennt als der Held und hilflos mit ansehen muss, wie der von uns geliebte Charakter in die Gefahr hineinläuft. Diese Hilflosigkeit ist ein gewaltiger Reiz, den wir im Leben außerhalb eines Buchs tunlichst vermeiden. Beim Lesen aber setzen wir uns ihm gerne aus, weil er dort nur simuliert wird.
Die Technik bietet unendlich viele Ausgestaltungsmöglichkeiten, etwa bei Geschichten, die nicht chronologisch erzählt werden oder wo der Leser das Ende schon am Anfang erfährt.
Die Gefahr: Der POV-Charakter – man denke an den Teenager, der nicht weiß, dass Kamillentee Gefahr bedeutet – erscheint dem Leser wenn nicht als dumm, so doch als nicht an den Grenzen seiner Möglichkeiten agierend. Das sollten Sie ausgleichen.
Beispiel. Sie legen vorher an, dass besagter Teenager Heuschnupfen und eine verstopfte Nase hat und so den Tee nicht riechen kann.
Bestseller-Autorin Patricia Cornwell gönnt den Lesern in »Bastard« (Hoffmann und Campe 2011) einen Wissensvorsprung gegenüber ihrer Ich-Erzählerin Ray Scarpetta. Cornwell sagt dazu: »Es ging mir darum, den Fall eines jungen Mannes, der mit einer sehr ungewöhnlichen Waffe ermordet wird, aus Kays Sicht zu schildern. Der Leser mag dabei oft in seinen eigenen Erkenntnissen ein Stückchen weiter sein als Kay. Ich habe diesen dramatischen Trick ja schon mehrmals in meinen Büchern angewandt und benutze ihn immer gerne, wenn Kay privat stark involviert ist.« (aus: Bücher 1, 2012, S. 51).
In der Variante des allwissenden Erzählers fühlt der Leser sich vom Erzähler ins Vertrauen gezogen, ja, als sein Verbündeter: Der Leser und der Erzähler wissen gemeinsam etwas, was der Charakter im Roman nicht weiß, das gemeinsame (Mehr-)Wissen schweißt sie zusammen.
Spätestens bei der Überarbeitung sollten Sie solche Wissensvorsprünge auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersuchen. Und wissen, ob Sie den Leser an der Nase herumführen oder ihn zu ihrem Verbündeten machen möchten.
Die Vorteile von Froschperspektive und Understatement
Vom Zehnmeterturm! Für Lore – und nicht für den Führer!
Die Helden Ihres Romans leben in ihrer eigenen, begrenzten Welt. Vergessen Sie das nicht – insbesondere auch dann nicht, wenn Sie über große und bedeutende und welterschütternde Ereignisse schreiben. Mit einer wunderbaren Lakonie zeigt Oliver Storz diese Sicht in seinem Roman »Die Freibadclique« (SchirmerGraf 2008) über eine Jugend in Schwaben 1944 bis 1946:
Die Westalliierten kamen schnell voran. Die Russen zielten auf Warschau. Bubu und ich sprangen vom Zehnmeterturm. Für Lore. Die war schon neunzehn und schaute uns trotzdem zu.
Zwar wissen die Jungen um das Weltgeschehen, aber ihr Leben leben sie in ihrer kleinen Welt. Die großen Ereignisse sehen sie, wie wir alle sie sehen, eben auch als Leser: aus der Froschperspektive.
Wenn Sie sich in einem Abschnitt für eine Erzählperspektive entschieden haben, verlassen Sie sie nicht automatisch wieder, sobald es um Politik oder Gesellschaft geht. Gerade in historischen Romanen oder solchen mit politischem Hintergrund oder gar einer Botschaft erhebt sich der Autor allzu leicht vom engen Leben seiner Figuren – und auch in Fantasy- und Science-Fiction-Romanen passiert das leicht, wenn eine fremde Welt beschrieben und erklärt wird.
Das Ausbrechen mag gewollt und sinnvoll sein und manches lässt sich kaum aus der persönlichen Perspektive eines Einzelnen erzählen. Wollen Sie jedoch, dass Ihre Leser in jedem Moment Ihres Romans so nah wie möglich bei Ihren Charakteren bleiben, ist das Beharren in der engen, personalen Erzählperspektive die bessere Wahl.
Vorsicht geboten ist bei der Perspektive des allwissenden oder auktorialen Erzählers. Sie verführt dazu, Propaganda, Belehrung und eigene Kommentare in die Geschichte eindringen zu lassen. Falls Sie das nicht möchten, bewegen Sie sich auf einem schmalen Grad. Achten Sie auf jeden Ihrer Schritte.
Ein anderes Problem kann sich offenbaren, wenn der allwissende Erzähler ganz auf Agitation verzichtet und, im Gegenteil, sehr objektiv berichtet: In längeren Abschnitten mit dieser Erzählstimme besteht dann die Gefahr, dass nur über das berichtet wird, was passiert – Handlung pur –, Reaktion und Reflexion aber fehlen – und dadurch auch Emotion.
Gravierender: Von der Einstellung der Charaktere zu den geschilderten (Groß-)Ereignissen erfährt der Leser nichts und verpasst damit ausgerechnet das, was ihn am meisten interessiert und an die Geschichte fesselt.
Beispiel – Objektive Sicht eines allwissenden