Als er zurück zum Bett geht, fällt ihm auf, dass er sich in die Tagesdecke eingerollt hatte. Er war heute Nacht einfach zu erledigt, um das noch zu merken. Jetzt ist er allerdings wach und kann die Sonne durch die Vorhänge sehen.
»Noch ein Viertelstündchen oder aufstehen?« diskutiert Erik mit seinem inneren Schweinehund. Da die Klimaanlage läuft, ist es recht kühl im Zimmer. Während Erik noch mit sich kämpft, beginnt er zu frieren, so dass er sich wieder ins Bett legt. Der Kampf mit seinem inneren Schweinehund hat ihn so ermüdet, dass er gleich wieder einschläft.
Zwei Stunden später wacht er wieder auf. Nach einer ausgiebigen Dusche lässt er sich ein Frühstück aufs Zimmer bringen und genießt, nachdem er die Vorhänge geöffnet hat, den Blick über Delhi aus dem 10. Stock. Als er die Balkontür öffnet, stoppt das leise Rauschen der Klimaanlage sofort. Kaum hat er die Tür zur Seite geschoben, trifft ihn ein aggressives Sonnenlicht, so dass er seine Augen zusammenkneift. Die Scheiben des Hotels sind getönt, so dass sie einen Teil des grellen Sonnenlichts zurückhalten. Dazu kommt die flirrende Hitze, die augenblicklich zusammen mit den unangenehmen Gerüchen in sein Zimmer eindringt und nach ihm greift. Nachdem sich seine Augen etwas an das helle Licht gewöhnt haben, erkennt er, dass die Sonne eher milchig am Himmel steht. Es ist keine Wolke zu sehen, aber ein blauer Himmel ist das auch nicht. Eher dunstig wie ein leichter Nebel. Erik vermutet den Grund in den Abgasen der Fabriken, der Fahrzeuge und der vielen Feuer. Er stützt sich auf das Geländer und blickt nach unten. Er steht zufälligerweise direkt über dem Eingang für das Personal und es scheint gerade Schichtwechsel zu sein. Erik beobachtet ein stetes Kommen und Gehen, eine bunte Schar, die sich vor dem Eingang sammelt und langsam in das Hotel einsickert.
»Wo diese Menschen wohl übernachtet haben? Womöglich auch am Straßenrand. Und jetzt sollen Sie in diesem Luxus die verwöhnten Gäste bedienen?«, fragt sich Erik. »Ich frage mich, wie ein Mensch diesen krassen sozialen Unterschied aushalten kann.«
Erik ist froh über den Abstand aus dem 10. Stock, so dass es bei der philosophischen Frage bleibt. Die Hitze auf dem Balkon erträgt er aber nur kurz. Im Zimmer sind es vielleicht 23°C, wohingegen draußen jetzt schon über 40°C sind. Erik schließt wieder die Balkontür und die Klimaanlage springt augenblicklich wieder an.
»Wow, allein für den Betrieb der Klimaanlage wird dieses Hotel sicherlich ein Vermögen aufbringen.«, überlegt Erik. Dazu kommen noch viele weitere Stromverbraucher, wie die Beleuchtung, die Restaurants, Küchen, Fernseher in den Zimmern und so weiter. Da Erik in der Energiebranche tätig ist, beginnt er fast automatisch eine Hochrechnung: »Auf der Klimaanlage für den Raum steht 3 kW Leistung. Wenn die nur das halbe Jahr läuft, sind das schon locker 15.000 kWh. Das ganze mal 200 Zimmer sind 3 Millionen kWh pro Jahr. Ich habe keine Ahnung, was der Strom hier kostet, aber bei uns zuhause dürfte das so bei 20 Cent pro kWh liegen. Ein Vermögen von mehreren hunderttausend, was hier jedes Jahr im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft geblasen wird.«, sinniert Erik. »Für ein angenehmes Leben brauchst Du hier also viel Kohle.«, schließt er seine Überlegungen ab.
Geplant ist, dass Erik am Abend mit der Bahn die 600 km lange Reise zur Baustelle antreten soll. Zuerst muss er sich allerdings im Büro der Firma melden, damit sich jemand um die Koffer im Zoll kümmert. Außerdem braucht er ja noch die Zugtickets und weitere Details, wie er schließlich zur Baustelle kommt. Erik sucht aus seinem Adressbuch die Kontaktdaten und Telefonnummer des Büros. Es meldet sich eine Inderin, die ein leidliches Englisch spricht. Etwas überrascht ist Erik dann doch, als die Person, an die er weitergeleitet wird, sich in perfektem Deutsch meldet.
»Hallo, Herr Jacobsen, willkommen in Delhi. Hatten sie eine gute Reise?«
Erik erzählt dem Büroleiter seine Geschichte. Er ist weder überrascht noch verärgert, sondern erklärt nur, dass das öfters passiert. Erik muss allerdings noch einen Tag länger in Delhi bleiben, um die Formalitäten mit dem Zoll zu klären. Außerdem bräuchte er Eriks Reisepass, da gegen ihn ja ein Verfahren eingeleitet wurde. Bevor er wieder ausreisen möchte, sollte das Verfahren abgeschlossen sein. Ansonsten dürfte es bei der Ausreise Probleme geben. Der Büroleiter erklärte weiter, dass er einen Boten schicken wird, der sich darum kümmern wird.
Etwas irritiert legt Erik den Hörer wieder auf. Den Pass abzugeben ist irgendwie keine gute Idee.
»Wenn ihm jetzt irgendetwas passiert, kann ich womöglich nicht einmal das Land verlassen, sondern kann nur beten, dass ich die Zustände überlebe.«, murmelt Erik entnervt zur Wand. »Na ja, wird schon irgendwie schiefgehen.«, wischt er seine negativen Gedanken beiseite.
Da der Zug erst am Abend abfährt, ist eigentlich noch genug Zeit, um sich die Stadt etwas näher anzusehen. »Mit dem Taxi eine Rundfahrt zu machen dürfte wohl die beste Methode für das Erste sein!«, entscheidet sich Erik und zieht sich an.
Eine Stadtrundfahrt
Die tiefen Teppiche in den Fluren, abgestimmte Farben, blank poliertes Messing an den Fahrstuhltüren. Es erfordert viel Aufwand, um diesen Luxus ständig in Stand zu halten. Angesichts der großen Armut in diesem Lande beschleicht Erik ein leicht beschämtes Gefühl. »Auf der anderen Seite benötigt dieses Hotel sicher einige hundert Beschäftigte.«, beruhigt er seine Gedanken. »Durch das Geld, das ich hier ausgebe, finden Menschen Arbeit, die damit ihre Familien über Wasser halten können.« Erik besitzt die Einstellung, dass er grundsätzlich so leben möchte, dass er sich damit gut fühlt und sich keine Vorwürfe machen muss. Wenn er ungute Gefühle bei einer Sache hat, so lässt er es normalerweise bleiben. Dieser krasse Gegensatz zwischen Arm und Reich, zwischen luxuriösem Leben und dem Vegetieren auf der Straße empfindet Erik als unlösbaren Konflikt, der ihn moralisch belastet und ihn im Augenblick daran hindert, Indien positiv zu betrachten. Es liegt in der Natur des Menschen begründet, sich die Dinge so zurecht zu legen, dass man sich wieder als guter Mensch fühlen kann. Am bequemsten ist es doch, wenn man eine Argumentation gefunden hat, die es nicht erforderlich macht, etwas an dem eigenen Lebensstil ändern zu müssen. Eriks schlechtes Gewissen angesichts der extremen Gegensätze hat sich etwas beruhigt, als er das Argument gefunden hat, dass er nicht den Luxus genießt, sondern durch seine Anwesenheit dafür sorgt, dass das Überleben ganzer Familien gesichert wird.
Dazu gehört natürlich Trinkgeld. Erik tauscht daher für 50 Dollar ein Bündel indisches Geld bei dem Kassierer im Hotel. Er bekommt dafür einen riesigen Berg Papierscheine, aber keine Münzen. Die Menge ist so groß, dass er einen Teil davon auf das Zimmer zurückträgt. Dabei stellt er fest, dass auch das Geld unangenehm riecht. »Von wegen Geld stinkt nicht. Wer diesen Satz erfunden hat, war noch nie in Indien!«, murmelt Erik vor sich hin. Den Scheinen sieht man an, dass sie durch viele Hände gegangen sein müssen. Zum Teil sind sie gerissen und machen den Eindruck, als würden sie bald auseinanderfallen. Erik nimmt sich eine Handvoll Scheine und steckt sie sich in die Tasche seines Sakkos, bevor er das Zimmer wieder verlässt.
Um ein Taxi zu bekommen, läuft er zunächst vor die Tür und bittet den Portier, ihm ein Taxi zu bestellen. Der Hotelangestellte erklärt ihm allerdings, dass er dazu am Taxi-Desk ein Taxi bestellen muss. Erik ist etwas irritiert, da er in Sichtweite an der Einfahrt zum Hotel eine lange Schlange von Taxen sehen kann. Zurück in der Lobby geht Erik zum Taxi-Desk und trifft auf eine bildhübsche Inderin in ihrem Sari, die ihn erwartungsvoll anlächelt. Auf ihrem Namensschild kann er den Namen Aashiyana entziffern.
»Das klingt doch schon wie ein Versprechen aus 1000 und einer Nacht.«, denkt Erik.
»Hello, Sir, what can I do for you?”
Sie hat eine angenehme, weiche Stimme. Was auffällt ist, dass sie kaum den typischen indischen Akzent hat. Möglicherweise hat sie bereits im Ausland gearbeitet oder einfach ein exzellentes Sprachgefühl. Dazu einen schlanken, schönen Körper und sehr hübsche Gesichtszüge. Und dann diese Frage »What can I do for you?”. In Eriks Fantasie entwickeln sich Bilder, was sie so alles für ihn tun könnte. Irritiert stellt Erik dabei fest, dass er zwar noch nicht lange weg ist von Gaby, aber sich schon zum wiederholten Male überlegt, wie er Spaß mit anderen Frauen haben könnte. Man könnte meinen, »Hier sitzt die perfekte Frau, ohne eigene Bedürfnisse,