»Sorry, Mustapha, can you please arrange this with the porters?”, korrigiert sich Erik. Beruhigt stellt Erik fest, dass damit die Welt des Fahrers wieder in Ordnung ist. Befehle geben ist etwas, was ihm wohl liegt. Da nicht alle Koffer und Kisten in ein Taxi passen, organisiert Mustapha in kurzer Zeit noch ein weiteres Fahrzeug, einen Pick-up mit offener Ladefläche. Erik setzt sich etwas erschöpft auf die Rückbank von Mustaphas Fahrzeug und wartet darauf, dass die Koffer verladen sind und es endlich losgeht. Doch selbst, als die Koffer verladen sind, bleibt Mustapha weiter gelassen an sein Auto gelehnt und treibt keinerlei Anstalten, endlich loszufahren. Nach einer viertel Stunde steigt Erik wieder aus und fragt Mustapha nach dem Grund, warum es nicht losgeht.
»We wait for Mr. Bini.«, erklärt Mustapha. »You want chai?«, fragt er und deutet auf einen kleinen Wagen in der Nähe. Erik lehnt dankend ab und lässt seinen Blick schweifen. Erst jetzt erkennt er, dass das Auto direkt neben einem Friedhof parkt. »Wenn ich sowieso warten muss, dann kann ich mir den auch mal ansehen. Ohne mich werden sie sicher nicht losfahren.«, sagt Erik zu sich selbst und geht zu dem verfallenen Eingangstor. Das Eisentor ist so verrostet, dass es sich nicht mehr öffnen lässt. Also klettert Erik über die hüfthohe Mauer. Es ist schnell zu erkennen, dass dies ein alter Friedhof ist, der noch von den Engländern während der Kolonialzeit eingerichtet wurde. Der Friedhof macht äußerlich einen zwar verfallenen, aber immer noch europäischen Eindruck. Erik stellt fest, dass ausschließlich englisch klingende Namen auf den Grabsteinen eingemeißelt sind. Als er das Alter der Verstorbenen nachrechnet, läuft ihm ein leichter Schauer über den Rücken. So sehr er auch sucht, hier liegt kein einziger Europäer, der älter als 35 Jahre wurde. Die Mehrzahl ist vor ihrem 30. Lebensjahr gestorben. Und der Friedhof ist groß. Die Engländer der Kolonialzeit hatte Erik bisher nur als ausbeuterische Besetzer gesehen. Auf diesem Friedhof ist aber dokumentiert, dass der Betrieb der Kolonien auch mit einem hohen Blutzoll aus den eigenen Reihen bezahlt wurde.
»Wie es scheint, ist dieses Land den Europäern nicht sehr gut bekommen. Das sollte ich als Warnung begreifen!«, überlegt sich Erik, als er den Blick über die vielen Grabsteine schweifen lässt.
Erik war schon klar, dass es keine Urlaubsreise wird. Doch die bisherigen Eindrücke in diesem Land haben seine Motivation doch stark angegriffen. Der Zusammenhang zwischen der geringen Lebenserwartung und der miserablen Lebensqualität drängt sich einem regelrecht auf. Etwas ernüchtert geht Erik zurück zu Mustapha und dem Auto. Die Kommunikation mit dem Fahrer ist schwierig und Erik fühlt sich erschöpft, so dass er froh ist, als Mr. Bini endlich auftaucht.
»Are you Mr. Jacob? Have you had a good trip?«, fragt Mr. Bini, als er am Fahrzeug mit unterschiedlich farbigen Plastikbeuteln in den Händen ankommt. Erik ist recht froh, dass Mr. Bini ihn mit seinem Namen anspricht, da dies der erste konkrete Hinweis ist, dass es tatsächlich zur richtigen Baustelle gehen wird. Mr. Bini spricht zwar mit der typisch indischen Melodik, aber ein doch recht ordentliches Englisch. In dem anschließenden Gespräch erläutert Mr. Bini, dass er auf der Baustelle als Assistant Manager arbeitet und gerade diverse Besorgungen für das Büro erledigt hat. Nachdem seine Einkäufe verstaut sind, steigen alle ein. Mustapha benötigt allerdings noch eine Minute länger, da er sich von seinem Gesprächspartner verabschiedet und dem Fahrer des anderen Fahrzeugs noch kurz eine Anweisung gibt. Auch wenn der Körper sich träge und schlapp anfühlt, so scheint die Müdigkeit im Kopf vergessen zu sein. Erik freut sich darauf, dass die letzte Etappe seiner Anreise begonnen hat und vor allem, dass die Ungewissheit weg ist, ob er an der richtigen Station ausgestiegen ist. Mit einem Gemisch aus Stolz, Abenteuerlust und Neugier lehnt er sich in das Polster zurück. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man die Verantwortung in einem unbekannten Terrain abgeben kann und sich nicht mehr selbst um alles kümmern muss. Wenn es Probleme auf dieser letzten Etappe geben sollte, so werden sich Mustapha und Mr. Bini darum kümmern müssen.
Der Ambassador
Die Anfänge der Kraftfahrzeuge liegen in Europa inzwischen so weit zurück, dass nur wenige das Fahrvergnügen in einer der ersten Automobile kennen. Die fast vollautomatisierten Geschosse, die heutzutage die Autobahnen bevölkern, sind vollgestopft mit mehr oder weniger nützlicher Elektronik, die viele Aufgaben erleichtern und automatisch übernehmen. Kaum ein Fahrer kümmert sich noch um die Funktion eines Motors, sondern fährt dann in die Werkstatt, wenn die Fahrzeuge über ihre Anzeigen im Display ein entsprechendes Verlangen ausdrücken. Wer kennt denn heute in Europa noch den Choke, der vor dem Starten des Motors gezogen werden musste und erst dann, wenn der Motor ausreichend warmgelaufen war, wieder zurückgestellt wurde. Das funktioniert mittlerweile vollautomatisch, ohne dass darauf ein Gedanke verschwendet wird. Nicht so in Indien. Seit mehr als 50 Jahren hat die indische Produktionsstätte Hindustan Motors nicht eine Detailänderung an ihrem Hauptprodukt zugelassen. Es ist wirklich noch genau derselbe Typ, wie er 1950 zum ersten Mal das Fließband verließ. Ein Auto in seiner ursprünglichen Bedeutung als Transportmittel. Das aktuelle Modell gibt es in zwei Varianten: bei der Farbe kann zwischen grauweiß oder grauschwarz gewählt werden. Das einzige optionale Zubehör ist ein passender Dachgepäckträger. Die Herstellerfirma hat für diese Kutschen den nach Noblesse klingenden Namen »Ambassador« gewählt. Es ist wieder ein so schönes Beispiel für dieses Land. Der Name verspricht, was er nicht hält. Daher hat sich der Volksmund einen eigenen Namen gesucht. Übersetzt heißt der Wagen »der schwangere Wasserbüffel«. Dieses Fahrzeug gilt in Indien als Beweis, dass Indien in der Lage ist, ein eigenes Auto herzustellen. Die Fahrzeuge haben in Bezug auf die Form allerdings eine große Ähnlichkeit mit den englischen Taxis. Der Prägestempel der Engländer hat in diesem Land überall seine Spuren hinterlassen. Angeblich handelt es sich sogar um ein original englisches Auto. Als es sich in England nicht mehr verkaufen ließ, wurde die Fabrik abgebaut und in Indien wieder aufgebaut. Irgendwann entstand dann die Legende, dass dieses Fahrzeug von den Indern selbst entwickelt wurde. Der große Vorteil dieser Konstruktion liegt aber auf der Hand. Sollte der Wagen irgendwo einmal liegen bleiben, so lässt sich die robuste und einfache Technik in fast jeder Dorfschmiede reparieren. Die Fehlersuche bei einem europäischen Fahrzeug erfordert den Einsatz computergestützter Diagnosesysteme. Jeder Hersteller hat dann auch noch unterschiedliche Anforderungen, so dass nur in den Hauptstädten Hilfe möglich ist. Hier draußen, tausend Kilometer entfernt, müsste ein defektes Fahrzeug erst umständlich bis zur nächsten Großstadt transportiert werden. Weil es in einem Ambassador aber keine exotischen Bauteile gibt, lässt sich fast alles mit ein paar Schrauben, einem Schweißgerät und ein paar gezielten Hammerschlägen wieder richten.
Erik erkennt an der Fahrweise von Mustapha, dass ein Europäer nicht so ohne weiteres mit solch einem Fahrzeug fahren könnte. Das Getriebe verlangt viel Einfühlungsvermögen. Es ist nicht synchronisiert und erfordert beim Schalten Zwischengas. Etwas, was die ersten Fahrzeuge brauchten, mit dem heute in Europa aber kein neues Fahrzeug mehr zu verkaufen ist. Zwischengas bedeutet, dass die Motordrehzahl ziemlich genau der Geschwindigkeit bei dem gewählten Gang entsprechen muss, damit die Zahnräder ähnlich schnell drehen und möglichst ohne große Geräusche ineinander rasten sollen. Wenn man den Gang ohne Zwischengas wechselt, kommt es zu einem lauten Protestgeschrei aus dem Getriebe, auch bekannt als Zähneputzen. Um also den Gang zu wechseln, muss man die Drehzahl mit dem Gehör erkennen, bevor man den Gang einlegt. Um solch ein Fahrzeug zu fahren, bedarf es viel Einfühlungsvermögen und Übung. In Delhi ist es Erik nicht aufgefallen, da er von den vielen sonstigen Eindrücken überwältigt war. Aber hier ist zudem nicht so viel Verkehr, so dass höhere Geschwindigkeiten möglich sind. Sobald die Straße frei erscheint, gibt der Fahrer Gas. Ortschaften interessieren nicht als Grund für eine Geschwindigkeitsbegrenzung, sondern nur, ob potentielle Hindernisse auf der Straße sind. Erik muss leider feststellen, dass der Ambassador umso lauter wird, je schneller sie fahren. Nicht nur der Motor scheint gegen den Fahrer zu protestieren, sondern alle Teile, die sich in und an dem Fahrzeug befinden stimmen in den Chor der Gequälten ein. Die ungezügelten 36 Pferdestärken mühen sich wacker, den sicherlich nicht ganz leichten Wagen voran zu treiben. Ihre Fahrt wird somit von einem dröhnenden Orchester begleitet. Türen sind natürlich vorhanden, doch Gummidichtungen sind Luxus, so dass die Türen in ihren Fassungen ständig klappern und scheppern. Eine Unterhaltung