Dancing Queen. Verena Maria Mayr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verena Maria Mayr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787866
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dritte Mal die Reihe mit den Fertigsuppen auf und ab fährt, bleibt eine Supermarktangestellte vor ihr stehen.

      „Suchen Sie etwas?“

      „Eh, nein. Doch. Ja. Ich suche die Fertiggläser für Babys. Und Hausschuhe“, bringt Patrizia mühsam hervor. Ihre Zunge scheint geschwollen, schwer und belegt. Ihr Gehirn – noch immer benebelt – sucht Wörter, die richtig über die Lippen zu schwappen zu scheinen, für sie selbst aber keinen Sinn ergeben.

      „Geht es Ihnen nicht gut?“, fragt die Verkäuferin besorgt. Patrizia schaut ihr zum ersten Mal bewusst ins Gesicht.

      „Sie sind ganz bleich.“

      „Nein, es geht schon. Mir ist nur etwas schwindlig. Ich bin übermüdet. Er schläft in der Nacht noch nicht durch.“

      „Ah. Ihr erstes Kind?“, fragt die Angestellte wissend und atmet beruhigt auf. „Da ist man ständig müde und fertig. Ich war das auch. Aber, glauben Sie mir, das vergeht beim zweiten.“ Sie zwinkert mit den Augen und lächelt verschwörerisch.

      Julius bleibt ein Einzelkind, nimmt sich Patrizia still vor. Sie lächelt zurück, sagt höflich „Auf Wiedersehen“ und fährt vor die Gläser, von denen sie drei verschiedene aussucht. Wenn sie mehr braucht, kann sie ja wiederkommen. Sie findet gefütterte Hausschuhe mit Pelzimitat, die sehr warm wirken, und schnappt sie sich, weil sie im Angebot sind. Und wenn ich davon Schweißfüße bekomme, ist es auch egal. Die riecht jetzt eh keiner mehr außer mir und Julius, und der hat selbst welche. Beim Gedanken an seine kleinen Füßchen überkommt sie Sehnsucht, ihn zu herzen, zu küssen, an sich zu drücken. Aber sie will Julius nicht aufwecken und hofft, dass er am Nachmittag ebenso gut schlafen wird, damit sie sich auch ein wenig mit ihm hinlegen kann. Vielleicht ist sie tatsächlich nur übermüdet.

      Patrizia zahlt und macht sich auf den Weg. Heimweg, schießt es ihr durch den Kopf. Ja, da sind wir jetzt zu Hause. Traurig, dass ich sonst nirgends mit Julius hin kann. Traurig, dass es überhaupt so weit hat kommen müssen. Tränen kullern stoßweise über Patrizias kalte Wangen. Als sie wieder vor dem Tor des Frauenhauses ankommt, schläft Julius noch immer. Weil sie ihn nicht aufwecken möchte, geht sie am Eingang vorbei. Sie schlendert an Einfamilienhäusern mit gepflegten Gärten, die rechtzeitig winterfest gemacht worden sind, entlang und wird noch trauriger. Patrizia fühlt sich von allen im Stich gelassen. Allein, mit ihrem Sohn. Sie biegt um die Ecke und schnauft eine Steigung hinauf, zu abgelegeneren, größeren Häusern, die man schon als Villen bezeichnen könnte. Von dort oben kann sie die Rückseite des Frauenhauses betrachten. Es ist komplett weiß, viel Glas, etwas Stahl. Sie fragt sich, ob der Architekt eine Frau gewesen ist, die auch schon einmal in ein Frauenhaus flüchten musste. Wahrscheinlich war der Planer aber ein Mann, der keine Ahnung von den zukünftigen Bewohnerinnen hat. Vielleicht ist er sogar sein ganzes Leben lang noch nie in Berührung mit häuslicher Gewalt gekommen oder der Meinung, dass Frauen es sich selbst zuzuschreiben hätten, wenn man sie schlägt. Vielleicht schlägt auch er seine Frau oder erniedrigt sie auf andere Art und Weise. „Schatz, ich habe dir schon hunderttausendmal gesagt, dass diese Schüssel nicht oben, sondern unten in den Geschirrspüler eingeräumt werden muss. Bist du zu blöd, um dir das zu merken? Vergiss nicht, es ist mein Haus. Wenn dir etwas nicht passt, kannst du gerne gehen. Es warten zig andere darauf, deinen Platz einnehmen zu können.“ Der Gemeinderat hat ihm den Auftrag erteilt, weil er alle Kriterien zweckmäßig, schnell und am günstigsten umgesetzt hat. Modern ist es ja und eigentlich auch gemütlich. Aber unpraktisch für Mütter mit Babys, die noch nicht laufen können. Patrizias Blick folgt dem hohen Stahlzaun, der das Grundstück umgibt. Auch hier hinten ist eine Videokamera installiert. Das Haus ist rund um die Uhr bewacht und direkt mit der örtlichen Polizeistation verbunden. Was haben wohl die Leute, die hier leben, zum Bau des Frauenhauses gesagt? Ob sie damit einverstanden gewesen sind? Es besteht doch die Gefahr, dass rabiate Ehemänner wutentbrannt oder betrunken auftauchen und randalieren. Und wer will schon seine Kinder mit einem solchen Milieu konfrontieren? Patrizia dreht den Kinderwagen um und schaut zur gegenüberliegenden Villa. Sie sieht, wie ein Gesicht rasch hinter dem weißen Häkelvorhang verschwindet. Schaut sie kriminell aus? Vielleicht ist es die Frau des Hauses, die von ihrem Mann geschlagen und eingesperrt wird. Sie sehnt sich danach, auch ins Frauenhaus zu flüchten, weiß aber nicht, wie sie die paar Meter schaffen soll. Patrizia schmunzelt über ihre eigene Phantasie. Sie fühlt sich besser und kehrt ins Frauenhaus zurück.

      Vor der Videokamera drückt sie den Knopf, grinst hinein und drückt gegen die Eingangstür. Sie weiß nicht, warum sie eine Abwehr gegen das Haus zu entwickeln beginnt. Das ist doch ihr Asyl. Sie hat den Antrag aus freien Stücken gestellt und ihm ist stattgegeben worden. Es handelt sich um ihre Zufluchtsstätte. Das ist im Moment der einzige Ort, an dem sie sicher ist und wo sie keine Angst haben muss, dass ihr Kind entführt wird. Mimmo hat ihr damit nicht wirklich gedroht, aber dass sie ihn im Moment so wenig einschätzen kann, lässt sie diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Er liebt seinen Sohn abgöttisch und hat ihr mehrmals gesagt, dass er niemals ohne ihn leben werde, dass er immer sein Vater und Julius immer sein Sohn sein werde. Mimmo ist dabei jedes Mal sehr dramatisch geworden und Patrizia konnte nie wissen, wie seine Auftritte enden würden.

      Langsam fährt sie die Rampe hoch. „Oh ja, ich komme wieder“, sagt sie laut in Richtung Überwachungskamera „Ich bin ein Opfer. Mein Sohn auch. Wir brauchen Hilfe. Das Leben ist scheiße. Lasst uns rein! Macht schon, mir ist kalt.“

      Kapitel 6

      Das Beratungszimmer ist sehr gemütlich. Es ist wohlig warm, ein dicker, weicher Teppich liegt in der Mitte des Raumes und darauf stehen zwei knallige Couchsessel aus orangefarbenem Leder. Es gibt auch eine rote Couch, bei deren Anblick Patrizia an Freud denken muss und daran, dass sie eine eigene Therapeutin hat. Die Beraterin heißt Birgit, ist sehr jung und erinnert Patrizia an jemanden.

      „Nehmen Sie doch Platz“, sagt diese. „Machen Sie es sich gemütlich. Und der kleine Mann natürlich auch.“ Sie lächelt Julius freundlich an. Er enttäuscht sie nicht und erwidert großzügig ihr Lächeln.

      „Jetzt fällt es mir ein. Wissen Sie, wem Sie ähnlich sehen?“, fragt Patrizia.

      „Was meinen Sie?“

      „Sandra Bullock!“

      Birgit lächelt wieder. „Ja, das habe ich tatsächlich schon öfter gehört. Ich kann das aber gar nicht erkennen.“ Sie wirkt dennoch geschmeichelt und scheint gegen den Vergleich nichts zu haben.

      Patrizia setzt sich und Julius steuert auf den kleinen Tisch zu, der die perfekte Höhe für ihn hat. Freudig zieht er sich hoch und grapscht nach der Taschentuchbox. Patrizia will sie automatisch wegstellen.

      „Nein, lassen Sie doch“, sagt Betreuerin Birgit und macht eine abwehrende Geste mit der Hand.

      „Er wird sie ausräumen“, erklärt Patrizia.

      „Macht auch nichts.“ Sie lächelt großmütig, verständnisvoll.

      „Na gut. Dann ist er wenigstens beschäftigt.“

      „Gut, also fangen wir an. Zu Beginn werde ich Ihnen einige Standardfragen stellen. Natürlich werden keine Daten von uns weitergegeben. Alles wird streng vertraulich behandelt.“

      Birgit Bullock will den Namen von Mimmo, sein Alter, seinen Beruf wissen und fragt, wo er wohnt oder wo er sich jetzt aufhält. Patrizia sagt ihr, was sie hören will, hat aber kein gutes Gefühl dabei. Am liebsten würde sie nur über sich sprechen. Sie hätte gern sofort eine Lösung für alles. Am liebsten würde sie mit einem Augenblinzeln aus diesem Alptraum aufwachen, und alles sollte gut sein.

      „Wissen Sie, ich bin eigentlich eine sehr selbständige Frau, die ihren Weg geht. Ich lasse mir nicht gerne was sagen, ich bin autonom. Ich bestimme gerne selbst, was gut für mich ist. Ich treffe meine Entscheidungen gerne – wie soll ich sagen? – ohne fremde Hilfe. Jeder Freundin hätte ich geraten, zu gehen. Jede andere Frau hätte ich gefragt, ob sie noch normal ist, wenn sie mit so jemandem zusammen bleibt. Nach alldem, was passiert ist. Jede hätte ich für blöd gehalten. Jetzt weiß ich, dass ich oft vorschnell geurteilt habe. Und voreilig verurteilt. Wenn man eine Situation