Dancing Queen. Verena Maria Mayr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Verena Maria Mayr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742787866
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ab.

      Patrizia muss plötzlich an die Gewaltspirale denken und überlegt, ob sie Teil davon ist. Söhne ahmen ihre schlagenden Väter nach. Töchter suchen sich schlagende Partner aus. Hat sie Mimmo tatsächlich so sehr provoziert, dass er sie an den Haaren und am Ohr ziehen hat müssen? Ist wirklich alles ihre eigene Schuld? Gestritten wird doch immer in einer Beziehung, denkt Patrizia, nur Gewalt passiert nicht in jeder. Gewalt darf doch nicht passieren, oder? Ein verantwortungsbewusster, reifer Mensch sollte sich unter Kontrolle haben, meint Patrizia. Seiner Aggression durch gewalttätige Aktionen Erleichterung zu verschaffen, ist doch das Letzte, ist sie sich sicher: eindeutig ein Zeichen von Schwäche. Und wer einmal die Hand erhebt, sagt ihre Mutter, tut es immer wieder.

      Sicher haben sie sich gestritten, und wie! So laut, dass die Nachbarn es hören konnten. Patrizia hat oft ihre Nerven weggeschmissen und ist tief geworden. Sie hat Mimmo beschimpft und Ausdrücke benutzt, wegen denen sie sich beim Gedanken daran jetzt noch geniert. Mimmo hat sie auch bis aufs Blut gereizt und sie hat Gewalt in sich gespürt. Rohe, fast unkontrollierbare Gewalt, aber eben nur fast. Bei Mimmo ist es nicht beim fast geblieben, und er zeigt nicht einmal einen Funken Einsicht und verwandelt sich selbst in das Opfer. Er macht das wirklich gut. Und wenn das wahre Opfer, das doch Patrizia ist, noch relativ stark ist, ist es umso schwieriger, Verständnis für sie aufzubringen. Nicht einmal sie selbst tut es. Niemand nimmt sie als Opfer wahr. Patrizia hat sich selbst noch nie als Opfer empfunden. Und deswegen fühlt sie sich auch so mies – und schuldig –, weil es von außen und innen kein Mitgefühl gibt und weil Mimmo sich dadurch noch weniger als Täter sieht. Das hat sie von ihrer Therapeutin, bei ihr hat es nur verständlicher und einleuchtender geklungen. Außerdem ist ihr scheißegal wer Täter und Opfer ist. Es haben schon beide ihren Teil dazu beigetragen. Nur will sie endlich raus, sie gibt w.o., winkt ab. Sieht das keiner? Wo ist der Schiedsrichter, der die Boxer trennt? Sie schleppt sich mit letzter Kraft aus dem Ring und hängt sich über die Absperrung, die sie wie dicke Krakenarme immer fester umschlingt, bis sie fast keine Luft mehr bekommt. Patrizia wälzt sich von Alpträumen geplagt hin und her und kann nicht in die Tiefschlafphase fallen.

      Kapitel 9

      In der Früh wacht sie durch Julius‘ Geplapper auf. Sie fühlt sich wie gerädert und ihr Kopf schmerzt. Langsam erhebt sie sich, schnappt den Kleinen und kuschelt sich mit ihm noch einmal in ihr Bett. Julius ist bereits in Bestform und schmatzt seiner Mama nasse Küsse auf die Wange. Sein Mund ist offen und Patrizia dreht ihren Kopf leicht lachend zur Seite damit seine Spucke nicht direkt in ihren Mund fließt.

      „Dadada“, brabbelt er und schmust fröhlich weiter, während er versucht, auf ihren Bauch zu krabbeln. Patrizia hilft ihm, legt ihn sich auf den Bauch und drückt ihn an sich. Julius macht keine Anstalten sich zu befreien. Am liebsten ist er bei seiner Mama.

      „So, mein Süßer. Jetzt wird Mama dir die Windeln wechseln, dann ziehen wir uns an und gehen runter frühstücken.“

      „Dadada“, stimmt Julius zu.

      Als sie mit Julius auf dem Arm in den Küchen-Gemeinschaftsraum tritt, hört Patrizia Marianne lautstark fragen: „Was will der Alte da?“

      Neugierig lehnt sie am Glasfenster und starrt hinaus. Ihre Kinder und die Violetthaarige stürmen zu ihr und drücken ihre Gesichter am Glas platt. Hinterher ist es komplett verschmiert. Patrizia will sich nicht daran beteiligen und murmelt nur ein „Guten Morgen“ in die Runde. Yolanda steht schon wieder kochend an der Küchenzeile und zwinkert ihr und Julius zu.

      „Guten Morgen. Wie habt ihr heute geschlafen?“, fragt sie freundlich.

      „Ganz gut. Besser als gestern.“

      „Die Geister kommen und gehen“, sagt Yolanda und konzentriert sich wieder auf den Inhalt ihres Topfes, den sie kräftig umrührt.

      Was auch immer sie damit gemeint hat, denkt Patrizia und setzt Julius in den Hochstuhl. Die Tür geht auf und eine Betreuerin kommt herein.

      „Ladies, das ist Herr Moser. Er wird das Raucherzimmer frisch ausmalen. Heute und morgen ist er hier. Bitte keine Aufregung. Alles in Ordnung.“

      Der letzte Satz hört sich an wie „er ist in Ordnung. Er schenkt seiner Frau Blumen zum Valentinstag, lädt sie am Hochzeitstag, den er nie vergisst, zum Essen ein und schläft noch immer gern mit ihr und würde sie nie schlagen oder demütigen.“ Er ist mehr als ok, denkt sich Patrizia und hofft, nicht laut gedacht zu haben.

      Männer sind im Frauenhaus strikt verboten. Ab 14 Jahren dürfen sie hier nicht mehr hinein. Wahrscheinlich gibt es keine Malerin, darum hat sich die Leitung für Herrn Moser entschieden. Er wird wohl in Ordnung sein, denkt sich Patrizia. Sonst wäre er sicher nicht beauftragt worden hier auszumalen. Unverständliches Gemurmel von Marianne, die vorhin am Fenster anscheinend ihn gemeint hat. Patrizia ist diese Aufregung rätselhaft. Sie ist keine Männerhasserin. Marianne muss wirklich schreckliches erlebt haben, überlegt sie sich. Aber sie will sich darüber keine Gedanken machen. Ihre eigene Geschichte reicht ihr.

      Patrizia hat Mimmo im Internet kennen gelernt. Auf einer internationalen Austauschseite, auf der sich hauptsächlich Studenten treffen. Mimmo hat sie kontaktiert. Er war damals schon als Austauschstudent seit einem Semester hier in Österreich. Irgendwann einmal hat er ihr gesagt, dass ihn ihr Profil angesprochen hätte. Dabei hat Patrizia lediglich ein Foto von sich hineingestellt, auf dem ihr Gesicht und ihre langen, blonden Haare zu sehen waren. Von ihrer Figur ließ es nichts ahnen und beschrieben hat sie ihren Körper auch nicht. Auch in ihrem Profil hat sie wenige Angaben zu ihrer Person gemacht. Patrizia glaubt jetzt, dass er einfach bei vielen blonden Frauen sein Glück versucht hat, und bei ihr ist er gelandet.

      Als sie auf seine – im Nachhinein betrachtet – primitive Anmache reagiert hat, haben Mimmo und Patrizia angefangen, richtig zu chatten. Patrizia hat sich wie unter Drogen gefühlt, als hätte ihr jemand eine Dosis Glückshormone gespritzt. Sie ist so aufgeregt gewesen wie in Teenagerzeiten und hat Stunden vor ihrem Computer verbracht. Mimmo schien es ähnlich zu gehen, er schien immer Zeit für sie zu haben. Jeden Tag haben sie mindestens vier Stunden miteinander verbracht. Als Mimmo sie schließlich angerufen und sie seine Stimme gehört hat, ist Patrizia sich sicher gewesen, dass sie ihn persönlich kennen lernen wollte. Sie hat versucht, an seiner Stimme zu erraten, ob er attraktiv wäre. Ich muss ihn riechen, hat sie sich gewünscht. Lust auf ihn hat sie sofort gehabt, und Angst, dass ihre Phantasien hätten enttäuscht werden können.

      Wie lächerlich – und wie schön, das erste Kennenlernen doch ist! - hat sich Patrizia gedacht und sich überlegt, was sie zu ihrem ersten Treffen anziehen soll. Sie hat auch darüber nachgedacht, ob sie gleich mit ihm schlafen sollte, wenn er ihr gefallen würde. Warum nicht? Sie würden sich vielleicht nie wieder sehen. In spätestens einem Semester würde er nach Spanien zurückgehen. Ausgemacht war, dass sie bei ihm übernachten würde. Sie würde zu ihm nach Wien fahren. Mimmo hatte ein Einzelzimmer in einem Studentenheim. Patrizia wollte nicht, dass er in ihre Wohnung nach Graz kam. Sie lebte allein in einer kleinen, gemütlichen Altbauwohnung nur ein paar Stunden von der Bundeshauptstadt entfernt. Dort würde niemand etwas von ihrer Eskapade mitbekommen. Graz war zu klein, um unentdeckt zu bleiben. Irgendjemandem lief man immer über den Weg. Patrizia hat sich abgesichert. Sollte er ihr nicht gefallen, würde sie zu einer Bekannten, die in der Hauptstadt lebte, gehen oder einfach wieder heimfahren. Es war ja nur für drei Tage. Ein Abenteuer.

      Kapitel 10

      „Du fette Sau“, hat er gesagt. „Du blöde Sau. Du dumme Sau. Du beschissene Sau. Du Ausländersau.“ Katarinas Stimme wird immer leiser. Das letzte Schimpfwort versteht Patrizia fast gar nicht. Katarinas Blick ist gesenkt, ihre Schultern zucken resigniert. Patrizia würde sie gern umarmen. Nach einer Weile hebt Katarina ihren Kopf und sieht Patrizia an. Sie sieht so traurig aus.

      „Es ist so demütigend“, flüstert sie und senkt erneut ihren Blick.

      „Du brauchst dich nicht zu schämen“, sagt Patrizia. „Und ich finde es sehr mutig von dir, hierher zu kommen.“

      „Du