1 bestimmte Teile der menschlichen Natur, deren Funktion sie nicht versteht oder mißdeutet, ignoriert oder bekämpft,
2 erzieherische Maßnahmen mit Gewalttätigkeit verwechselt,
3 durch Vermeidung von Konflikten, Abwesenheit von Widerständen und Verzicht auf Strafen falsche Signale setzt und damit
4 das einzige Prinzip, das eine angemessene Selbsteinschätzung, eine realistische Bewertung der eigenen Handlungen und damit Gewissens- und Persönlichkeitsbildung ermöglicht, mißachtet,
5 keine Orientierung liefert und ethische Wertvorstellungen durch kulturellen Relativismus oder Ideologie ersetzt.
Das bedeutet zwar nicht, daß der Verzicht auf (körperliche) Strafen in der Praxis Gewalt selbst herbeiführt; die Dogmen der „neuen Erziehung“ verhindern aber eine unvoreingenommene Einsicht in die tatsächlichen Ursachen von Gewalt, Kriminalität und Extremismus und den Umgang mit ihnen. Mit den damit verknüpften Tabus versetzt man die ganze Gesellschaft in eine prekäre Lage, in der sie außerstande ist, der vorhandenen Gewalt der Jugendlichen, einschließlich der Neonazis oder der jungen Islamisten, etwas entgegenzusetzen oder ihr effektiv entgegenzuwirken.
1.1. Sündenböcke: Soziale und familiäre Umstände, Unterhaltungsindustrie
Auch bei der Suche nach Ursachen der Gewalt tauchen dieselben Schemata und Sündenböcke auf wie beim Schulversagen: Es sind entweder schlechte soziale oder familiäre Umstände (Arbeitslosigkeit, mangelnde Integration von Ausländern, zerrüttete Familien bzw. autoritäre, mit körperlicher Züchtigung verbundene Erziehung) oder eine übermäßig konsumierte Unterhaltungsindustrie (Gewalt in Film und Fernsehen, elektronische Kriegsspiele).
Die soziale Lage ist ein übliches Erklärungsmuster, das zwar auch heute von Bedeutung ist, aber in einem wohlhabenden Land kaum Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Auf jeden Fall stammen die Täter nicht immer aus der Unterschicht, sondern haben oft einen ordentlichen familiären Hintergrund. Da Hunger und Armut als Ursache für Kriminalität nur in seltenen Fällen in Frage kommen, wird heute eher allgemein von „Orientierungslosigkeit“ gesprochen, die gerne bei Jugendlichen im Osten diagnostiziert wird. Daß diese Orientierungslosigkeit ebensogut eine Folge „antiautoritärer Erziehung“ sein könnte, also des Unvermögens, auf bestimmte Verhaltensweisen deutlich und angemessen zu reagieren und bestimmte Werte als gültige Maßstäbe fürs Leben zu postulieren, wird nicht in Betracht gezogen. Meist wird nur in entrüstetem Ton über die Notwendigkeit einer Bekämpfung von Gewalt und Rechtsextremismus der Jugendlichen gesprochen, ohne diese Orientierung selbst bieten zu können. Erst allmählich dämmert es den Verantwortlichen, daß man der orientierungslosen Jugend doch bestimmte Wertvorstellungen oder zumindest eine Leitvorstellung vom richtigen Handeln vermitteln müsse. Das Mittel dazu glaubt man in der Einführung des Ethik- bzw. Werteunterrichts gefunden zu haben.
Zum Schuljahr 2006/2007 wurde z.B. in Berlin an öffentlichen Schulen in den Klassenstufen 7-10 das Pflichtfach Ethik eingeführt. Die Entscheidung wurde im allgemeinen akzeptiert, ohne sich bewußt zu werden, daß man Sittenlehre mit den Schulreformen längst als spießig abgeschafft hatte; man stritt lediglich darüber, ob sie mit oder ohne Zensuren unterrichtet werden sollte, da es möglich ist, daß hier statt „Leistung“ die „korrekte Meinung“ benotet wird. [5] In vielen Fächern (wie Geschichte, Sozialkunde, Politische Weltkunde u.a.) ist Leistung ebenso strittig und nicht eindeutig meßbar. Nichtsdestoweniger wurden Verfassungsbeschwerden gegen die Einführung von Ethik als Pflichtfach eingereicht. Die Initiative Pro Reli e.V. brachte einen Volksentscheid zuwege, über den am 26. April 2009 abgestimmt wurde. [6]
Die Argumente der Initiative waren für die Mehrheit der Bevölkerung wenig überzeugend. In ihrem Gesetzesentwurf sollten Religion, Weltanschauungsunterricht und Ethik, wie in anderen Bundesländern, als gleichberechtigte Pflichtfächer in der Schule gelten. In der Praxis bedeutete es jedoch, daß die Möglichkeit, beide Fächer zu belegen, wegfallen würde, und daß Kinder aus religiösen Familien, also auch die meisten muslimischen Kinder, in der Regel überhaupt nicht am Ethikfach teilnehmen würden. Behauptungen, daß man mit der Einführung des Ethikunterrichts „die Chance, ein ganzheitliches Konzept der Schule als werteorientierter Lebens- und Erfahrungsraum für unsere Kinder zu gestalten“, verpasse, und das Fach Ethik ein umfassendes Religionswissen von verschiedenen Religionen nicht bieten könne, sind umstritten. Die Forderung nach strikter Trennung von Kirche und Staat als überholt und die Mitwirkung von Religionsgemeinschaften in öffentlichen Schulen als Vorbeugung gegen Radikalisierung war der Mehrheit (insgesamt 51,3 %, in östlichen Bezirken sogar über 70 %) nicht zu vermitteln. [7]
Im Unterschied zu Frankreich wurde eine klare Trennung der Religion vom Staat in Deutschland allerdings nicht konsequent vorgenommen. Einerseits erklärt sich der Staat in bezug auf Religion für neutral, andererseits gibt es politische Parteien, die sich als „christlich“ bezeichnen, und auch diverse Verflechtungen zwischen Staat und den Kirchen, die trotz der im Grundgesetz festgelegten Unabhängigkeit [8] einen privilegierten Status genießen. [9] Der Staat garantiert ihnen laut Staatskirchenrecht insbesondere in finanzieller Hinsicht gewisse Vorrechte, Zuschüsse und Finanzierungshilfen für diverse Kirchendienste. [10] Dazu gehören sogar Ausgleichs- und Entschädigungszahlungen für erlittene Verluste an Kirchensteuern durch vorgenommene Kirchenaustritte – eine absurde Forderung, für Kirchenmitglieder zu zahlen, die gar keine mehr sind. [11] Vertreter beider großen Kirchen beteiligen sich oft an politischen Diskussionen und erheben Anspruch auf Einflußnahme in ethischen Problemen. [12] Religion ist zwar kein Pflichtfach, wird jedoch in staatlichen Schulen unterrichtet und vom Staat (mit 47,5 Millionen Euro jährlich) vollständig finanziert. Schon allein diese Tatsache bedeutet in einem säkularen Staat eine unzulässige Vermischung der Aufgaben. Im sog. „Kruzifixstreit“ gelang es Bayern zwar nicht, vor dem Verfassungsgericht durchzusetzen, daß in jeder bayrischen Schule ein Kruzifix an der Wand hängen muß (wie in Italien), was aber nicht heißt, daß dort keine Kreuze hängen dürfen (wie in Frankreich). Eine Gleichstellung des Religionsunterrichts mit anderen Fächern bedeutet jedenfalls den Erhalt des kirchlichen Einflusses auf die Schule. Aber eine religiöse Indoktrination der Kinder (dazu noch auf Kosten des übrigen Unterrichts) [13] sollte in staatlichen Schulen eigentlich nicht stattfinden. Daß die Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion als unerwünscht empfunden wird, weist jedenfalls nach meiner Meinung auf eine problematische Entwicklung des öffentlichen Bewußtseins hin.
Dennoch bedeutet die Ablehnung des Religionsunterrichts als gleichberechtigte Alternative seitens der Mehrheit der Berliner keineswegs, daß sich diese für Ethik entschieden habe. Die Einführung des Faches Ethik selbst ist kein Erfolgsmodell. Es handelt sich eher um unverbindliches Plaudern über Vorstellungen von Liebe, Freundschaft, Toleranz im Alltag u.ä. mit zum Teil politisch korrekten Inhalten, was sich möglicherweise zum ideologischen Kanon einer „richtigen Weltanschauung“ entwickeln sollte. Echte Orientierung bietet diese Schulethik jedenfalls nicht. Nach Ansicht des Biologen Hubert Markl sollte auch nicht Werteerziehung, sondern Charakterbildung im Vordergrund der Erziehung stehen, mit der man früh anfangen sollte. Übermäßig geschonte und verwöhnte Kinder sind demnach keine glücklichen Kinder, weil ihnen die Voraussetzungen für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten vorenthalten werden. [14] Wohlgemerkt: insbesondere die Fähigkeit zur Selbstkritik.
Daß Lebensorientierung und Charakter nicht durch bloßes Proklamieren von ausgelaugten Begriffen, wie Gewaltlosigkeit, Friede, Toleranz usw. gebildet werden können, sondern andere Erziehungsmittel erfordert, wird von der vermeintlich wissenschaftlichen Psychologie übersehen und von der politisch korrekten Pädagogik geradezu tabuisiert. Stattdessen wird auf Sündenböcke zurückgegriffen, in der ebenso naiven Annahme, daß Gewalt immer nur die Folge von Gewalt selbst ist, ob durch Erleben am eigenen Körper oder durch Spiele, die mit Gewalt zu tun haben.
Obwohl keineswegs zutreffend, gilt immer noch das vom Gros der Psychologen festgehaltene Dogma, die Ursache für Gewalt liege in der Gewalt selbst: die Jugendlichen würden folglich gewaltsam, weil sie Gewalt in der Familie erfahren. Einzelfälle dienen als Beweise für das ständig wiederholte Muster, bis