Anscheinend. Und nicht nur das: Nicht zufällig findet man die gleichen Axiome der „alternativen“, „nichtautoritären“ Reformpädagogik, nämlich das Absehen von Zwang und Tadel, die für den Niedergang der Bildung mitverantwortlich sind, auch im heute verbreiteten Gebot in bezug auf den Umgang mit Gewalt wieder: im Verzicht auf Strafen als der einzig „richtigen“ Erziehung und der milden Behandlung jugendlicher Straftäter. Der Zusammenhang zwischen der Zunahme friedlicher alternativer oder antiautoritärer Erziehungs- und Strafmethoden und der Gewaltbereitschaft selbst wird verdrängt, weil er einen Tabubruch darstellt. Stattdessen wird auch im Umgang mit der Gewalt in ihren verschiedenen Spielarten auf das gleiche Sündenbockschema zurückgegriffen, mit zum Teil sogar denselben Zielgruppen, wie im Versagen der allgemeinen Bildung. Die Patentlösungen bestehen dann in zweierlei Alternativen, die auch dort angewandt werden: entweder einem Hurra-Aktionismus, der aus lauter wirkungslosen Scheinmaßnahmen besteht, dafür aber viele Profilierungs- und Verdienstmöglichkeiten bietet, oder dem Rückgriff auf restriktive Mittel, wie gesetzliche Regelungen, Verbote und Zensur, die jedoch weder die Ursachen bekämpfen noch die tatsächlichen Täter treffen, sondern gegen ganz andere Zielgruppen gerichtet sind. Was im Falle von Bildung vermehrter Reformeifer war, wurde bei Jugendgewalt und Rechtsextremismus das „Antigewalttraining“. Und analog zu den vermeintlichen „Leistungskontrollen“ erfindet man immer weitere Überwachungsmaßnahmen, die entweder als „Jugendschutz“ oder als Kampf gegen Trink- und Spielsucht u.ä. präsentiert werden.
Mit den üblichen pauschalen Schuldzuweisung und den entsprechenden Bekämpfungsmaßnahmen unterstützt die „gewaltfreie Erziehung“ und „präventive Gewaltbekämpfung“ vielmehr ihre weitere Ausbreitung. Durch die Kriminalisierung von berechtigten Erziehungsmaßnahmen oder das Verbot harmloser oder zur Einsicht und Entwicklung der Kritikfähigkeit notwendiger Konfrontation mit dem Bösen bewirkt sie oft das Gegenteil des Erwünschten. Durch dauernde Entlastungen von der Verantwortlichkeit und falsche Sympathiebekundungen trägt sie zu noch etwas Schlimmerem bei als es die Auswüchse der Gewalt selbst sind, deren Opfer den gutgesinnten Pädagogen ziemlich gleichgültig zu sein scheinen, nämlich zur Verzerrung des ursprünglichen Sinns für Gerechtigkeit. Aus Kindern werden Erwachsene, wobei nicht garantiert ist, daß sie – allen Behauptungen von Psychologen zum Trotz, die die Kindheitsphase zu überschätzen pflegen – selbst nach „falscher“ Erziehung nicht schließlich doch zu brauchbaren Menschen werden. Doch greift das pädagogische Dogma nicht nur durch Bevormundung der Eltern und die Vorstellung einer „Volkserziehung“, sondern auch durch die Gestaltung des Rechts- und Strafsystems, etwa in der Behandlung von Tätern als im Grunde genommen unzurechnungsfähiger unmundiger Kinder, auch auf die Sphäre der Erwachsenen über. Nicht zufällig findet man daher auch in der Kriminalitätsbekämpfung das gleiche Muster wie bei der Bekämpfung von Jugendgewalt wieder.
Durch ein verändertes Paradigma, das die Aufgabe des Strafvollzugs nicht mehr in der angemessenen Bestrafung der Täter, sondern in deren Resozialisierung erblickt, wurde sowohl das moralische Verständnis der Gesellschaft als auch die Straf- und Rechtspraxis beeinflußt. Tendenziell ausgeblendet bleibt in diesem Schema, das Mitgefühl, Verständnis, Milde und Reintegration in die Gesellschaft für die Täter fordert, die Perspektive der Opfer, deren Schutz ebenso auf der Strecke bleibt wie das natürliche Gerechtigkeitsempfinden. Zusammen mit wachsendem Einfluß bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen (etwa Geschlechtergleichschaltung, Privilegierung von bestimmten Gruppen usw.) oder auch einzelner Lobbys (z.B. sog. „Urheberschutz“), die sich der Gesetzgebung zur Durchsetzung eigener Interessen bedienen, erfährt das Rechtssystem selbst in zunehmendem Maße grobe Verzerrungen nicht nur in bezug auf die Verhältnismäßigkeit von bestimmten Delikten und deren Bestrafung, sondern auch auf dessen eigentliche Aufgabe – Rechtssicherheit und Gerechtigkeit.
Schließlich wird die gleiche Denkweise auch in bezug auf den Umgang mit Ausländern angewandt, was sich in einer kontraproduktiven Einwanderungs- und Integrationspolitik niederschlägt, aber noch weitere bedenkliche Konsequenzen für das friedliche Zusammenleben, die Meinungsfreiheit und das moralische Empfinden in unserer Gesellschaft haben kann. Während durch die illusorische Vorstellung eines „interkulturelle Dialogs“ falsche Signale gesetzt, Täter entschuldigt und Opfer im Stich gelassen werden, sorgen immer weitere Überwachungsmaßnahmen unter dem Vorwand von angeblich „höherer Sicherheit“ und „Terrorbekämpfung“, zusammen mit den immer aggressiver geforderten Zensurmaßnahmen der „politisch korrekten“ Gutmenschen, für das allmähliche Aushöhlen des Rechtsstaats und Auflösung der Grundlagen der liberalen Gesellschaft.
Damit verkehrt sich die scheinbar humane und zivilisierte Einstellung in ihr Gegenteil. Wie schon öfters in der Geschichte der Menschheit erweist sich der Frieden und Gewaltverzicht um jeden Preis nicht zwangsläufig als besser, fortschrittlicher, überlegener, und auch nicht gleichzusetzen mit dem Guten, Humanen und Zivilisierten. So wie die Toleranz nicht grenzenlos sein kann, ohne sich selbst aufzuheben, kann auch die Gewaltfreiheit kein absoluter Maßstab sein, weder für den Einzelnen noch für eine Gesellschaft, da sonst kein Platz für Selbstverteidigung, für Schutz gegen Feinde, gegen Willkür oder welche Art Bedrohung auch immer mehr übrig bleibt. Sie bedeutet jetzt schon unterlassene Hilfeleitung für die Opfer und wird, wenn die Entwicklung weitergeht, zum Selbstmord der liberalen, bzw. offenen Gesellschaft [3] – der einzigen, die es je in der Geschichte der Menschheit gegeben hat.
1. Die „gewaltfreie Erziehung“
Die Idee einer „emanzipatorischen Pädagogik“ ging von einem Menschenbild aus, in dem Aggressivität kein angeborener Trieb ist, sondern die Folge von gesellschaftlichen Übeln. Da es immer genug gesellschaftliche Mißstände gibt, mit denen oft viele Arten von Kriminalität – zu recht oder zu unrecht – gerechtfertigt werden, scheint sie auf den ersten Blick plausibel. Diese Vorstellung paßte auch gewissermaßen zu der Tatsache, daß es in den Ostblockländern, in denen ja die Klassenunterschiede und die „soziale Ungerechtigkeit“ angeblich beseitigt worden waren, weniger gewöhnliche Kriminelle gab als im freien Westen. Daß dieser Umstand auf eine Unterdrückung der ganzen Bevölkerung und ihre ständige Überwachung zurückzuführen war, spielte in den Postulaten der Theoretiker der „antiautoritären Erziehung“ keine Rolle.
Die Vorstellungen von einer anderen, besseren Erziehung waren nicht immer in diesem Sinne ideologisch geprägt, sondern gingen vor allem von der negativen Erfahrung mit einer autoritären Gesellschaft und Familie aus, die in Deutschland als Nährboden für den Nationalsozialismus gilt. Das eigentliche Motiv war die Befreiung des Einzelnen von autoritären Zwängen, einschließlich der familiären. Nichtsdestoweniger wurde dabei kaum in Erwägung gezogen, daß die Befreiung von zunächst autoritär vermittelten Vorstellungen und Werten erst dann erfolgen kann, wenn das Individuum zu einer reifen Persönlichkeit herangewachsen ist. Um zu einer reifen, d.h. „moralischen“ Persönlichkeit zu werden, muß der Mensch die Moral als solche verinnerlichen. Dies ist aber ohne Erziehung nicht möglich, selbst wenn sich der Zögling später gegen die überlieferten moralischen Vorstellungen und Werte seiner gesellschaftlichen Umwelt auflehnt. Die Schlußfolgerung war somit in Wirklichkeit ein Kurzschluß: Aus Abscheu vor den Auswüchsen einer extrem autoritären Gesellschaft wurde gefolgert, daß man auf erzieherische Maßnahmen ganz verzichten könnte; aus einer problematischen Erziehung durch nicht hinterfragte Autoritäten und extreme Züchtigung wurde gewissermaßen auf Nichterziehung überhaupt geschlossen.
Die unrealistischen Vorstellungen der