Oje, die arme Christine. Wenn er wüsste, dass sie ein halbes Brot bereits aufgegessen hatten, als die Männer gegen Abend heimkamen. Die Pastorsfrau hatte alle Krumen sorgfältig aufgesammelt und den Hühnern hinausgetragen. Wahrscheinlich hatte sie geahnt, was ihr Mann sagen würde. Er war bereits aufgebracht gewesen, weil er Wilhelm von der Poststation nach Hause hatte schleppen müssen. Die Reise nach Nordhausen hatte Wilhelms Gesundheit den Rest gegeben, denn er konnte sich auf dem Heimweg kaum noch auf den Beinen halten. Wie das Gespräch mit dem Landrat verlaufen war, konnte sie nicht mehr aus ihm herausbringen. Sie brachten ihn sofort ins Bett, wo er in einen unruhigen Schlaf fiel. Deshalb hatte sie begonnen, die Papiere zu lesen, die sie in seiner Tasche fand.
… so weisen wir an, daß bis zur Fertigstellung des Sittigungshauses vom Missionar und den Seinigen eine Wohnung in der Friedrichsstraße zu nehmen ist. Bei der Auswahl des Hauses wird ihm selbst freie Wahl gelassen, es stehen etliche Häuser leer und sind sofort zu beziehen. Möbel und Hausrat in einfacher Ausfertigung werden von Seiten des Landratsamtes gestellt. Quittungen sind umgehend beizubringen.
Nordhausen, 15. Oktober 1830
gez. von Arnstedt, Landrat
Wilhelm stöhnte und murmelte etwas. Diesmal glaubte sie, ihren Namen zu verstehen. „Ich bin da, Liebster, hörst du?“ Das Tuch auf seiner Stirn war schon wieder warm. Sein Körper heizte besser als der Herd unten in der Küche. Sollte sie die dicke Federdecke wegnehmen? Mit Krankenpflege kannte sie sich nicht besonders gut aus. Sie hätte jetzt seinen Rat gebraucht. In der Armen-Schullehrer-Anstalt in Basel war er neben Garten- und Hauswart auch Krankenpfleger gewesen. Sollte sie Christine um Hilfe bitten? Doch solange der Pastor dort unten herumpolterte, wollte sie sich lieber still verhalten.
Es klopfte leise.
„Ja, bitte?“
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, stand die kleine Frau in der Tür. Sie trug eine Tasse mit dampfendem Tee und frische Handtücher.
Erleichtert lächelte Magdalena ihr zu. „Er schwitzt so sehr. Was kann ich nur tun?“
Christine wies auf die Wadenwickel und auf das frische Wasser und nickte eifrig. Dann zeigte sie auf den Tee und wollte verschwinden. Magdalena hielt sie am Ärmel fest. „Ich habe vorhin gehört, dass Ihr Mann wegen des Brotes geschimpft hat. Das tut mir leid. Ich werde ihm morgen sagen, dass ich das Brot bezahlt habe.“
Zunächst verschloss Christine ihre Miene, wie aus alter Gewohnheit, dann blickte sie auf und winkte ab. Fast schien es, als lächle sie ein wenig.
„Die Fettbrote waren es wert, nicht wahr?“, flüsterte Magdalena verschwörerisch und diesmal lächelte Christine ganz deutlich.
Magdalena verbrachte die Nacht an Wilhelms Bett, wechselte die Umschläge um seine Waden und flößte ihm nach und nach den Tee ein. Auch am Tag darauf ging es ihm nicht besser. Christine saß ein paar Stunden bei ihm, damit Magdalena etwas schlafen konnte. Am Samstag sank das Fieber und er war öfter für kurze Zeit ansprechbar.
Am Sonntag besuchte Magdalena den Gottesdienst in der Wendener Kirche, wofür sie Wilhelm zum ersten Mal allein ließ. Sie waren lange vor dem Einläuten da, denn Christine musste die Kerzen entzünden, den Altar mit Blumen schmücken und ihrem Mann beim Überziehen des Talars helfen. Magdalena betrachtete die schlecht verputzten Wände und die einfachen Kirchenbänke, ihr Atem ließ die Kälte zwischen den alten Mauern sichtbar werden. Sie saß neben Christine, die sich in der zweiten Reihe an die kalte Wand drückte und sich kleinmachte, wie immer, wenn sie unter Menschen musste. Nach und nach betraten die Bauersfrauen den Raum, schnelle Blicke schossen herüber, Köpfe wurden zusammengesteckt. Das Zischeln der Fragen vermischte sich mit dem Scharren der Füße über ihnen auf der hölzernen Empore, wo die Bauern räuspernd und murmelnd ihre Hüte aufhängten, bevor sie Platz nahmen und wie Hühner auf der Stange nach unten schauten. Pastor Blume hielt eine trockene Predigt, in der er von einer reichen Ernte sprach, für die Gott gedankt werden müsse. Seine scharfe Stimme klang die ganze Zeit vorwurfsvoll, jedes seiner Schäfchen in der kleinen Stephanuskirche würde wohl mit einem schlechten Gewissen nach Hause gehen. Beim Verlassen der Kirche wurde Magdalena mit wissenden Blicken gemustert, erst da fiel ihr auf, dass der Pastor kein Wort über den neuen Missionar verloren hatte. War es nicht üblich, dass man für eine Mission in der Gemeinde um Gottes Segen bat? Nun gut, es handelte sich um eine Mission in der katholischen Nachbargemeinde, aber Wilhelm und sie waren evangelisch und wie sollten sie ihre Aufgabe ohne die Hilfe ihrer Kirchengemeinde bewältigen?
Beim Mittagessen im Haus des Pastors nahm sie allen Mut zusammen und sprach ihn darauf an. „Ich hätte mich gefreut, wenn Sie heute einen Segen für unsere Mission gesprochen hätten.“
Die Gabel des Pastors blieb in der Luft hängen. Christine sah aus, als wolle sie unter den Weißkohl kriechen, der vor ihr auf dem Teller lag. Ihr Mann beugte sich über den Tisch. Sein hageres Gesicht wurde noch länger, als er die Augenbrauen weit nach oben schob. „Vielleicht hätte ich Ihnen das gleich am ersten Tag sagen sollen, Frau Blankenburg. Ich halte nichts von dieser Mission, gar nichts. Und ich werde mich in meiner Gemeinde nicht in die Nesseln setzen, indem ich für eine Sache bete, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.“
„Aber warum …“
„Lassen Sie mich ausreden! Ich weiß nicht, wie lange es her ist, da kamen schon einmal zwei Missionare, die die Welt verbessern wollten. Sie verschwanden nach einigen Wochen sang- und klanglos. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Verzeihen Sie mir meine direkten Worte: Ich gebe Ihnen und Ihrem Mann, gebe Gott, dass er bald wieder auf den Beinen ist, nur wenige Wochen, dann werden Sie Ihre Sachen packen und nach Was-weiß-ich-wohin verschwinden.“ Er hackte mit der Gabel auf das Weißkraut ein, als trüge es Schuld an seiner Misere. Seine Stimme wurde bei jedem Satz lauter. „Die Tatern werden keine Christenmenschen, so wahr ich die heilige Taufe empfangen habe. Sie sind nicht zu sittigen, auch Sie werden das eines Tages merken. Wissen Sie, welches Wort sie in ihrer Sprache für Gott haben?“ Die Zinken seiner Gabel zeigten auf Magdalena, die stumm den Kopf schüttelte.
„Sie nennen ihn dewel.“
Magdalena schwieg betroffen. Dewel war das plattdeutsche Wort für Teufel.
Als täte ihm seine Heftigkeit leid, sprach der Pastor im sanfteren Ton weiter. „Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich werde Sie nicht daran hindern, sich auszuprobieren, das steht mir gar nicht zu. Von mir aus bauen Sie dieses Sittigungshaus, Sie haben den Auftrag der Mission, Sie leben davon und vielleicht dafür. Aber seien Sie nicht allzu enttäuscht, wenn sie irgendwann feststellen werden, dass alles nur ein Traum war. Ein Traum, der nicht wahr werden konnte.“ Er legte die Gabel beiseite und erhob sich. „Es ist besser, Sie tragen diesen Gedanken von Anfang an bei sich, dann wird es für Sie nicht ganz so bitter.“
An der Küchentür drehte er sich um. „Ihr Mann scheint mir sehr an dieser Illusion zu hängen. Bereiten Sie ihn vor, damit er nicht zu schmerzhaft auf die Nase fällt.“
Seine Frau räumte mit gesenktem Kopf den Tisch ab. Magdalena hatte den dringenden Wunsch, dieses Haus endlich verlassen zu können. Wenn nur Wilhelm gesund wäre. Doch sie würde allein anfangen, gleich morgen, das Haus aussuchen und Möbel anfertigen lassen. Als Christine nach ihrem Teller griff, hielt sie ihre Hand fest. „Kennen Sie einen guten Tischler?“
Am nächsten Morgen brachte die Pastorsfrau sie zu einem Mann, der sich als Gottfried Schwarzburger vorstellte und, wie sich herausstellte, ihr Bruder war. Seine Holzwerkstatt befand sich in einer steilen Gasse, die hinauf zum Wald führte. Sein freundliches, schmales Gesicht machte Magdalena schmerzlich klar, wie Christine aussehen könnte, wenn sie nicht so furchtbar entstellt wäre. Der Mann hörte sich ihre Wünsche an.
„Tisch und Stühle wären wichtig und ein Bett, auch ein Kinderbett, aber das hat Zeit bis zum Frühjahr, dann ein Vorratsschrank für die Küche und natürlich ein Kleiderschrank. Ein Schreibtisch für meinen Mann.“
Gottfried Schwarzburger schmunzelte und nahm die Pfeife aus dem Mund. „Langsam, langsam