Sie singen auch noch, während sie nach drei Stunden absatteln und an einem Bach eine Rast einlegen. Verscheuchen eine Hirschkuh mit Kalb. Die Rösser tun sich am Gebüsch gütlich, die Menschen an belegten Broten. Alle vier trinken vom Gewässer. Josef zeigt seinem Sohn diverse Pflanzen. Nach der Mahlzeit sucht Hans nach Insekten und fragt nach deren Namen. Dann geht es weiter berghoch. Josef redet und singt ohne Pause, damit bei dem gleichmäßigen Schaukeln der Kleine nicht einschläft. Er soll müde ankommen, denn Hans schläft wenig und Josef hat sich für die Nacht Lesestoff mitgenommen. Nach zwei weiteren Stunden kommen sie an den ersten Häusern von Ottoschwanden vorbei. Am niederen Bewuchs erkennt er, dass sie nun auf einer ehemaligen Asphaltstraße weiterreiten. Die Gegend hieß früher Freiamt und war offenes Hochland aus Feldern und Wiesen gewesen. Jetzt besteht alles aus unterschiedlich hohen Bäumen und unter und zwischen ihnen steht das Dorf.
Josef hat auch einen Auftrag. Im Namen von Grisslys ältester Tochter soll er nach ihrem Wochenendhaus schauen. Ob das Dach dicht ist, ein Bär oder andere Tiere im Haus waren. Von den Alten lebt nur noch Carlina. Grissly, Buran, Sigsig, Klara und Kim sind alle nach und nach verstorben.
Vater und Sohn gelangen auf die Hauptstraße. Josef fummelt aus der Kargotasche seiner Hose ein Stück dünne, elastische Birkenrinde heraus, auf die er sich Notizen gemacht hat. Sie lässt sich leserlicher beschriften als Leder. Papier ist selten und teuer. Das Haus ist leicht zu erkennen, es ist von Büschen, Efeu und anderen Kletterpflanzen befreit. Sie dürfen darin wohnen. Steigen ab, binden die Pferde an und gehen auf Besichtigungstour. Das Dach scheint dicht zu sein. Leider finden sie keine Tiere. Keine Marder, keine Vögel, keine Siebenschläfer, nicht einmal Fledermäuse. Das Packpferd wird abgeladen, die Lebensmittel und Schlafsäcke ins Wohnzimmer gebracht. Schlafen wollen sie in einem Doppelbett.
Die Pferde haben aber noch keinen Feierabend. Der Vater hilft seinem Sohn auf das Packpferd. Bevor die Sonne untergeht wollen sie noch eine Ortsbesichtigung machen. Sie reiten weiter berghoch, dorthin wo es noch hell ist, beschauen sich von den Pferderücken aus die Häuser, müssen sich oft tief bücken, um unter Ästen hindurch zu kommen.
„Die Leute hier oben müssen einmal schön gewohnt haben“, meint Hans.
„Die hatten aber alle keine Tiere. Oder hast du so etwas wie einen Stall gesehen?“
Hans schaut sich aufmerksam um. „Nur Garagen. Für Fahrzeuge.“
„Wir müssen noch einen Brunnen suchen, um die Pferde zu tränken“, mahnt der Vater. „In den Häusern gibt es leider kein fließendes Wasser.“
„Wieso hatten die Leute früher kein Wasser? Das war doch bestimmt umständlich so zu wohnen.“
„Die hatten alle Wasser. Die Leitung zum Dorf muss verstopft oder kaputt sein.“
Als sie am obersten und letzten Haus angekommen sind, dreht Josef um und macht sich auf die Wassersuche.
„Papa, was hängt denn dort für eine seltsame Stange auf dem Dach?“ fragt sein Kleiner.
Der Vater schaut zurück und sieht tatsächlich eine seltsame Stange, die an einem Draht befestigt auf dem Dach des letzten Haus liegt. Er schaut zur untergehenden Sonne.
„Wir schauen schnell rein“, entschließt er sich.
Die Pferde werden an den Resten eines Gartenzauns befestigt, die Zweibeiner gehen entschlossen zur Haustür. Sie ist unversehrt. Wo gibt es denn sowas. Eine verschlossene Haustür. Josef wird es heiß. Das könnte bedeuten, dass dieses Haus noch nie geplündert wurde. Dass sich darin Schätze verbergen. Noch nie hat er ein Haus betreten, in dem nicht schon viele vor ihm waren und mitgenommen hatten was zu gebrauchen war.
„Das schauen wir uns morgen ganz genau an“, verspricht er seinem Sohn. „Wasser ist jetzt wichtiger.“
An einem Bächlein, das sich sein Bett selbst gegraben hat, dürfen die Rösser saufen, so lange sie wollen. Die Menschen füllen sich einen Fünf-Liter-Kanister. Die Pferde kommen in die Garage ihres Ferienhauses, bekommen Hafer. Die Zweibeiner machen im Hof ein Lagerfeuer, kochen Tee, essen nochmals, bevor es ins Doppelbett geht, wo Hans gleich einschläft und Josef im Kerzenlicht seinen mitgebrachten Roman anfängt.
Nach dem Frühstück stehen sie wieder vor dem Haus mit der Stange auf dem Dach. Gehen außen herum, drücken sich durch Büsche und Schlingpflanzen. Türen und Fenster lassen sich nicht öffnen.
„Wir müssen wohl einbrechen“, meint der Vater.
Hans schaut besorgt. Das hört sich irgendwie böse an. In Zoratom gibt es keine verschlossenen Türen. Einbrechen ist etwas Unbekanntes.
Josef entscheidet sich für die Scheibe des Toilettenfensters, das am einfachsten gegen Tiere abzudichten ist. Mit einem Stein aus einer Trockenmauer wirft er sie ein. Versucht den Griff umzudrehen. Es geht nicht. Es ist ein Fenster, das seit hundert Jahren nicht mehr geöffnet wurde. Mit einem anderen Stein klopft Josef die Scheibe restlos aus dem Rahmen, schwingt sich aufs Fenstersims, klettert vorsichtig auf die Brille. Hans schaut mit großen Augen zu ihm hinauf.
„Ich öffne dir die Haustür“, spricht der Vater hinaus.
Innen steckt ein Schlüssel, es ist aber nicht abgeschlossen. Die Haustür knarrt sehr laut, lässt sich überraschend leicht öffnen.
„Jetzt sind wir in einem Haus, in dem seit hundert Jahren keiner mehr war. Seit der großen Katastrophe. Sehen wir uns mal um.“
Zuerst geht er in die Küche. Überall Insektendreck und herunter gerieselter Putz und abgeblätterte Farbe, von in Decke und Wänden aufgeplatzten Rissen. Er sieht Geschirrspüler, Kühlschrank, Abzugshaube und Mikrowelle, was ihn aber nicht interessiert. Er sucht in den Schränken nach Küchengeräten. Findet Küchenmaschine, Mixer, Toaster, Eierkocher und andere, die sich in sehr gutem Zustand befinden. Josef ist Elektriker von Beruf und bekommt ein Hochgefühl.
Auf einmal steht Hans vor ihm, kreidebleich. „Da liegen Gespenster“, flüstert er.
Im Wohnzimmer sitzt in einem tiefen Sessel, der auf einen Bildschirm ausgerichtet ist, ein Skelet. In einem schwarz-roten Adidas Trainingsanzug. Auf der Couch liegt ein weiteres. Mit langen blonden Haaren und mit Unterhemd und Slip bekleidet.
Josef nimmt Hans auf den Arm. „Du musst keine Angst haben. Das sind wohl die Hausbesitzer, die damals hier gestorben sind. Wenn ein Mensch oder Tier stirbt, bleiben nach Wochen nur die Knochen übrig. Das ist ganz normal. Wir durchsuchen zuerst das Haus nach weiteren Gerippen.“
Zur Entspannung, geht er mit Hans zuerst in den Keller. Dort finden sie eine Motorsense, eine Kettensäge und einen Rasenmäher. Ersatzketten, Kettensägen-Öl und Benzinkanister sind auch vorhanden. Wenn er das alte Benzin destilliert, könnte es, mit Öl vermischt, Sense und Säge wieder antreiben. Im Keller stehen auch viele Vorräte, die bestimmt niemand mehr verzerren wird. Nach den erfreulichen Funden wagen sie sich ins Dachgeschoss wo die Schlafzimmer liegen. Das erste Zimmer ist dunkel. Josef will den Rollladen hochziehen, doch der Gurt reißt. Das Fenster geht aber auf. Er stemmt den Rollladen nach oben, hört ein „Ui“ hinter sich. Das Zimmer ist voller Spielsachen. Lego und Playmobil. Ritterburg, Traumschloss, ein Flughafen. Im Bett liegt ein Schädel mit braunen Locken.
Hans nimmt fasziniert ein Piratenschiff in die Hand. „Hatten damals alle Kinder so viel Spielzeug?“
„Keine Ahnung, woher soll ich das wissen, ich habe diese Zeit ja nicht erlebt. Aber so wie es überliefert ist, war kaufen die Lieblingsbeschäftigung der Menschen aus der alten Zeit. Sie haben auch Sachen gekauft, die sie gar nicht brauchten.“ Josef klemmt zwischen Rollladen und Fensterbank einen Stuhl, damit sich Hans umschauen kann.
Nebenan sind Bad, Elternschlafzimmer und ein Ankleideraum mit riesigem Kleiderschrank. Josef schaut Jacken und Hosen durch, dann die Kleider der Frau. Die Sachen sind alle noch in Ordnung, die Stoffe fest. Aber so würde heutzutage niemand mehr herumlaufen. Höchstens an Fasnacht. Vielleicht ist einiges als Arbeitskleidung zu gebrauchen. Die Unterwäsche auf jeden Fall, besonders die Winterunterwäsche, die Schuhe sowieso. Er probiert einige an, die Sohlen fallen ab.