Nachdem das Saatgut in der Halle verfault ist, kommt endlich ein richtig harter Winter. Es wird Holz verheizt wie nie zuvor. Der Boden ist Beton, man kommt überhaupt nicht mehr an die vergrabenen Kartoffeln, Karotten und Runkelrüben. Vögel fallen tot vom Himmel. Wie es der Zufall so will, wird aus Bayern eine Patientin gebracht, die auf die Künste des hiesigen Hospitals hofft. In Bayern gedeihen noch Weizen, Roggen, Hafer und Dinkel. Nur rücken die Bayern, wegen der europaweiten Krise, nichts heraus. Kim ist rigoros. In Bayern gäbe es auch Ärzte, behauptet sie frech. Bayern würden hier nur behandelt, wenn sie mit Getreide bezahlen. Die Frau verspricht Weizen, es wird eine wöchentliche Bezahlung ausgehandelt. Als die Frau nach drei Wochen heimfährt, ist das Dorf im Besitzt dreier Säcke. Einer ist voller Weizenkörner, der zweite voller Roggen und der dritte voller Hafer. Ohne etwas zurückzulegen wird der Inhalt der Säcke ausgesät. Entweder ist die Seuche überstanden oder der Getreideanbau für immer gestorben.
Nach langer Zeit interessiert sich die Gemeinschaft wieder für die Insulaner. Doch dort drüben tut sich nichts, die Felder werden nicht bestellt. Irgendwann geht Fritzi auf, dass sie drüben seit Monaten keinen Rauch mehr gesehen hat. Eine kleine Expedition reitet über das Floß und zum Dorf und findet nur verlassene Häuser. Nicht ein Tier ist zurückgeblieben. Der Winter war für sie wohl zu kalt gewesen.
Was dem einen sein Leid, ist dem anderen seine Freud. Das Getreide aus Bayern gedeiht hervorragend, auch kurz vor der Ernte ist von der Getreideseuche keine Spur zu sehen. Die Felder werden säuberlichst abgeerntet und die Körner für das nächste Jahr gelagert. Die Emmer Ernte ist so üppig, dass die Hälfte zu Mehl verarbeitet wird, von dem jede Familie ein wenig bekommt. Nun können sie probieren, ob sie das Brotbacken tatsächlich verlernt haben. Der Emmer schmeckt nur als Brötchen, finden alle. Mangels anderen Mehls, werden Emmer Brötchen auf Jahre zum Brotbegriff.
Schon in wenigen Jahren wird es wieder Weizen-und Roggenbrot geben, an dessen Geschmack sich die Emmer verwöhnten Zungen nicht mehr erinnern können. Werden die Pferde wieder Hafer bekommen, woran sie sich auch nicht mehr erinnern können, und noch einige Jahre später wird es wieder so viele Körner geben, dass auch für die Hühner genug abfällt. Dann werden die Eier wieder anders schmecken und die Kinder vielleicht enttäuscht sein und ihre gewohnten Eier verlangen.
Josef
reitet durch üppige Getreidefelder in Richtung Wald. Zwischen den goldenen Halmen und Ähren leuchten blaue und rote Blüten. Kornblumen, Klatschmohn und andere Getreidekräuter. Deren Samen machen das Brot erst richtig gesund und bekömmlich. Josef ist brotlos aufgewachsen. Als Kind kannte er auch keine Brötchen, Kekse, Kuchen und Nudeln aus Getreide. Aber alle möglichen Ersatzprodukte, die lange nicht so gut schmeckten. Und seine Familie war nicht arm. Seinen ersten richtigen Kuchen genoss er bei seiner Einschulung. Bis es in seinem Zuhause regelmäßig Brot gab war er schon im dritten Schuljahr. Ab da gab es wieder so viel Mehl, dass man jeden Tag Brote zur Arbeit oder zur Schule mitnehmen konnte. Von seinem ersten Brot war er gar nicht begeistert. Was sollte er mit dem trockenen Zeug? Warum sollte er darauf Wurst und Käse legen, wenn er beides auch so essen konnte? Die Mutter griff zu einem Trick, beschmierte eine Scheibe dick mit Butter und noch dicker, mit der süßesten Marmelade die der Haushalt hergab. Butterbrot mit Marmelade ist bis heute Josefs Lieblingsessen.
Seine Mutter ist Susanne, die neue Oberärztin des Hospitals. Josef selber ist ein Spätling. Als er zur Welt kam, waren seine Schwestern schon sechzehn und achtzehn Jahre alt. Als Kleinkind wusste er zunächst nicht, dass man als Mensch eine Mutter hat. Mutter und seine viel älteren Schwestern kümmerten gleichermaßen um ihn. Er brauchte Jahre um dahinter zu kommen, aus welchem der drei Bäuche er geschlüpft war. Beide Schwestern sind auch Ärztinnen. So wie die Mutter, wie Großmutter Kim, Urgroßmutter Meggy und Ururgroßmutter Zora, die vor hundert Jahren das Hospital eingerichtet hat. Zora hatte braune Haut und feuerrote Haare, wird erzählt. Meggy war schon heller, hatte aber schwarze Haare. Auch Kim hatte schwarze Haare, aber eine helle Haut, wie seine Mutter. Josef selber hat die Haare seines Opas, glatt und hellbraun. Dunkelhäutig zu sein und feuerrote Haare zu haben, fände Josef gar nicht schlecht. So als Farbtupfer unter Gleichen würde er sich wohler fühlen.
Nun ist er dreiundzwanzig und Vater zweier Kinder. Vor ihm auf dem Sattel sitzt sein vierjähriger Sohn. Er ist blond und heißt Hans. Nach einer halben Stunde wird er unruhig werden, während dem Ritt um den Vater herumkrabbeln und sich nach hinten setzen. Hans musste nicht mit, er wollte. Wo der Vater ist, ist auch sein Sohn. Keiner versteht die Anhänglichkeit. Josef bemüht sich nicht einmal besonders um den Kleinen. Wally, seine Frau, fühlt sich vom eigenen vierjährigen Kind zurückgesetzt und verschmäht. Ist auf ihren Mann eifersüchtig. Deswegen gab es schon einige unschöne Momente, die der Kleine aber unmöglich verstehen konnte.
Josef und die gleichaltrige Wally haben früh angefangen sich zu entdecken. In der Phase, in der Jugendliche verschiedene Partner ausprobieren, bevor sie sich für einen endgültigen entscheiden, ist Wally schwanger geworden. Deshalb gibt es Hans‘ sechsjährige Schwester Mona. Sie gaben sich gegenseitig die Schuld nicht aufgepasst zu haben. „Das kommt davon, wenn man es zweimal hintereinander treibt“, sagte seine Mutter „und das Waschen vergisst. Die Spermien lauerten noch vom ersten Mal unter der Vorhaut.“ Josef wollte Wally mit ihrer Leibesfrucht aber nicht alleine lassen, hat sich zu ihr bekannt und mit ihr ein frisch renoviertes Haus bezogen. Es ist zwar nicht die große Liebe, aber sie kommen miteinander aus.
Hans lacht gerne, findet alles witzig und spaßig. Wenn sein Gesicht aufleuchtet, entwaffnet er jeden schlechtgelaunten Erwachsenen. Er kann sich sehr gut selber beschäftigen. Während sein Vater arbeitet, spielt er in seinem Zimmer stundenlang mit einem Berg Bauklötzchen, oder im Freigehege mit den Kaninchen und Meerschweinchen. Versunken in fernen Welten schaut er bei Störung wie aus Träumen gerissen um sich, bevor seine Mundwinkel wieder nach oben gehen und er seinen Charme versprüht, um den Störer zu gewinnen. Kann man in diesem Alter schon den Charme anknipsen wie man ihn gerade braucht? fragt sich Josef manchmal. Kann man mit vier Jahren schon so berechnend sein? Sein eigener Sohn ist ihm ein Rätsel.
Sie führen ein Packpferd mit, denn vor ihnen liegen ein paar freie Tage. Es sind Kindergartenferien. Das Packpferd trägt Verpflegung, Wasser, Wein, Schlafsäcke, Hafer, eine Axt und ein Gewehr. Josef hat keine Ahnung wie lange sie unterwegs sein werden, aber er will zu einem Schwarzwalddorf, in dem einige seiner Freunde manchmal ihren Urlaub verbringen. Der Weg, eigentlich ein breit ausgetretener Wildwechsel, ist gut zu erkennen. Er wurde diesen Sommer schon von anderen Reitern benutzt. Leider geht es stundenlang nur durch Unterholz. Er muss permanent aufpassen, dass er von den dünnen Zweigen keine Ohrfeigen bekommt. Wenn der Gaul sich am Geruch eines Raubtiers erschreckt und durchgeht, wird der Reiter nicht ohne rote Gesichtsstriemen davonkommen.
Raubtiere gibt es im Schwarzwald nicht wenige. Erst letzte Woche wurde am Waldrand ein Tiger gesichtet und vorletzte Woche in Dorf Nähe ein Puma erschossen. Natürlich bevölkern auch Wölfe und Braunbären den Wald. Aber alle vierbeinigen Jäger gehen den Menschen aus dem Weg, weil diese immer gleich überreagieren und laut werden. Noch nie in den letzten hundert Jahren wurde ein Mensch Opfer eines Raubtiers. Eines Rindes oder Pferdes schon. Aber noch nie hat ein Bär, Tiger, Leopard oder Puma einen Menschen auch nur verletzt. Wolfsrudel trauen sich nicht einmal an einzelne Menschen. Wenn Wölfe auf Zweibeiner stoßen, hören sie innerlich schon Schüsse. Man muss das Wild erziehen, damit es das macht, was man von ihm erwartet. Das einzige Opfer eines Raubtieres wurde vor langer Zeit ein Alkoholiker, der bei seinen Ziegen einen Leoparden überraschte. Der Mann bekam einen Herzinfarkt und starb, ohne dass die Katze ihn berührt hatte.
Auf eine Aussicht brauchen Vater und Sohn nicht zu hoffen. Im Schwarzwald gibt es nur dort offene Flächen, wo ein Orkan Bäume umgerissen hat. Und diese Flächen sind unpassierbar. Gleichförmig und langweilig geht der Ritt unter hohen Bäumen hindurch und durch Unterholz. Aber die zwei können sich jederzeit beschäftigen. Sie singen. Das hält die wilden Tiere auf Distanz. Zuerst singen sie die Lieder die beide kennen. Pferdehalfter und so. Und das Lied