Der Pfad war nicht sehr breit und wand sich in engen Windungen die Hänge hinauf. Zwischenzeitlich wurde er so schmal und unwegsam, dass Aurelia schon fast ans Umkehren dachte. Doch sie riss sich zusammen und kletterte weiter. Immerhin zwang sie der Pfad dazu, sich auf jeden ihrer Schritte und jeden Handgriff zu konzentrieren sodass sie keine Zeit hatte, über andere Dinge nachzudenken.
Obwohl die Tage im Land immer länger wurden, schwand das Licht in den Bergen rasch. Nach nur wenigen Stunden war sie gezwungen, sich einen Unterschlupf zu suchen.
Die Nacht auf dem harten, felsigen Grund war kalt und ließ sie am nächsten Morgen mit steifen Gliedern erwachen. Nach einem kargen Frühstück, machte sie sich an die nächste Etappe. Sie wusste nicht, wohin der Pfad sie führte und wie lange sie ihm folgen würde, aber das war ihr im Moment egal. Stundenlang suchte sie sich kletternd ihren Weg hinauf. Gelegentlich hielt sie an und spähte hinunter auf die Ebene. Die Luft war klar und der Himmel blau, sodass sie das Land meilenweit überblicken konnte. Es erstreckte sich in einer Mischung aus grünen und braunen Flecken unter ihr. Als kleiner Punkt am Horizont, konnte sie sogar Schloss Ehrenthal und die Stadt Syndia ausmachen. Der Anblick war atemberaubend.
Gegen Abend erreichte sie schließlich ein kleines Plateau. Den Kopf in den Nacken gelegt, spähte sie in das Blau der Nacht, doch der Blick in den Himmel verhieß nichts Gutes. Dunkle Wolken zogen auf und Donner rollte bereits leise heran. Langsam verfluchte sie ihre Idee, völlig planlos in die Berge zu klettern. Ein Unwetter so hoch oben, war gewiss kein Vergnügen.
Im letzten Licht des Tages suchte sie nach etwas, dass ihr Schutz bieten würde. Noch während sie die steilen Felswände absuchte, fielen bereits die ersten Tropfen hinab und der Wind frischte auf. Sie beeilte sich, konnte aber keinen geeigneten Unterschlupf finden. Der Wind wurde stärker und peitschte nun die Regentropfen vor sich her. Grell zuckte ein Blitz über den Himmel und erleuchtete die Umgebung in einem fahlen Licht. Dann folgte ein ohrenbetäubender Donner. Er hallte von den Berghängen wieder und potenzierte sich zu einem unerträglichen Kanon. Aurelia hatte das Gefühl ihr Herz würde stehen bleiben. Innerhalb weniger Minuten war ihre Kleidung völlig durchnässt und sie begann zu frieren. Vorsichtig tastete sie sich an den nassen Felsen entlang, auch wenn sie die Hoffnung auf einen Unterschlupf längst aufgegeben hatte. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein unfreiwilliger Absturz. Plötzlich griffen ihre Hände ins Leere. Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte in die Dunkelheit. In einer Hand formte sie eine kleine, leuchtende Kugel und schleuderte sie in die Finsternis hinein. Vor ihr klaffte ein weiter Spalt im Fels. Scheinbar handelte es sich um den Eingang in eine Höhle. Erleichtert darüber, das Unwetter doch nicht ungeschützt über sich ergehen lassen zu müssen, ging sie hinein. Sie formte eine zweite, diesmal größere Lichtkugel und schickte sie in die Höhe. Die Höhle war groß und das Licht reichte nicht aus, um auch das hintere Ende zu erleuchten. Kurz überlegte Aurelia, wie weit sie die Höhle erkunden sollte und entschied sich dafür nur im vorderen Teil zu bleiben. Ihre nasse Kleidung klebte an ihrem Körper und ihre Arme und Beine schmerzten vom vielen Klettern. Sie suchte sich eine ebene Stelle nahe der Höhlenwand und wickelte sich fest in ihren Mantel. Dann erwärmte sie die Luft um sich herum mit magischer Energie. Es war nicht viel und sie würde es nicht die ganze Nacht aufrecht erhalten können. Dafür kostete dieses Kunststück zu viel Kraft. Aber immerhin würde ihre Kleidung nur noch klamm und nicht mehr triefend nass auf ihrer Haut liegen.
Draußen tobte der Gewittersturm. Blitze erhellten die Nacht und der Donner wurde mit ohrenbetäubendem Lärm von den Hängen zurückgeworfen. Sie lehnte den Kopf gegen den Felsen und beobachtete das Unwetter.
Irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn ein lautes Grollen ließ sie aufschrecken. Die Magie war ihr entglitten, als der Schlaf sie erfasst hatte und die Luft um sie herum war eisig kalt. Trotzdem hatte es gereicht, um ihre Kleidung antrocknen zu lassen. Ein weiteres Grollen ließ die Höhle erzittern. Erschrocken sah sich Aurelia um. Dies war kein Donner gewesen. Ein Blick nach draußen bestätigte ihr, dass das Gewitter weitergezogen war. Langsam presste sie sich gegen die Höhlenwand und versuchte mit den Schatten zu verschmelzen. Scheinbar war sie nicht allein in dieser Höhle. Sie schalt sich selbst einen Narren, dass sie wieder einmal ohne Waffen unterwegs war.
Vergeblich versuchte sie etwas in der Finsternis zu erkennen. Das Grollen kam näher und ein Schaben, wie von Metall, welches über Stein gezogen wurde, mischte sich hinein. Aurelia schleuderte eine Lichtkugel in die Richtung. Immerhin wollte sie wissen, womit sie es zu tun bekam.
Zwei rubinrote Augen leuchteten auf und für einen kurzen Moment sah sie einen schuppigen, silberfarbenen Kopf. Dann schossen ihr lodernde Flammen entgegen. Mit einem entsetzten Aufschrei warf sie sich zur Seite, rollte zurück auf die Füße und sprintete auf den Ausgang der Höhle zu. Das metallische Schaben und Klacken wurde lauter. Gerade noch rechtzeitig ließ sie sich fallen, als der gewaltige Kopf nach vorne schnellte und die Kiefer sich mit einem furchterregendem Geräusch über der Stelle schlossen, wo vor wenigen Sekunden noch ihr Kopf gewesen war. Mit pochendem Herzen suchte sie hinter einem Felsen Deckung.
Nach dem Unwetter war der Himmel wieder sternenklar und die schmale Sichel des abnehmenden Mondes erhellte die Umgebung. Die Strahlen seines fahlen Lichtes trafen den schuppigen Körper und ließen ihn in einem silbrigen Glanz erstrahlen. Aurelia traute ihren Augen nicht. Vor ihr bäumte sich ein riesiger Drache auf. Er zog witternd die Luft durch seine Nüstern ein. „Komm raus, kleines Menschlein“, grollte der Drache, schnellte herum und ließ seinen langen Schwanz wie eine Peitsche durch die Luft sausen. Die Spitze des Schwanzes traf den Felsen, hinter dem sich Aurelia duckte. Er zerplatzte wie eine tönerne Schale. Gesteinssplitter flogen umher und Aurelia musste sich mit Magie schützen, um nicht getroffen zu werden. Ohne Deckung stand sie dem riesigen Wesen gegenüber.
Es wirkte, als würde der Drache seine Maulwinkel zu einem Lächeln verziehen. Die roten Augen glühten. „Was hast du in meiner Höhle zu suchen gehabt?“
„Ich habe lediglich Schutz vor dem Unwetter gesucht“, antwortete Aurelia wahrheitsgemäß.
„Lüge“, grollte der Drache und hob eine Pranke.
„Nein! Das ist die Wahrheit. Glaube mir, bitte.“ Aurelia wich zurück und überdachte ihre Möglichkeiten. Sie zweifelte daran, dass es ihr gelingen würde, den Drachen im Kampf zu besiegen. Eine Flucht schien ebenso unmöglich, wie zwecklos zu sein. Selbst wenn sie sich bei einem überstürzten Abstieg nicht den Hals brach, wäre der Drache zweifelsfrei schneller als sie.
„Warum sollte ich dir glauben?“ Die Pranke sauste hinab. Aurelia versuchte sich in Sicherheit zu bringen, war aber nicht schnell genug. Eine Kralle streifte ihre Seite, zerriss ihr Hemd und brachte sie zu Fall. Die scharfen Klauen nagelte sie am Boden fest und sie sah das gewaltige Maul wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht schweben. Die Zähne waren so lang wie ihre Unterarme. Der Drache konnte sie mit einem einzigen Bissen verschlingen.
Wieder zog er witternd die Luft ein, legte den Kopf schräg und sah sie aus einem seiner rubinroten Augen an. Sein Schwanz peitschte aufgeregt hin und her.
„Wer bist du? Antworte oder ich fresse dich“, fauchte er.
„Ich bin Aurelia...“ Sie zögerte kurz. „Nachtschatten“, fügte sie schließlich an.
Das Brüllen dröhnte in ihren Ohren.
„Das ist eine Lüge!“ Die Pranke verstärkte den Druck auf ihrem Brustkorb und sie bekam kaum noch Luft. Das rubinrote Auge kam näher und betrachtete ihren Hals.
„Woher hast du diesen Stein um deinen Hals?“
Wenn Aurelia noch genügend Luft bekommen hätte, hätte sie laut aufgelacht. „Meine Mutter hat ihn mir geschenkt“, presste sie stattdessen hervor.
Das Auge kam noch näher und das Grollen ließ ihre Knochen vibrieren. „Wer bist du und woher hast du diesen Stein?“
Aurelia versuchte sich unter der Pranke hervor zu winden, schnitt sich jedoch nur die Haut an den scharfen Schuppen auf. „Das sagte ich bereits! Was willst du überhaupt von mir?“
Der Drache hob eine seiner spitzen Krallen und verharrte damit wenige Zentimeter vor ihrem Hals.