Allmählich verlor Kyle die Geduld. Dass sie ihn oder Constantin nicht sehen wollte, konnte er verstehen, aber wenigstens die Bediensteten sollte sie hineinlassen.
Zusammen mit den beiden Frauen erreichte er ihr Zimmer.
Laut pochte er mit der Faust gegen die Tür. „Aurelia, mach die Tür auf. Lass die Leute ihre Arbeit verrichten, danach lassen sie dich wieder in Ruhe.“
Keine Antwort.
Er pochte wieder gegen das Holz. „Aurelia! Ich breche die Tür auf!“
Stille. Kein Laut war zu hören.
„Nun gut“, sagte er zu sich selbst und zückte einen Dolch. Er hatte nicht vor die Tür zu zerstören. Dies war auch gar nicht nötig. Als Kinder hatten er und Lex sich öfter unerlaubt Zutritt zu irgendwelchen Räumen verschafft und so wusste er, wie man die Schlösser an den Türen aufhebelte. Mit wenigen, flinken Bewegungen ließ er den Hebel im Schloss klackend zurückschnappen und die Tür aufgleiten. Kyle gab ihr einen kleinen Schubs mit der Hand, sodass sie vollständig aufschwang und den Blick in das Zimmer frei gab. Er sah hinein und fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggerissen.
Das Zimmer war leer, die Fensterläden standen offen und die Vorhänge waren heruntergerissen worden. Aurelia hatte das Bett ans Fenster geschoben, die Vorhänge an dessen Beine geknotet und scheinbar als Seil benutzt.
Kyle durchquerte das Zimmer und sah nach draußen. In Höhe des ersten Stocks endeten die Vorhänge. Die restliche Distanz musste sie sich fallen gelassen haben. Wütend über seine eigene Naivität, schlug er mit der Faust auf den Sims. Er war lange genug mit ihr zusammen unterwegs gewesen, um zu wissen, dass sie sich nicht aufhalten lassen würde, wenn sie es nicht wollte. Sie war die Klippen des Magaerus herabgestürzt und hatte überlebt!
„General Farland?“ Eine der beiden Bediensteten war an ihn heran getreten und sah ihn bestürzt an. „Was ist mit der Lady geschehen?“
Seufzend wandte er sich vom Fenster ab. „Sie hat einen Ausflug unternommen.“ Zögernd sah er sie einen Moment lang an. „Ich hoffe auf eure völlige Verschwiegenheit. Wenn sich jemand nach der Lady erkundigt, sagt ihnen, dass sie sich nicht wohl fühlt und unpässlich ist.“ Er wusste nicht warum, aber er wollte nicht, dass Aurelias Verschwinden bekannt wurde. „Verschließt die Tür und lasst niemanden herein. Auch den großen, blonden Mann mit den braunen Augen nicht.“
Die beiden Frauen warfen sich vielsagende Blicke zu. Natürlich wussten sie von wem die Rede war.
„Ich werde die Lady schnellstmöglich zurück bringen. Bis dahin...“ Er legte einen Finger auf die Lippen und die Frauen kicherten. Schnellen Schrittes verließ er das Zimmer, eilte die Gänge und Treppen hinab und marschierte geradewegs auf die Stallungen zu. Das Fenster in Aurelias Zimmer lag zwar auf der Rückseite des Hauptgebäudes, aber wenn sie Schloss Ehrenthal verlassen wollte, musste sie zwangsweise das Innentor passieren. Anderenfalls bliebe ihr nur ein waghalsiges Klettermanöver über die Mauer und die steile Bergflanke hinab. Kyle schmunzelte. Aurelia war mutig, aber nicht dumm. Sie würde nicht ihr Leben riskieren, wenn es eine wesentlich simplere Möglichkeit gab.
Ohne zu klopfen stürmte er in die Sattelkammer. Ein Stallbursche sprang erschrocken auf.
„Hat sich heute Mittag eine Lady ein Pferd geliehen und ist bisher noch nicht zurückgekehrt?“
Der Stallbursche zählte gerade vierzehn Sommer und reichte Kyle nicht einmal bis zur Schulter. Von der Frage und der schärfe der Worte völlig überrumpelt, begann er zu stottern und sein Gesicht lief puterrot an.
„Ähm... äh“, war alles was er heraus bekam.
„Die Lady war ungefähr so groß.“ Kyle hob die Hand an seine Schulter. „Sie hat lange, schwarze Haare und blaue Augen.“
Dies schien dem Jungen auf die Sprünge zu helfen, denn sein Gesicht hellte sich auf und ein verträumter Blick trat in seine Augen. „Ja. Die schöne Lady war hier. Sie wollte ein Pferd, um in die Stadt zu reiten...“
Kyle ließ den Jungen mit seinen Tagträumen in der Sattelkammer zurück, schnappte sich sein Sattelzeug und begab sich zu seinem Pferd. In Windes eile hatte er das Tier gesattelt und gezäumt. Die Sonne war bereits fast untergegangen, als er das Pferd aus dem Stall führte und aufsaß. Die Wachen an den Toren warfen ihm fragende Blicke hinterher, als er wortlos an ihnen vorbei preschte.
Aurelia ließ ihr Pferd in einem gemächlichen Tempo traben. Schloss Ehrenthal zu verlassen war einfacher gewesen, als sie gedacht hatte. Der junge Stallbursche hatte sie so liebestoll angesehen, dass sie wahrscheinlich alles von ihm hätte bekommen können. Sie hatte sich jedoch auf ein Pferd und einen Mantel beschränkt. Selbst die Wachen hatten keine Fragen gestellt, als sie an ihnen vorbei geritten war. Grinsend blickte sie zurück, als das Schloss schon einige Meilen hinter ihr lag. Danach wandte sie sich nach Osten und ritt auf die beständig anwachsenden Gipfel des Schattengebirges zu.
Die Sonne senkte sich herab und zwang sie ein Lager für die Nacht aufzuschlagen. Sie stieg vom Pferd und führte es vom Weg herunter. Nach kurzem Suchen fand sie einen niedrigen Baum, an dem sie das Tier festband und sich selbst in einer Nische zwischen seinen Wurzeln niederließ.
Die Nacht war warm und angenehm. Bald würde der Sommer Einzug halten. Definitiv eine der schönsten Jahreszeiten in Canthan.
An die raue Rinde des Baumes gelehnt, lag sie noch eine ganze Weile wach und dachte über ihr weiteres Vorhaben nach. Sie musste gestehen, dass ihr Aufbruch ziemlich überstürzt und unüberlegt gewesen war. Doch sie hätte es auf dem Schloss keinen Moment länger ausgehalten.
Als erstes würde sie weiter Richtung Osten reiten und sich einige Tage in den Bergen aufhalten. Vielleicht klärte dies ihre Gedanken. Danach würde sie entscheiden, wie es weiter gehen sollte. Vielleicht würde sie nach Arthenholm gehen, oder in die Länder, die dahinter lagen. Der Kontinent war so riesig, sie könnte ein ganzes Leben darauf verwenden, die einzelnen Länder zu bereisen. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?
Wahrscheinlich, weil sie ihre Zukunft immer im Orden gesehen hatte. Wenn die Inquestoren sie nicht gefunden hätten, wäre sie vermutlich immer noch dort. Vermutlich würde auch Roderich noch leben. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hätten Sharon und die Rebellen es auch ohne ihre Hilfe geschafft, den König zu stürzen. Vielleicht...
Immer dieses Hätte, Wenn und Aber!
Wenn so vieles nicht so fürchterlich schief gegangen wäre, würde ihre Familie noch leben. Sie würde immer noch in dem kleinen Dorf, nahe der Grenze, wohnen und wäre womöglich längst verheiratet. Aurelia rollte sich zur Seite. Ihre Familie. Bei diesem Gedanken begann ihr Magen zu schmerzen. Sollte das alles wirklich eine Lüge gewesen sein? Sie konnte es nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben! Sie schloss die Augen und zwang sich sämtliche Gedanken aus ihrem Geist zu verdrängen. Schließlich fiel sie in einen traumlosen Schlaf.
Wenige Tage später erreichte Aurelia den Fuß des Gebirges. Dunkel reckten sich die schroffen Gipfel in den Himmel und auf den höchsten Kämmen glitzerte der ewig währende Schnee. Im Schatten des Gebirges duckte sich eine kleine Ansammlung von Bauerngehöften. Die Menschen waren emsig auf den Feldern beschäftigt und nahmen kaum Notiz von ihr, als sie die Siedlung passierte.
An einem kleinen Gehöft weiter außerhalb, traf sie auf den Sohn eines der Bauern und erzählte ihm, dass sie ihr Pferd aus dem Schloss gestohlen hatte und eine reiche Belohnung auf ihn warten würde, wenn er es zurück brachte. Er sah sie skeptisch an, schien ihr die Geschichte aber zu glauben. Aurelia musste sich ein Lachen verbeißen. Ganz so frei erfunden war es schließlich nicht. Netterweise gab er ihr zum Tausch ein Messer und einige Vorräte. Unter den erstaunten Blicken der restlichen Familie, schulterte sie die Tasche und marschierte