Rolands Lied. Jochen Schmitt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Schmitt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847605355
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Stadtälteste erschien als Wotan. Er trug einen Topfhelm, an dessen beiden Seiten Stierhörner in die Höhe ragten. In seinem Gurt stak ein rostiges Schwert. Abdallah teilte seine Schar in zwei Gruppen, eine dritte bildete die fränkische Eskorte. Jedem der drei Trupps ordnete er ein Drittel der lokalen Streitmacht zu.

      Um Mitternacht herum waren der Schäfer, seine Hunde und die beiden Murabitun zurückgekehrt. Der Schäfer überließ es den Mauren, ihrem Kaid vom Erfolg zu berichten. Nur eine Stunde vom Dorf entfernt waren die Hunde fündig geworden. Die Bande saß auf einer größeren und dicht bewaldeten Insel in einem Mündungsarm der Rhone. Man sah ihre Feuer und hörte sie feiern. Gesang, Geigenmusik, Lachen und Grölen war zu vernehmen. Das entdeckt, nahm der Schäfer seine Hunde zurück. Unbemerkt hatten sie sich zurückgezogen, um die Beobachtung zu melden.

      Die Hunde ließ der Schäfer bei seiner Herde, setzte sich nun an die Spitze, und die Streitmacht folgte. Inzwischen war auch die lastende Hitze des Sommertages einem besser erträglichen sanften Nachtklima gewichen. Sternklar wölbte sich der Himmel. Im Schein des Vollmondes und mit guter Sicht, gings im Gänsemarsch zum Wasser des Rhone Altarms, in dem die Insel sichtbar wurde. Die lag in absoluter Stille. Nicht deute auf ein Räuberlager hin. Nahe dem Ufer teilte Abdallah seine Streitmacht in zwei Arme zur umzingelnden Besetzung der dort vor ihnen vermutlich im Lager Schlafenden, und ließ seine Krieger im ersten Morgendämmer von beiden Seiten gleichzeitig zur Insel waten.

       Sie fanden das Zigeunerlager im Schweigen einer durchfeierten Nacht. Es war ein regelrechtes Dauerwohnlager. Auf einer schon älteren Rodung standen zum Teil feste Hütten, zum anderen Planwagen. Flussab, auf einer weiteren Lichtung, stand eine Herde von Zugtieren in einer festen Einzäunung. Auf dem freien Raum am Rand des Lagers parkte noch unangetastet der Frachtzug, Beute und Zeugnis zugleich. Das besiegelte das Schicksal der Bande.

      Am Rand der Lichtung, rundum die sorglos Schlafenden eingekreist, verharrten die Rächer zunächst noch im Schatten der Bäume und warteten auf das erste Tageslicht. Nur einmal regte sich was. Eine Alte, die dem Druck ihrer Blase nachgeben musste, kroch aus einem der Planwagen. Sie watschelte zum Waldrand. Nur 5 m vor Wotans Füßen ließ sie es plätschern. Schlaftrunken kroch sie wieder unter die Plane. Nur noch vieltöniges Schnarchen. Noch eine Viertelstunde, dann erklang der erste Vogelruf des Morgens. Zugleich konnte Abdallah die Männer auf der Gegenseite am Waldesrand erkennen. Er trat in die Lichtung. Ein weiterer Blick in die Runde. Alle sahen erwartungsvoll zu ihm hin. Er hob den rechten Arm und schleudert seine Faust in Richtung Lagermitte.

      Lautlos setzten sich die Männer in Bewegung. Wie von Abdallah angeordnet, gab keiner einen Ton von sich. Er hatte jedem versprochen, ihm die Zunge abschneiden zu lassen, wenn er laut werden würde. Diese milde Versprechung wirkte. Sie pirschten sich regelrecht an die Schlafenden. Es gab keinen Kampf. Die Überraschung war vollkommen. Einige Zigeuner schliefen am Boden, rund um drei heruntergebrannte Lagerfeuer. Als sie von der groben Behandlung erwachten, lagen ihre Hände in Fesseln auf dem Rücken. Noch immer kein Laut. Ihre Kehlen blieben zugedrückt. Erst als nun der lokale Volkssturm die anderen noch Schlafenden aus dem Karren und Hütten zogen, wurde es laut. Die Männer fluchten, die Weiber schrillten Wut und Hass, die Kinder kreischten. Zwei junge Männer und eine Frau rissen sich los und stürmten zum Wald. Es gab kein entkommen. Abdallah, der routinierte Razzia-Kaid, hatte so etwas erwartet. Seine eigenen Männer bildeten, von ihm zurückgehalten, die äußere Absperrung. Drei Füße schnellten vor, drei Hasen kugelten sich und wurden verschnürt.

      Das wars. Ruhe kehrte ein. Unsicher sah Wotan zu Abdallah: Was nun? Der und der Schäfer sorgen für kurzen Prozess.

       „Wenn du die Gefangenen deinem Gaugrafen zuführst, darfst du auf wenig Dank rechnen“ raunte ihm der Schäfer zu. „Du hast die Arbeit mit dem Transport. Du und dein Städtchen, ihr dürft die Gefangenen bewachen und ernähren, bis ein förmlicher Thing einberufen ist und der entschieden hat. Derweil haben die Brüder deiner Gefangen diese wahrscheinlich schon per List und Gewalt eines Nachts befreit. Du und die deinen, ihr habt den Schaden! Der Graf dann anschließend einen Grund, euch abzustrafen. Also sag, was du für richtig hältst!“

      Unsicher sah Wotan zu Abdallah. Der nickte ihm grimmig zu. Wotan verstand:

       „Wir hängen sie allesamt an hier die Bäume“ sprudelte er hervor.

       „So sei es, vorwärts, macht euch dran!“ Befahl Abdallah.

       Der Schäfer übernahm unaufgefordert, aber mit großer Hingabe die Regie des nun folgenden Ablaufs. Er ließ die Planen der Zigeunerwagen in Streifen schneiden und zu kräftigen Stricken verwinden. Dann wurden die nur noch kurz fluchenden Männer und Frauen an die unteren Äste der Bäume gehängt. Schön langsam und vorsichtig, damit sie länger etwas davon hatten. Die Hälfte konnte mit ihren Zehen noch den Boden ertasten und taten ihm den erwünschten Gefallen. Sie tanzten, nun verstummt, den letzten Tanz ihres Lebens. Sehr zum Amüsement des Schäfers und der Städter. Die sahen bewundernd zu und schlossen Wetten ab, wer wohl der Letzte sein werde.

      Es war dann eine noch recht junge und hübsche Sie, die fast eine Viertelstunde lang temperamentvoll tanzte und dann als letzte ihre schwarze Seele aushauchte. „Eigentlich dumm von uns und schade“, meinte der Schäfer dazu. „Wir hätten mit der und den anderen Mädchen erst noch Spaß haben können, ehe wir sie hängten. Jetzt ist es leider zu spät dazu. Es bleibt aber noch das kleine Raubgesindel. Reicht mir mal die Säuglinge“, befahl er und ging zur Rhone.

       Einen nach dem anderen schleuderte er mit weitem Schwung ins Wasser. „Aus Nissen werden Läuse! Reicht mir nun die Kleinkinder!“

       Er lehrte sie auf gleiche Weise für immer zu tauchen. Ein kleiner Junge kam als einziger wieder hoch und paddelte eilends den Fluss hinab. Wütend über seinen Fehler brüllte der Schäfer auf.

       „Hättest den Größeren erst den Karnickel-Fangschlag setzen müssen!“ belehrte ihn ein weiser Alter.

       „Danke, Opa, jetzt weiß ichs!“

       „Lass man,“ beruhigte ihn Wotan, „ weit kommt der nicht! Er schwimmt in Richtung Afrika, und bis Karthago muss er lange paddeln!“

       Brüllendes Gelächter belohnte ihn für seinen Scherz.

      Sie wandten sich der Beute zu. In den Kaufmannskarren der letzten Missetat fanden sie Gold- und Silberschmuck. Das musste wohl ein fahrender Goldschmied mit seinem Gesinde gewesen sein, die nun alle auf dem Kirchhof von Arles ruhten. In den Hütten und Planwagen der Bande fand sich noch vieles mehr an Beute. Abdallah wies Odwart, dem Schäfer, den ersten Zugriff darauf zu. Der schnaubte nur wieder. Er griff sich eine gute dicke Wolldecke, die mit Sicherheit keine Zigeunerin gewebt und wohl aus früherer Beute stammte.

       „Mehr brauche ich nicht!“ ließ er Abdallah übersetzen. „Bedürfnislosigkeit und Genügsamkeit sind die Grundlagen meiner Freiheit. Schaut euch diese Kretins an, Herr, wie sie wühlen und gieren. Die haben längst schon ihr Erstgeburtsrecht auf ein buntes freies Leben gegen die dumpfe Existenz in der lokalen Enge eingetauscht. Sie haben ein Haus, und damit einen Pfahl in die Erde eingerammt, an dessen Kette sie nun baumeln wie ihre Hofhunde - und genauso wie die ihr Leben vergeuden. Sie vegetieren nur. Sie haben längst vergessen, was Mensch sein bedeutet!“

      Die hingegen verlachten höhnend den Mann der Natur. Ein Idiot, ein Geistesschwacher! Der ließ Gold und Silber liegen und griff nach einer billigen Decke! Morgen wird er mit seiner Herde weiterziehen. Vielleicht kommt er übers Jahr wieder vorbei – vielleicht auch nicht. Wie unwichtig! Von so einem Dummkopf kann keiner was erben. Vergessen wir ihn! Und das taten sie, noch ehe die Mauren weiterritten.

      Der Stadtbürgermeister hatte inzwischen begriffen, dass sich die Fremden nicht weiter einmischen wollten. Er übernahm die Initiative. Es zeigte sich rasch, dass er sein Amt zu Recht innehatte. Mit Autorität brachte er Ordnung in das weitere Geschehen. Zwei Finger in den Mund, ein schriller Pfiff, und seine Mannen strömten herbei. Er sah kurz in die Runde: „Jason und Wulfnot, was meint ihr als Ratsälteste? Wir sollten nicht länger verweilen. Was Wert hat, nehmen wir mit. Wir werden ehrlich teilen. Den Kaufmannszug bekommt der Gaugraf in Nimes. Alles andere, was in dem Zigeunerlager an Werten vorhanden, teilen wir unter uns. Wie seht ihr beiden das?“

       Seine Räte nickten Zustimmung, sein Gefolge johlte Beifall. Als der ausklang: