Das letzte Schuljahr. Wilfried Baumannn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Baumannn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847687450
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war, dass die meisten Darsteller sich noch nie gründlich mit dieser Außenseitergruppe beschäftigt hatten. Die Gespräche mit solchen Jugendlichen brachten viele aufschlussreiche Aspekte zu Tage. Sie lernten einen Punk kennen, der ein guter und gewissenhaft arbeitender Facharbeiter war, aber wegen seiner bunten Frisur ständig Ärger mit dem Lehrmeister bekam.

      Punks waren beim Staat nicht beliebt. An staatlichen Feiertagen durften sie nicht in das Stadtzentrum kommen, um den öffentlichen Frieden nicht zu stören.

      Weil das Stück solche Probleme aufgriff, die es offiziell gar nicht geben durfte, fand es besonders bei Jugendlichen ein großes Echo.

      „Ja“, atmete Müllers Gesprächspartner plötzlich tief, „momentan haben wir ein Problem. Wir brauchen unbedingt einen Pianisten im Theater. Derzeit hilft uns ein Student von der Musikhochschule, aber das ist nur eine Übergangslösung.“

      Müller kam plötzlich auf eine Idee. Er dachte an die Repressalien, die er im Vorjahr von der Chefin hatte erdulden müssen. Wenn es hart auf hart kommen sollte, war das Theater ein möglicher Rettungsanker.

      Durch die von allen Lehrern abgeforderte Gefährdetenkartei, die er auf keinen Fall gewissenhaft anfertigen wollte, um einige Schüler zu schützen, waren die Konflikte schon vorgezeichnet.

      Er sagte dem Theaterleiter deshalb bewusst, dass er auf dem Klavier zu Hause war und ihn Theaterarbeit sehr interessierte. Dr. Sastre, der Theaterwissenschaft studiert hatte und Leiter des Theaters war, lud daraufhin Müller zu einer Vorstellung ein, die in der kommenden Woche stattfinden sollte. Anschließend sollte er seine künstlerischen Fähigkeiten demonstrieren.

      Einen Tag vor der Klassenelternaktivwahl erschien Müller mit seiner Frau Carolin zur Aufführung eines Stückes des Jugendtheaters. Müller folgte der Handlung etwas unkonzentriert. Er musste an die Wahl denken, an der seine Schüler und die Chefin anwesend sein würden und an sein nach der Vorstellung erwartetes Vorspiel. Dr. Sastre war von Müllers Fähigkeiten beeindruckt.

      „Da versauern und vergeuden Sie Ihre Talente in der Schule?! Wenn Sie wollen, können Sie bei uns mit einigen Stunden einsteigen.“

      „Ja“, antwortete Müller entschlossen, „das mache ich.“

      „Können Sie montags die beiden Kindergruppen musikalisch betreuen? Wenn Sie allerdings Parteiversammlung haben …“

      „Nein“, fiel ihm Müller ins Wort, „ich bin kein Parteigenosse und habe Zeit.“

      Ja, am Montag hatten doch die Parteileute immer ihre Versammlung. Der andere Teil der Bevölkerung konnte dann einmal unbeobachtet seinen Beschäftigungen nachgehen, ha, ha, ha.

      Schon in der kommenden Woche konnte er anfangen. Müller war einverstanden.

      Damals ahnte er noch nicht, wie wichtig dieser Schritt für ihn einmal werden sollte. Das Angebot vom Theater war zur rechten Zeit gekommen, denn bereits am nächsten Tag bekam Müller in der Klassenelternversammlung seinen ersten Nackenschlag im neuen Schuljahr.

      Die Klassenelternversammlung lief gut an. Fünfundneunzig Prozent aller Eltern waren erschienen. Für die Konferenz der Eltern einer 10, Klasse war die Befolgung der Einladung ein großer Erfolg für Müllers Lehrertätigkeit und kaum zu übertreffen. Von den eingeladenen Schülern fehlte nur ein Mädchen.

      Die Elternaktivvorsitzende verlas nach dem vorher abgesprochenen Programm den Rechenschaftsbericht über die Tätigkeiten des Klassenelternaktivs im vorangegangenen Schuljahr und endete mit der Verpflichtung des KEA, im kommenden Schuljahr alles für die weitere Stärkung des Sozialismus zu unternehmen.

      Müller dankte allen Eltern, die im Aktiv mitgearbeitet hatten, und überreichte jedem Mitglied einen Strauß Herbstastern, die er aus eigener Tasche bezahlt hatte. Dann erläuterte er die Aufgaben des neuen Schuljahres, sprach davon, dass es ganz gut angelaufen war und sich die Arbeitseinstellung der Schüler im Vergleich zum Vorjahr verbessert hat. Er sprach von den Aufgaben der Vorbereitung auf die Prüfungen.

      „Trotzdem haben nach meiner Umfrage etwa fünf Schüler noch keine konkrete Vorstellung, welches Prädikat sie in der Prüfung erreichen wollen.

      Bei der letzten Überprüfung der Hausaufgabeneintragungen in das Tagebuch musste ich feststellen, dass zwei Hefte wieder bemalt waren.“

      Dirk Amigo meldete sich:

      „Warum kann ich nicht in mein Heft malen, wenn es mir gehört?“

      „Dirk, weil schulische Sachen Arbeitsmaterial sind, und du weißt selbst vom ESP- und PA-Unterricht, dass das in Ordnung sein muss“, erwiderte Müller.

      Was er allerdings weiter dachte, sagte er nicht:

      „Erst bemalst du dein Heft, mein Junge, und dann die Tische und Wände.“

      Da meldete sich die Direktorin, Frau Sanam zu Wort:

      „Liebe Eltern, liebe Schüler!“

      Sie senkte dabei den Blick und sprach ruhig und überlegt. Jedes Wort traf Müller wie ein Keulenschlag:

      „Zuerst möchte ich den Schülern sagen: Ihr habt ganz klare Vorstellungen von den Ergebnissen, die ihr in der Prüfung erzielen wollt. Ich versichere euch, ihr werdet sie auch erreichen.“

      Was behauptete sie da? Das war gelogen und widersprach dem, was er dargelegt hatte.

      Dörte Seefeld aus dem Heim wusste überhaupt nicht, ob sie die Kraft aufbringt, ein ganzes Schuljahr durchzuhalten. Sie hatte wenig Zutrauen zu sich selbst.

      Auch Dirk Amigo hatte noch keine klaren Vorstellungen.

      Wollte sie sich mit ihren gegenteiligen Behauptungen bei den Schülern anbiedern? Aber bevor Müller weiter denken konnte, kam der nächste Schlag:

      „Ich habe nichts dagegen, wenn Schüler ihre Hausaufgabenhefte bemalen.“

      Wie bitte? Hatte die Direktorin ihn nicht zum Ende des Schuljahres aufgefordert, im folgenden Jahr diese Hefte gründlich zu kontrollieren, weil viele in einem unordentlichen Zustand gewesen waren?

      Er hatte das als Gängelei zurückgewiesen, aber sie meinte, dass es von der Heftbemalung bis zum Beschmieren des Schulhauses nicht weit sei. Er wollte gerade etwas erwidern, als sie erneut bekräftigte:

      „Ich habe gegen das Bemalen der Hausaufgabenhefte nichts einzuwenden.“

      Müller blickte auf die Eltern, die schwiegen und ihn interessiert beobachteten, dann auf die Schüler, die hämisch grinsten. Endlich hatten sie sich an etwas ordentliche Arbeit gewöhnt, da riss die Direktorin alles wieder ein.

      Er wusste bei seiner Klasse, was nun kommen würde: Wieder diese verfluchte Schlamperei! Im Dezember hatte er dann wieder etwa sechs oder sieben Versetzungsgefährdete. Wieder musste er die Eltern persönlich einladen, um zu retten, was zu retten war, Hinweise geben und Lernhilfe organisieren. Besonders um Dörte musste er sich kümmern. Sie durfte nicht auf der Strecke bleiben, waren Müllers Gedanken. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass ihm die Direktorin seine anerkannte Autorität in der Klasse zerstörte.

      Er musste reagieren. Aber die Reaktion konnte sich nur gegen die Direktorin richten. In der hinteren Reihe saß seine Studentin, die seiner Einladung gefolgt war. Sie schüttelte den Kopf. Es tröstete ihn ein wenig, dass sie dasselbe empfand wie er. Gleichzeitig dachte er aber, dass er die Deutschlehrerin seiner Klasse nicht vor Eltern und Schülern herunterputzen konnte. Jetzt bekam wieder die moralische Haltung des Lehrers Übergewicht, der selbst in der tiefsten Krise nervlicher und gesundheitlicher Belastung weiter gewissenhaft seine Arbeit erledigte.

      Er dachte an das einheitlich handelnde Pädagogenkollektiv, daran, dass er schon aus Prinzip seine Fachlehrer unterstützte, damit seine Anvertrauten im Lernen vorankommen. Nichts war für ihn schlimmer als eine Pendelerziehung, die Schüler sehr schnell auszunutzen verstanden, indem sie einen Lehrer gegen den anderen ausspielten, selbst aber die klare Orientierung verloren. Sollte er also zeigen, wie uneinig sich die Pädagogen der Schule waren?

      Er wollte gerade etwas Versöhnliches erwidern,