Nach der Klärung der gemeinsamen Fragen trennten sich die Elternaktive wieder.
Müller musste nun herausfinden, wer im neuen Schuljahr von den Eltern im Aktiv mitarbeiten wollte. Auch das war schnell erledigt, da es wieder die bewährten Mitglieder vieler Schuljahre waren. Durch den Vater einer neuen Schülerin hatte er nun zwei Genosseneltern im Aktiv, was eine Forderung des Schuljahresarbeitsplanes erfüllte. Kein Elternaktiv an der Schule ohne Genossen, und wo ein Genosse war, war auch die Partei und manchmal auch etwas mehr. Aber das sollte Müller im Laufe des Schuljahres selbst erfahren. Zu diesem Zeitpunkt war er zunächst einmal froh, willige Eltern gefunden zu haben, die gemeinsam mit ihm die anstehenden Aufgaben und Probleme lösen wollten.
Der neu hinzugekommene Vater erkundigte sich, ob Regina Morose noch FDJ-Sekretär bliebe, da es ja wohl untragbar wäre, wenn die Tochter eines republikflüchtigen Arztes weiterhin diese Funktion ausübte. Müller entgegnete, Regina sei die gewählte Vertreterin der FDJ-Gruppe der Klasse, und nur sie könnte jemanden von einer Funktion abberufen. Außerdem sei ja am Ende des Monats FDJ-Leitungswahl, die über den neuen FDJ-Sekretär befinden wird. Einen Tag nach dieser Sitzung wurde der Schule vom amtierenden Schulrat mitgeteilt, dass der EOS-Antrag für Regina Morose gegenstandslos geworden sei.
„Wissen Sie, Herr Müller, ich nehme das ganz gelassen, da ich damit schon gerechnet habe“, reagierte Regina auf diese Information.
Dann rannte sie hinaus, und Müller hörte sie schluchzen.
„Ach, wenn ich dir nur helfen könnte, Mädchen“, dachte er sich. Ihm fiel der Begriff einer vergangenen Zeit ein: Sippenhaft! Auf keinen Fall durfte sie in der Klasse oder von Lehrern diskriminiert werden.
Genau eine Woche später war nach dem Unterricht die FDJ-Aktivtagung. Alle leitenden Funktionäre der Klassen 9 bis 10 sowie die Mitglieder der GOL (Grundorganisationsleitung der FDJ), die Klassenleiter und der Direktor nahmen obligatorisch an dieser Sitzung teil. Die Schüler der achten Klasse waren im September noch Pioniere und wurden erst im Laufe des Schuljahres gemeinsam Mitglieder der FDJ. Nur wenige entzogen sich diesem freiwilligen Zwang.
Der GOL-Sekretär, ein Schüler der 10. Parallelklasse, wiederholte die Worte der Direktorin auf dem Pädagogischen Rat:
Die politisch-ideologische Arbeit musste verstärkt werden. Deshalb sollten in den Gruppen stets politische Gespräche geführt werden, die sich mit den Grundlagen des Sozialismus beschäftigen. Um ein geschlossenes Auftreten der FDJ-Leitungen zu ermöglichen, war das Erarbeiten eines gemeinsamen Standpunktes erforderlich.
Gleichzeitig geziemte es der FDJ, in der Schule noch mehr präsent zu werden. Er schlug vor, dass in einem Wettbewerb das Tragen des FDJ-Hemdes während der Schüleraufsichten, bei Demonstrationen und Appellen bewertet wird.
Die FDJ sollte auch direkten Einfluss auf die Lernhaltung und die Meinung in der Klasse nehmen. Für viermal im Jahr wurde die Durchführung des FDJ-Studienjahres zu Fragen der marxistisch-leninistischen Philosophie oder wahlweise zur Biographie von Marx und Engels festgelegt, an dem alle FDJler teilzunehmen hatten. In den sonstigen Mitgliederversammlungen konnte unter anderem der 70. Jahrestag der Novemberrevolution und die Gründung der KPD gewürdigt werden. Politische Gespräche sollten immer mit schulischen Problemen gekoppelt werden. Dazu bot sich das im Mai stattfindende Pfingsttreffen der FDJ an. Dieses Ereignis erforderte, dass sich jede Klasse überlegt, wieviel Geld sie für das gute Gelingen des Treffens spenden könnte.
Plötzlich platzte Regina Morose, die noch amtierende FDJ-Sekretärin aus Müllers Klasse, in den Vortrag des GOL-Sekretärs hinein:
„Welchen Sinn hat denn dieses Treffen?
Warum sollen wir schon wieder spenden für eine Sache, wo Gelder sinnlos verschleudert werden, die anderswo dringender gebraucht werden?
Gibt es nicht genug Menschen auf der Welt, die unsere Hilfe benötigen? Wenn ich daran denke: Jeden ersten Mai diese Winkelemente, die nachher von den Leuten achtlos zertreten werden!
Ich sehe nicht ein, dass ich für so etwas auch noch Geld spendieren soll. Würdet ihr sagen: Das ist für Opfer von Katastrophen, O. K., aber für so einen Quatsch, nein!“
Die Direktorin, Genossin Sanam, schaute mit grimmigem Blick zu Müller hinüber. Der wollte aber nicht darauf öffentlich reagieren, weil er erstens seiner Schülerin zustimmte und zweitens als Gast nicht die Leitung dieser Tagung hatte. Sollten sich doch die Genossen und die gewählten Funktionäre damit auseinander setzen.
Die Argumente der Direktorin, die dann endlich in dem folgenden peinlichen Schweigen das Wort ergriff, wirkten phrasenhaft und wenig überzeugend:
Hier trifft sich in Berlin die Jugend des ganzen Landes. Gleichzeitig - das durfte nun auch wieder nicht fehlen - ist das Treffen ein Beitrag für den Frieden. Wieso, erklärte sie nicht.
Als nun auch noch andere FDJler in Reginas Kerbe schlugen, wurde das Thema kurzerhand mit der Bemerkung abgebrochen, es sollte in den FDJ-Gruppen weiter diskutiert und die Höhe der Spende festgelegt werden. Wir könnten uns schließlich nicht als einzige Schule von der Spendenaktion ausschließen. Weitere Ausführungen lenkten von diesen Widersprüchen ab.
Mit Hinweisen auf die jährlich sich wiederholende Messe der Meister von Morgen (MMM), auf der kreative Eigenleistungen und Erfindungen der Schülerinnen und Schüler präsentiert und bewertet wurden, den Pioniergeburtstag am 13. Dezember, den auch die FDJler mitgestalten sollten, den Geburtstag der FDJ am 13. März, das Solidaritätskonzert kurz vor Weihnachten und den Ablauf der bevorstehenden FDJ-Wahlversammlungen wurde die FDJ-Aktivtagung beendet.
Beim Verlassen des Sitzungsraumes zischte die Direktorin Herrn Müller zu:
„Konntest du deine Schülerin nicht in die Schranken weisen?“
„Wieso? Hatte ich denn die Leitung der Tagung?“
„Übrigens wünsche ich, dass du zur Elternaktivwahl alle Schüler deiner Klasse einlädst, damit gleich von Anfang an das Schuljahr gut anläuft. Ich selbst werde anwesend sein. Hast du schon ermittelt, welches Prädikat (das in einer Zensur ausgedrückte Gesamtprüfungsergebnis) jeder Schüler deiner Klasse erreichen will?“
„Ja, gleich am ersten Tag. Aber nur zwei Drittel haben schon diese konkrete Zielrichtung. Außerdem kontrolliere ich regelmäßig die Hausaufgabenhefte, ob alle Aufgaben eingetragen wurden.“
Das hatte ihm die Direktorin kurz vor dem Ende des letzten Schuljahres in einem Klassenleitergespräch angeordnet, da manche Hausaufgabenhefte unsauber geführt, bemalt und zerfleddert waren. Müller fand das zwar für eine zehnte Klasse etwas kindisch, stimmte aber, weil er an einer ordentlichen Lernarbeit seiner Anvertrauten interessiert war, mit der Forderung überein.
Diese Übereinstimmung gehörte zum Prinzip des „einheitlich handelnden Pädagogenkollektivs“. Müller hatte in seiner Praxis oft festgestellt, dass ein übereinstimmendes Vorgehen aller Lehrer sich positiv auf die Lernhaltung der Klasse auswirkte.
Während des Geschichtsunterrichts teilte er den Schülern seiner Klasse die Einladung zur Elternaktivwahl mit. Ihr Erscheinen sei Pflicht.
Es ginge schließlich um den erfolgreichen Abschluss der Prüfungen.
Frau Sanam selbst wolle den Eltern und Schülern einige wesentliche Dinge sagen.
Nach dem Unterricht wurde Müller ins Sekretariat neben dem Direktorenzimmer gerufen. Dort wartete eine junge Frau auf ihn, Studentin im 5. Studienjahr an der Humboldt-Universität. Sie sollte bei ihm ihr großes Schulpraktikum und Staatsexamen absolvieren.
Müller hatte Freude an der Mentorentätigkeit, weil es ihm Spaß machte zuzusehen, wie sich ein junger Mensch zu einem guten Lehrer entwickelte. Das Urteil über die bisherigen wenigen Unterrichtsstunden der jungen Frau Rahn an Praktikumsschulen der vorherigen Semester war nicht gerade günstig: Sie sei zu inkonsequent und schüchtern. Das Ergebnis ihrer Unterrichtstätigkeit