„Ich verspreche Ihnen“, sagte Müller bei der Beendigung des Elternbesuches, „von meiner Seite wird Ihre Tochter Kerstin keine Schwierigkeiten bekommen.“
Kerstin nahm sogar an vielen Exkursionen im Rahmen der Jugendweihe teil. Selbst der damaligen Direktorin fiel der Satz in der Zeugnisbeurteilung „Kerstin nahm an Veranstaltungen der Jugendweihe teil“ nicht auf und zeichnete das Zeugnis ab. Kein Betrieb wäre auf den Gedanken gekommen, dass sie die eigentliche Jugendweihe nicht empfangen hatte. Auf Grund dessen wurde sie bei einer Bewerbung auch nicht benachteiligt.
Ja, Müller hing an seinen Schülern, auch wenn er sich hin und wieder über sie ärgern musste. Aber das war normal.
Um 14.00 Uhr des nächsten Tages kamen Dirk Amigo, der Dicke, wie sie ihn nannten, Claudia Schöpke, Regina Morose, beides zuverlässige und fleißige Schülerinnen und Jens Mespil, der Pilot werden wollte.
„Wissen Sie, dass der Vater von Regina im Westen geblieben ist?“
„Nein, Dirk, Reginas Vater hat doch vor kurzem noch eine hohe staatliche Auszeichnung erhalten. Das verstehe ich nicht.“
„Ja, er sollte da wohl zu irgendeinem Kongress fahren und blieb gleich in der BRD (Bundesrepublik Deutschland). Als Regina aus Moskau kam, wartete sie vergeblich auf ihren Vater.“
Müller war erschüttert. Vor einem Jahr hatte sich der anerkannte Arzt von seiner seit Jahren nervenkranken Frau getrennt und die alleinige Erziehung seiner drei Kinder übernommen. Er kam auch oft zur Schule und arbeitete im Elternaktiv der Klasse seines älteren Sohnes mit. Die Kinder besaßen bei allen Lehrern einen guten Ruf und wurden auch von ihren Mitschülern geachtet. Regina war die FDJ-Sekretärin seiner Klasse und von der Schule mit einer Fahrt nach Moskau ausgezeichnet worden, die im Rahmen einer Schülerdelegation möglich war.
„Regina, was nun?“
„Meine große Schwester wird ihr Studium fortsetzen. Mein Bruder will unbedingt in den Westen, und ich weiß es noch nicht.“
„Wie können wir euch helfen?“
„Wir kommen schon zurecht. Opa hilft uns dabei.“
Müller verstand den Vater nicht. Wie konnte er nur seine Kinder und Patienten im Stich lassen?
„Du bleibst doch weiter unser FDJ-Sekretär?“
„Ich weiß nicht, in der Situation …„, zuckte sie mit den Schultern.
Müller wollte die Wunde nicht noch größer machen und rief:
„So, Leute, dann wollen wir uns einmal um die Bücher kümmern!“
Sie kamen beim Hinaufschleppen aus dem Keller in den 3. Stock ins Schwitzen. Dann sortierten sie die Lehrbücher nach der an die Tafel geschriebenen Reihenfolge.
Zum Dank durften sie sich die neuesten Exemplare heraussuchen und schon mit nach Hause nehmen.
Sie plauderten nach der Arbeit noch etwas über ihre Ferienerlebnisse. Dirk war in Berlin geblieben und hatte zwei Wochen in einem Betrieb Geld verdienen können. Er wollte für einen Computer sparen.
Claudia war Helferin in einem Betriebsferienlager an der Ostsee und hatte eine Kindergruppe betreut.
Jens war mit seinen Eltern in Bulgarien gewesen.
Als Müller von seinen Erlebnissen in Rumänien berichtete, bestätigte Jens Ähnliches. Sie waren mit dem Auto auf der Transitstrecke durch das Land gefahren.
Die Ferien gingen nun rapide dem Ende zu. Die Schule konnte beginnen.
Für Müller bedeutete dieses Schuljahr mit seiner Abschlussklasse viel Arbeit. Er dachte mit Bangen an das Verfassen und Schreiben der Beurteilungen, da sie über das Schicksal seiner Schüler entscheiden konnten.
Vor allem musste er darauf achten, von Anfang an einen Leistungsabfall in seiner Klasse zu verhindern. Er kannte seine schwachen Kandidaten. Es war nötig, ihnen immer wieder Mut zu machen und Auswege zu zeigen, wenn sie einmal versagten. Vielleicht ließen sich auch wieder, wie in den unteren Klassen, Lernpatenschaften der Schüler organisieren.
Ganz besonders musste er sich um Dörte Seefeld kümmern. Sie war oft so lustlos und reagierte aggressiv, wenn sie jemand ansprach. Ihre Mutter hätte sie doch nur einmal umarmen sollen! Dörte sehnte sich nach Geborgenheit und elterlicher Liebe. Die Mutter aber hasste ihre Tochter abgrundtief. Dörte lief von zu Hause fort und blieb Tage lang verschwunden. Sie war bei Bekannten untergetaucht, einer freundlichen Familie, die sie wie ihre eigene Tochter behandelte. Die Volkspolizei suchte das Mädchen. Die Schule wurde eingeschaltet.
Die Lehrer und Klassenkameraden wurden um Auskunft gebeten. Es war alles umsonst, bis sich die Familie meldete, bei der sie untergetaucht war. Zur Begründung ihres langen Schweigens gaben sie an, dass Dörte sich erst einmal beruhigen sollte, bis sie sich zu weiteren Schritten entschlossen.
Als die Mutter schwanger war, wollte sie das Kind unbedingt abtreiben. Dann trug sie es aber doch aus und lehnte es vom ersten Tage an ab. Es war ihren zahlreichen Männerbekanntschaften im Wege. Später steckte sie das Kind in ein Heim. Als Dörte in die 8. Klasse kam, besann sich die Mutter auf ihre Tochter und holte sie zu sich. Das ging aber nur ein Jahr lang gut. Wegen Kleinigkeiten kam es zu Auseinandersetzungen. Das hielt das Mädchen schließlich nicht mehr aus. Die nachfolgende Gerichtsverhandlung entzog der Mutter nun endgültig das Sorgerecht, und Dörte kam auf eigenen Wunsch wieder in ein Heim, da die Familie sie nicht auf Dauer aufnehmen konnte.
Ja, das waren Probleme, mit denen es Müller immer wieder zu tun hatte.
In seinem Fach fand er das neue Lehrstellenverzeichnis - gleich drei Exemplare. Am ersten Schultag wollte er sie nach einem Verteilerschlüssel an seine Schüler weitergeben.
Schon seit der 6. Klasse erfasste er die Berufswünsche der Kinder, holte hin und wieder durch die Eltern den Vertreter eines Berufszweiges in die Schule, der sein Fachgebiet vorstellte. So wussten seine Schüler, welche Berufszweige in Berlin gebraucht wurden. Am effektivsten war es jedoch immer, wenn ein Vertreter des Berufsberatungszentrums, das in jedem Stadtbezirk errichtet worden war, vor der Klasse sprach und kompetent die zahlreichen Fragen beantwortete.
Vor den Herbstferien erhielten dann alle Schüler der 10. Klasse am letzten Schultag ihre Berufsbewerbungskarten mit Ausnahme derjenigen, die eine Erweiterte Oberschule besuchen durften. Auch Behinderte konnten sich schon vorher bewerben. Wer nach den Herbstferien noch keine Lehrstelle hatte, fragte oft bei den Berufsberatungszentren nach, da diese stets den Rücklauf über noch freie Lehrstellen zentral erfassten.
Hatte ein Schüler seine sichere Lehrstelle, wurde die Bewerbungskarte vom Lehrbetrieb an die Schule zurückgeschickt. So wusste der Klassenleiter immer Bescheid, wem bei der Lehrstellensuche noch geholfen werden musste. Meistens wussten alle Schüler am Ende des Schuljahres, wo sie ihren Beruf erlernen konnten.
Nach der Lehrzeit war auch der Arbeitsplatz so gut wie sicher, und sie brauchten keine Sorge zu tragen, dass sie ihn jemals verlieren würden. So ging alles seinen sozialistischen Gang, und das Wort „Arbeitslosigkeit“ war für sie ein Begriff der absterbenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Offiziell gab es Arbeitslose nicht. Wer sprach schon von denen, die einen Antrag auf Ausbürgerung gestellt hatten und zum Klassenfeind in den Westen gehen wollten? Was nicht sein durfte, war eben nicht vorhanden.
Den unmittelbaren Kontakt zu der Arbeiterklasse erhielten die Kinder durch ihre Patenbrigade aus irgendeinem VEB und besonders von der 7. Klasse an durch den PA- und ESP-Unterricht*. Die Patenbrigade beteiligte sich an der Gestaltung von Pioniernachmittagen, spendierte Gelder für die Klassenfahrt oder half auch bei der Renovierung des Klassenraumes und schickte Betreuer bei Exkursionen an Wandertagen. Natürlich waren ihre Vertreter auch bei der Zeugnisausgabe zugegen und beschenkten die leistungsbesten Schüler. Im Betrieb war so eine Patenschaft für die Brigade ein Pluspunkt zur Erreichung des Zieles „Kollektiv der sozialistischen Arbeit“ zu werden.
In den Lehrwerkstätten des Patenbetriebes lernten die Schüler praktische