Das letzte Schuljahr. Wilfried Baumannn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Baumannn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847687450
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      ***

      Müller erinnerte sich an sein altes Trauma.

      Als die Front immer näher rückte, war Frau Müller mit ihren beiden Kindern Horst und Helga, durch den in Ostpreußen dienenden Vater gewarnt, der von der drohenden Niederlage überzeugt war und das bald einsetzende Chaos der allgemeinen Flucht befürchtete, aus den Gebieten östlich der Oder Anfang 1945 zu ihren Eltern nach Potsdam geflüchtet. Die Stadt schien vom Krieg vergessen worden zu sein.

      Die Warnung hätte den Vater bei den Nazis in große Schwierigkeiten bringen können, denn auf dem geäußerten Zweifel am Sieg stand wegen Wehrkraftzersetzung die Todesstrafe.

      Am 14. April 1945 lud das herrliche Frühlingswetter zum Spiel auf dem Hof ein. Horst, der damals erst fünf Jahre alt war, erinnerte sich deshalb noch so gut an das schöne Wetter, weil er an diesem Tage zwei Kinder kennen lernte, mit denen er sich auf Anhieb wunderbar verstand. Der Vater der beiden war gefallen, und auch er wusste seit der Flucht nichts vom Schicksal seines Vaters.

      Sie spielten zusammen Hopse. Dazu malten sie auf den Betonboden des Hofes mit Kreide aneinandergereihte Vierecke, in die sie nach bestimmten Spielregeln hinein hopsen mussten, zuerst mit zwei Beinen und dann mit einem, erst mit dem rechten und dann mit weiteren Variationen. Viel zu schnell wurden sie zum Abendessen gerufen. Aber auf jeden Fall wollten sie am nächsten Tag das Spiel fortsetzen.

      Nachts heulten die Sirenen. Es war kurz nach 22.30 Uhr.

      Horst und seine Mutter befanden noch im Korridor, als die ersten Bomben fielen. Das Licht erlosch. Glas zersplitterte. Irgendwelche Dreckpartikel fielen aus der Dunkelheit auf sie hinab. Glücklicherweise hielten die Türen dem Luftdruck stand.

      Horst hörte einen Bus mit quietschenden Bremsen, Hilferufe und kurz darauf ein markerschütterndes, grauenhaft kreischendes Schreien, das abrupt erstarb. Aber in die Seele des kleinen Jungen hatte es sich lebenslang gekrallt. Die erste Welle des Angriffs war überstanden. Die Mutter nahm ihren Sohn, um in den Luftschutzkeller zu gelangen. Aber die bisher gewohnte heile Welt der Erwachsenen hatte sich für den kleinen Horst grauenhaft verändert. Putz war von den Wänden gerissen.

      Auf den Treppenstufen lagen Glassplitter und Schutt. Dort, wo früher das große Fenster des Treppenhauses zu sehen war, gähnte jetzt ein riesiges Loch. An dieser Stelle fehlte auch das Geländer. Die Stufen schwebten über einen Abgrund. War überhaupt die Treppe noch begehbar?

      Wie sollten sie aus dem ersten Stock nach unten zum Keller kommen?

      Nur mit Mühe kamen beide auf den Hof, über den sie gehen mussten um in den Keller zu gelangen. Hinter den grauen Silhouetten der Häuser, die den Hof umgaben, flackerte der Schein von Bränden. Alle Fensterscheiben waren zersplittert. Aus einer Fensterhöhle hing noch an der Leitung die von der Decke abgerissene Lampe. Der Hof war voller Dreck, Glassplitter, Ziegel, Schutt und Federn, die aus einem weit aufgerissenen Daunenbett stammten, das an einem Eisenträger hing.

      Die eiserne Tür des Luftschutzkellers klemmte. Hörte niemand das verzweifelte Klopfen der beiden? Hoch oben brauste die zweite Bomberstaffel heran. Da wurde geöffnet. Die Mutter und Horst stolperten die Treppe hinunter. Horst erblickte im Hinuntergehen noch die bleichen Gestalten, die von dem kleinen flackernden Hindenburglicht beschienen wurden, das sie später Teelicht nannten. Im Hintergrund vernahm er, wie sich seine Schwester mit ihrem Keuchhusten plagte.

      Urplötzlich, als sie gerade auf den letzten Stufen waren, krachte es. Horst und seine Mutter wurden zu Boden geworfen. Jemand presste ihm einen nassen Lappen vor den Mund, damit der Luftdruck nicht seine Lungen zerriss.

      Die so Gestorbenen hatten oft eine rosa Gesichtsfarbe. Es war, als ob das verlorene Leben sich noch einmal in ihnen festkrallen wollte.

      Durch das Kellerfenster schoss eine Stichflamme. Der ganze Hof schien zu brennen. Glücklicherweise sahen sie das. Sie waren nicht verschüttet.

      Da hörten sie es. Die Leute aus dem Nachbarkeller schien es getroffen zu haben. Sie klopften verzweifelt.

      Horst sah, wie die Erwachsenen einen Durchbruch schufen. Bleich, Kalk überzogene Gestalten krochen heraus. Der Schrecken war in ihre Gesichter gezeichnet.

      „Hinten liegen noch welche. Wir haben alles versucht, aber die Decke ist eingestürzt. Es sind eine Frau und ihre zwei Kinder. Der Mann ist erst vor kurzem gefallen.“

      Erst jetzt wurde Horst bewusst, dass die Erwachsenen von seinen neuen Spielkameraden sprachen. Er heulte und konnte es einfach nicht fassen, dass sie nicht mehr am Leben waren. Großvater, der sich im Nachbarkeller noch einmal von dieser Tatsache überzeugen wollte, bestätigte es resigniert.

      Die Hitze der sie umgebenden Brände draußen wurde unerträglich. Etwa 700 Bomben hatten die Flugzeuge auf die Stadt abgeworfen.

      Die meisten fürchteten sich, den Keller zu verlassen.

      Am nahe liegenden Bahnhof war ein Munitionszug getroffen worden, dessen Ladung in die Luft ging. Entwarnt werden konnte auch nicht mehr, weil die Hauptpost ein Raub der Flammen geworden war.

      Sie wussten noch nicht, dass sie zu den Wenigen gehörten, die in diesem Bombenkessel noch am Leben waren.

      Endlich fasste Großvater Mut. Er öffnete die Tür und schaute hinaus. Auf dem Hof brannte es nur noch vereinzelt. Als sie hinausgingen, drohte der beißende Qualm sie fast zu ersticken, und die Augen tränten. Im ganzen Umkreis brannten die Häuser. Sie stolperten über Schutt, Putz, Steine und herab gestürzte Mauerreste hinaus auf die Straße.

      Diese existierte nur noch als Fragment. Rauchende und brennende Trümmer verdeckten in der einen Richtung Fahrdamm und Bürgersteige. Ihnen gegenüber stand vor der hohlen Fassade des einstöckigen Wohnhauses ein ausgebrannter Bus. Am verkohlten Lenkrad klebte eine schwarze Masse, die wie eine Puppe aussah und vor einer Stunde noch ein lebendiger Mensch gewesen war. Auf den vom Feuer versehrten Sitzen konnten die Überlebenden ähnliches erblicken.

      „Das waren die grässlichen Schreie zu Beginn des Angriffs“, stellte einer der Erwachsenen sachlich fest.

      Als sie durch die frei scheinende andere Richtung der Flammenhölle entkommen wollten, stürzte das erste Stockwerk des Eckhauses lichterloh brennend und krachend auf die Straße herunter und versperrte so den Fluchtweg. Die Funken und Flammen zischten beim Absturz nach allen Seiten.

      Nun versuchten sie, einen Ausweg über die brennenden Trümmer des Hinterhauses zu finden, da dort gleich der Stadtkanal war. Horst erinnerte sich noch an die Berge von Schutt, die verkrümmten, noch teilweise glühenden Eisenträger und brennenden Balken über die sie dem Inferno entrannen.

      Es glückte. Am Kanal, auf den Fluchtweg noch einmal zurückblickend, sahen die Entkommenen ganze Straßenzüge in Flammen stehen. Wie viele der dort in den Kellern Verschütteten und noch Lebenden werden wohl auf Rettung gehofft haben? Das, was von den Häusern übrig geblieben war, stand mit bizarr und grotesk zerrissenen, vom Brand geschwärzten Formen im tobenden Feuer. Erst Jahre später wurden bei Aufräumarbeiten viele persönliche Tragödien sichtbar.

      Müllers Großvater war Pastor. Mitglieder seiner Kirchengemeinde nahmen die Ausgebombten auf.

      Wenige Tage später wurde bei Potsdam von den sowjetischen Truppen der Ring um Berlin geschlossen und die Stadt unter Beschuss genommen.

      Horst sah die Toten auf den Straßen und Leute, die sie ausplünderten. Der widerlich süßliche Leichengeruch ging tagelang nicht aus der Nase heraus. Horst sah Dinge, die ein Kind nie hätte sehen dürfen. Die schrecklichen Eindrücke verfolgten ihn seitdem und viele, viele andere Menschen auch.

      Besonders erinnerte er sich immer wieder an den toten Soldaten vor der Kaserne, dessen Gesichtshälfte an die Wand geklatscht war. Seitdem wusste er, dass Gehirn gelblich weiß war.

      In seinen Träumen hörte er manchmal die Verzweiflungsschreie der Frau, die zu ihrem Notquartier kam. Sie hatte ihr Baby zu Hause gelassen, als der Fliegeralarm kam, weil es so schön schlief. Bisher waren die Bomberstaffeln gewöhnlich weitergeflogen und hatten die Stadt verschont. Sie ging mit ihren drei anderen Kindern in